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Jahrhundertelang prägten Europa und Nordamerika die Geschicke der Welt. Doch seit einiger Zeit mehren sich die Zeichen, dass diese Epoche zu Ende geht. Nicht zuletzt auch, weil parallel zum Niedergang die Tendenz zur Dekadenz zunimmt
Dekadenz gab es in der Geschichte zuhauf. Hunderte von Kulturen, Staaten und Dynastien vergingen – mal nach wenigen, mal nach Hunderten oder gar Tausenden von Jahren: das Römische Reich, das mehr als ein halbes Jahrtausend in Blüte stand, und das Ägypten der Pharaonenzeit nach fast vier Jahrtausenden. Dazwischen 500 Jahre Maya, 200 Jahre Azteken, 300 Jahre Inka, knapp 70 Jahre Sowjetunion.
Auch die Beschreibung von Untergängen begann schon sehr früh. Homer (ca. 8./7. Jahrhundert v. Chr.) vergleicht den Gang der Geschichte mit Blättern von Bäumen, die fallen, wenn die Zeit gekommen ist. Sallust (34 v. Chr.) geht als einer der Ersten den Ursachen des Verfalls nach: Im Luxus erlahme die Leistungsbereitschaft. Wenig anders Augustinus in „Civitas Dei“: Einfaches Leben sporne zu Anstrengung an, Siege brächten Macht, Macht bringe Reichtum, Reichtum bringe Luxus, und dieser untergrabe die Moral.
Zyklus von Aufstieg und Niedergang
Die Geschichte keines der verfallenen Reiche ist gleich. Der renommierte Historiker Alexander Demandt zählt allein für den Fall des Römischen Reiches zig Gründe auf. Rom wird denn auch gerne als Muster für Dekadenz gebraucht. Von Edward Gibbon („Verfall und Untergang des römischen Imperiums“, 1776–1781) und von nachfolgenden Dekadenzforschern werden als Ursachen für das Verschwinden Roms genannt: ein „imperial overstretch“, also eine Überdehnung des Reiches; ein Ersterben der republikanischen, der ökonomischen, schließlich der geistig-religiösen Freiheit sowie immer mehr Staatsfunktionäre. Maßgebliche Faktoren kamen von außen, vor allem die unkontrollierte Masseneinwanderung. Ein besonderes Problem war ab dem Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. die Armut an Kindern. Für Demandt am folgenschwersten war die Schwächung des militärischen Bereichs. Rom sei – wie Karthago – untergegangen, weil seine Bürger nicht mehr zur Selbstverteidigung bereit waren.
Am anschaulichsten wird es in der „Offenbarung“ des Johannes: „Da entstand ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde schwarz wie ein härenes Trauergewand, und der ganze Mond wurde wie Blut, und die Sterne des Himmelns fielen auf die Erde ...“ Das Christentum scheint verliebt in die Eschatologie, also in die Lehre von den letzten Dingen, fasziniert vom Verfall der „Hure Babylon“ sowie der Städte Sodom und Gomorrha, von Apokalypsen, von Gottes Gericht, von der Angst vor dem strafenden Gott, von den „dies irae“ (Tagen des Zorns). Der Theologieprofessor Klaus Berger (1940–2020) erklärt das wie eine gerissene Taktik: „Wer den Horror nicht darstellen kann, wird auch kaum Sehnsucht nach Seligkeit wecken können.“
Ein großer Diagnostiker der Dekadenz (er schreibt „décadence“) ist Friedrich Nietzsche. Er setzt Vitalismus gegen Dekadenz und gegen Hegels Idealismus, und er geht zugleich, wie bei Ebbe und Flut, von der ewigen Wiederkunft des Gleichen aus. Das heißt: Geschichte wiederholt sich ständig. Es gibt weder Fortschritt noch Rückschritt. Der Pfarrersohn hält dabei stets fest, dass das Christentum für Dekadenz verantwortlich sei: Geprägt vom Erbsündeproblem und einem ewig schlechten Gewissen sei das Christentum auch schuld am Untergang Roms gewesen.
Zentral in der Dekadenz-Debatte ist nach wie vor Oswald Spengler mit seinem Werk „Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“. Spenglers Grundannahme lautet: Die Weltgeschichte verläuft in einem Zyklus von Aufstieg und Niedergang. Dabei ist Spengler sehr beeinflusst von Goethes biologisch-morphologischer Metaphorik. Für beide gibt es in allem Leben Phasen der Jugend, der Reifung, des Alterns und des Absterbens.
