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Gedanken zur Fastenzeit, die uns Menschen an die Vergänglichkeit unseres Daseins erinnert – und daran, dass der Tod die Voraussetzung für jedes neue Werden ist
Die Fastenzeit, die am vergangenen Aschermittwoch angebrochen ist, erinnerte früher die Christen an die Hinfälligkeit ihrer Natur und Körperlichkeit – und damit an den Tod. Während des Fastens sollten die Gläubigen lernen, sich vor dem Tod nicht zu ängstigen und das vergängliche Leben nicht zu überschätzen. Die Gegenwart des Todes ist aus dem Leben indessen weitgehend verdrängt worden. Auch die Kirchen, ganz der Aktualität verpflichtet, erinnern nur noch ungern ihre dem Leben zugewandten Gläubigen daran, über kurz oder lang zu unansehnlicher Asche zu werden. Sie basteln beflissen an einem Christentum ohne Tränen. Aber der Tod, früher zutraulich Freund Hein genannt, der endlich vom Leben mit seinen Lasten und Belästigungen befreit, stört weiterhin die Daseinsgefräßigkeit einer Erlebnisgesellschaft, die stets neuer Dinge begierig ist.
Konfrontation mit der Vergänglichkeit
Das Coronavirus und seine möglichen tödlichen Folgen verursachen derzeit allenthalben helle Aufregung. Die Pandemie konfrontiert die Lebenshungrigen mit der Vergänglichkeit und ihrem Ende; mit Lebensmächten, die ihnen unheimlich sind, weil sie ihnen das Leben nehmen und veranschaulichen, dass die Welt ein recht unsicherer Aufenthaltsort ist.
Während dieser Irritationen und ängstlichen Übertreibungen erlaubte in der vergangenen Woche das Bundesverfassungsgericht, denen zu helfen, die nicht mehr leben wollen und den Tod einem Leben vorziehen, das nicht mehr lebenswert ist. Das Gericht spricht vom Tode und der Bereitschaft zum Tode – und meint damit das Leben. Das Leben kann durch Krankheit und Versuche, es bis zum letzten Atemzug zu verlängern, so entwertet werden, dass Einzelne den Tod suchen, um einem Leben, das für sie – und auch für das Gericht – kein wertvolles Leben mehr ist, ein Ende zu setzen.
In beiden Fällen ist es ein gesundes, frohes und gesellschaftlich nützliches Leben, das im Mittelpunkt steht. Der aus der Öffentlichkeit verbannte Tod lässt sich freilich nicht entmächtigen und erinnert alle, die ihm aus dem Wege gehen, daran, der wahre Herr des Lebens zu sein, das endlich ist und deshalb gerade nicht über die Zeit zu triumphieren vermag. Der Tod ist der Herr der Geschichte und des Lebens. So veranschaulichten ihn die Bilder vom Totentanz. Alle sind sterblich, Kaiser, Päpste, Staaten und Verfassungen, Dichter und Philosophen, Sinnstifter jeder Richtung: Es ist der Tod, der neues Leben schafft. Insofern ist der Tod überhaupt die Voraussetzung des Lebens. Der spanische revolutionäre Ruf „Viva la muerte! – Es lebe der Tod!“ ist deshalb gerade nicht lebensfeindlich. Ein Appell „Viva la vida! – Es lebe das Leben!“ würde hingegen lebensfeindlich davon ablenken, dass alles Leben dem Tode verfallen ist.
Die Geschichte des Lebens und der Lebendigen entwickelt sich im dauernden Werden, das Gewordenes verwirft und im Wandel neue Formen schafft, neue Lebensformen mit ihren ideellen Rechtfertigungen. Eines der schönsten Bücher der europäischen Literatur – Ovids „Metamorphosen“ – behandelt die Verwandlungen und Umwandlungen, die der Tod bewirkt. Und in dessen Sinne konnte Goethe jedem raten: „Und so lang du das nicht hast, Dieses Stirb und Werde / Bist Du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.“ Denn der Lebende, der wirkliche Lebendige, häutet sich ununterbrochen, befindet sich immer im Übergang, bis seine Seele, sein wahres Ich, durch den Tod hinübergeht in das Reich der Sicherheit und Beständigkeit, wie es schon die alten Philosophen von Platon über Cicero bis zu Seneca und dem Kaiser Marc Aurel und dann später vor allem die ersten Christen lehrten.
Die frohe Botschaft
Es war eine frohe Botschaft, die sie verkündeten, nach allen Täuschungen und Irrungen endlich zur Freiheit zu finden und zur Wahrheit. Nur wer den Tod mit den Augen des hinfälligen Leibes und nicht der Seele betrachtet, wird ihn schrecklich finden. „Genug weiß, wer sich selbst weiß. Genug weiß, wer Gott weiß. Genug kann, wer sterben kann“, wie ein barocker deutscher Dichter eine Heiden wie Christen vertraute Lebensmaxime formelhaft resümierte. Das Leben vollendete sich für sie in einem gefassten und beherzten Tod.
Mit solcher tapferen Distanz zur Welt und zur Tyrannei der rasch wechselnden Launen und Illusionen der Herrscher räumten die aufgeklärten Humanisten seit dem 18. Jahrhundert auf. Der altväterlichen und etwas schwierigen, seit Jahrtausenden beachteten Kunst, selig zu sterben, stellten sie die bei Weitem plausiblere Kunst, glückselig zu leben, gegenüber. Seitdem erscheinen die mannigfachsten Trakte, die darüber unterrichten, wie jeder als Herr seiner selbst, seines Glückes Schmied werden könne; seines ganz privaten Glücks, sich wohl auf dieser Welt zu fühlen. Eine heitere Genussreligion ersetzte die griesgrämige Weltklugheit, nicht allzu viel vom Glück, von den Gaben der unzuverlässigen Fortuna zu erwarten, die betrügt und den Menschen zum Narren macht.
Genussreligion der Gegenwart
Diese Genussreligion gehört seither unmittelbar zur Demokratie. Für die Demokratie stirbt man nicht, sie ist eine Lebensgemeinschaft, sie wird erlebt und zum Erlebnis, zum glücklichen Erlebnis für denjenigen, der in der besten aller Welten weilt und im freiesten Staat lustwandelt, den es je gegeben hat und in dem die Geschichte an ihr wohltätiges Ende gelangt ist. Unter den alten Heiden und Christen erlagen nur unvernünftige Schwärmer der Versuchung, in einem besten Staat und seiner unübertrefflichen Verfassung ihr Heil zu suchen, das erlöst von allen Widrigkeiten des Daseins. Sie hielten jeden Staat und jede Gesellschaft für unvollkommen, weshalb sie unablässig darüber diskutierten, wie mit praktischer Staatsklugheit die stets gefährdete bürgerliche Ordnung vor dem Umsturz in Ungerechtigkeit und Unfreiheit bewahrt werden könne; Visionen von Zukunftsgestaltern erregten, wie die Geschichte bestätigte, ihren berechtigten Argwohn.
Doch bei aller demokratischen Freude an der Welt gibt es doch keine Romane, Theaterstücke oder Filme, die kunstvoll und alle Sinne anregend schildern, welch höchste Lust es gewährt, in einer demokratischen Wertegemeinschaft zu leben, die alle umkost und keinen vernachlässigt. Meist wird der biedere Bürger damit beschäftigt, warum „Menschen“ gerade in dieser durch und durch vermenschlichten Gesellschaft nicht zu innerer Zufriedenheit und zur Harmonie mit den anderen finden. Die heitere Genussreligion hat offensichtlich die Welt nicht wohnlicher gemacht. Sie ist das Narrenschiff geblieben, wie es früher weltkluge Schriftsteller veranschaulichten. Der Tod sollte demokratische Humanisten in ihrem gemeinschaftlichen Lebensgenuss nicht stören. Deshalb wurde er in Nischen und Ghettos abgeschoben, um von seiner Hässlichkeit nicht behelligt zu werden. Gleichwohl blieb der Tod allgegenwärtig.
Segnungen der modernen Warenwelt
Die Warenwelt, die uns beglückt, plant von vorneherein die Vergänglichkeit der Produkte ein. Sie müssen sterben, um neuen Gütern Platz zu machen. Sie erhält sich dadurch, dass sie sich selbst überholt zur allerneuesten Neuzeit. Die früheren Güter werden zum Müll. Das Alte wird als auslaufendes Modell beiseitegeschoben und aus dem Verkehr gezogen oder zerstört. Das gilt auch für öffentliche Gebäude, die einst als dauerhafte Symbole der Stabilität der flüchtigen Zeitlichkeit entrückt wurden. Die schöpferische Vernichtung der Gegenwart mit dem Versprechen, eine bessere Zukunft für den Verbraucher zu ermöglichen, macht jedes Gut zu einem sehr vergänglichen Wert, eben zu eitlem Tand. Der Tod, das berechnete Sterben, der eingeplante Verfall, triumphiert in Einkaufsparadiesen, dem Alltag entrückt als Ort der wahren Daseinsfreude. Daher rührt die Unrast bei der Jagd nach dem Glück: mitten im Leben vom Tode umfangen zu sein, der sich in betörendem Glanz versteckt.