Solche Zyklen nimmt Spengler auch für Kunst, Gesellschaft, Politik und Staat an. Die Dauer einer jeden Hochkultur umfasse in etwa ein Jahrtausend. Bezogen auf das „Abendland“ als eine von acht von ihm beschriebenen Hochkulturen setzt Spengler die Phasen wie folgt an: Frühling 500 bis 900 n. Chr.; Sommer und Hochblüte 900 bis Ende des 18. Jahrhunderts; Herbst und Verfall ab 1800; Winter und Sterben nach 2000.
Selbsthass des Abendlandes
Thomas Mann, der sich selbst als „Verfallspsychologen“ sieht und Nietzsche als „erfahrensten Psychologen der Dekadenz“ sein Vorbild nennt, beschreibt in „Buddenbrooks. Verfall einer Familie“ von 1901 den Verfall der Lübecker Kaufmannsfamilie. Jahrzehnte später kamen „moderne“ Apokalypsen hinzu. Die Angst vor Nanorobotern, Bioterrorismus, Cyberkriegen, Atomtod durch Kernkraftwerke oder Atombomben, kosmischen Katastrophen. Literatur und Hollywood ergötz(t)en sich darin. Urmutter moderner Apokalypsen ist die Schrift „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome von 1972. Es ging um zu Ende gehende Ressourcen, ums Waldsterben und damals schon ums Klima: Der Kölner Dom steht 1986 laut „Spiegel“-Titelbild wegen Schmelzung der Polkappen in der Nordsee.
Der US-Politikwissenschaftler Samuel Phillips Huntington rüttelte den Westen mit seinem 1993 erschienenen Aufsatz und seinem 1996 veröffentlichten Buch „Der Kampf der Kulturen“ auf. Die Anzeichen der „inneren Fäulnis“ des Westens sind für Huntington unübersehbar: Geburtenrückgang (der Demographieforscher Herwig Birg nennt es einen „Ethnosuizid“), Überalterung, Zunahme der Asozialität, Auflösung der Familienbande, Zunahme egomanischer Attitüden, Schwinden der Autorität von Institutionen, Hedonismus, Rückgang des Sozialkapitals, das heißt der Mitgliedschaft in Vereinen, Schwinden des zwischenmenschlichen Vertrauens, Nachlassen des Arbeitsethos, zunehmender Egoismus, abnehmendes Interesse an Bildung.
Papst Benedikt XVI. sagte 2000: „Europa scheint in der Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden ... Es gibt eine seltsame Unlust an der Zukunft ... Kinder, die Zukunft sind, werden als Bedrohung der Gegenwart gesehen.“
Noch deutlicher wurde er zur Eröffnung des Konklaves vom 18. April 2005, bei dem er dann zum Papst gewählt wurde. Er sprach von einer „Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt“. An anderer Stelle hatte Ratzinger geschrieben: „Hier gibt es einen nur als pathologisch zu bezeichnenden Selbsthass des Abendlandes, das sich zwar lobenswerterweise fremden Werten verstehend zu öffnen versucht, aber sich selbst nicht mehr mag ...“ Der Publizist Karl Heinz Bohrer wird 2007 noch deutlicher: Kollektive Selbsterniedrigung und ein „Mangel an Selbstachtung ist der Beginn dessen, was wir Dekadenz genannt haben“.
Läutet bereits das Sterbeglöckchen?
Es sind keine larmoyanten Defätisten, die sich Sorgen um den Westen machen. 1977 betrachtete der Franzose Raymond Aron als Ursache der Dekadenz einen um sich greifenden „Komfortismus“. Der Grieche Panajotis Kondylis lehnt sich 1991 an Nietzsche an: Die Verlagerung vom Apollinischen (Rationalen) zum Dionysischen (Rauschhaften) ist für ihn ein Zeichen von Dekadenz. Für Kondylis ist vor allem das „juste-milieu“ voller Heuchelei, Mittelmäßigkeit und Opportunismus.
Für Alexander Demandt ist westliche „Dekadenz die Verbindung verfeinerten Lebensstils mit sinkender Lebenskraft, eines Zuviel an Subtilität mit einem Zuwenig an Vitalität“. In seinem Buch „Endzeit?“ hatte er 1993 geschrieben: „Das Schöne wurde verdrängt einerseits durch das Gefällige, andererseits durch das Abartige, Hässliche, Bizarre ... Ein Papierkorb in einem Raum der Documenta IX wurde durch eine Katalognummer zum Kunstwerk ... Es gibt kein Geräusch, das dem Auditorium der Philharmonie nicht als ‚Musik' gilt, sofern es im Programm als solche angekündigt ist.“ Mit anderen Worten: Es greift eine „Ästhetisierung“ des Seichten und Vulgären um sich.
Der britisch-amerikanische Historiker
Niall Ferguson schreibt 2012: „Der Westen stagniert.“ Ferguson sieht den Niedergang im Verfall der vier Säulen, die den Westen trugen: der repräsentativen Demokratie, der freien Marktwirtschaft, des Rechtsstaates und der Zivilgesellschaft. Der französische Philosoph Michael Onfray, bekennender Atheist, sieht 2017 als Grund für den Niedergang die „ermattete“ jüdisch-christliche Kultur sowie den Verlust des Respekts für das menschliche Individuum, dessen Achtung die große Leistung der jüdisch-christlichen Kultur ist. Im Zuge dieser Missachtung des menschlichen Individuums, so Onfray, kann sich der Islam in Europa ausbreiten, weil die „leere“ westliche Welt ihm mit ihrer Metaphysik des Konsumismus wenig entgegenzusetzen hat. Ursächlich ist für Onfray auch „die Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung“.
Der Brite Douglas Murray seziert die moderne Unterwürfigkeit, die dem Westen ein Schuldbewusstsein aufzwinge. Wörtlich: „Wir sind die einzige Kultur auf der Erde, die so offen für Selbstkritik und für das Zugeben unserer Ungerechtigkeiten ist, dass wir imstande sind, unsere größten Gegner reich zu machen.“ Die Ethnologin Susanne Schröter belegt 2022, wie sich der Westen selbst abschafft: ungesteuerte Zuwanderung, Parallelgesellschaften inklusive Scharia-Paralleljustiz, Duldung weitreichender Islamisierung, Cancel Culture, Selbsthass kombiniert mit Hypermoral, naives Appeasement, geschichtsklitternder „postkolonialer“ Exorzismus, Rassismus gegen das Weißsein, die Ideologie der Intersektionalität sowie „Gender“.
Auch Deutschland im freien Fall
Bedarf es nach solchen Diagnosen noch deren Anwendung auf die Gegenwart Deutschlands? Eigentlich nicht. Viele der genannten Diagnosen beschreiben die Lage nach dem „Fort“-Gang der im Dezember 2021 als „Fortschrittskoalition“ gestarteten „Ampel“.
Mit ihrem Selbstbestimmungsgesetz, zum Beispiel, hat sie sich der Gender-Ideologie verschrieben. Nun kann man die eigene Sexualität vor dem Standesamt im jährlichen Wechsel neu definieren. Die in der Genesis und in der Biologie vorgegebene Zweigeschlechtlichkeit wird über Bord geworfen. Der Mensch darf sich stets neu erschaffen. Mit der Freigabe von Cannabis verspricht die „Ampel“ mehr Freiheit. Mit ihrer Wirtschaftspolitik setzt sie den 1944 gottlob von US-Präsident Roosevelt verworfenen „Morgenthau“-Plan einer De-Industrialisierung unseres Landes in Szene. Mit dem Verfall der Bundeswehr (schon ab der Merkel-Ära) ist Deutschland nur noch bedingt abwehrbereit. Mit der Atomisierung der Familien und der extrem geringen Kinderzahl bricht der Unterbau von Gesellschaft und Staat weg.
Die vormalige Bildungsnation Deutschland befindet sich im freien Fall; Zertifikate werden wie hohle Discountware vergeben, ohne dass sie Ausweis von Bildung wären. Der Staat ist nicht mehr dazu da, die Bürger vor dem Staat zu schützen, sondern den Staat vor den Bürgern zu schützen. Freiheiten werden eingeschränkt, der Meinungskorridor wieder enger. Die Gewaltenteilung steht nur auf dem Papier, weil Legislative, Exekutive, Judikative, die Presse als „vierte“ Gewalt und Nicht-Regierungs-Organisationen als „fünfte“ Gewalt mehr und mehr eins werden. Die Kirchen verabschieden sich von ihrem spirituellen Auftrag und mutieren zu politisierenden NGOs. Der Staat wird zur Gouvernante, die Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft mit Bürgergeld und Co. erschlägt. Nationale Souveränität wird an die EU und an die UNO abgetreten. Die offenen Grenzen schaffen ein anderes Volk, ohne dass das vorhandene jemals dazu gefragt worden wäre. Das Eigene wird ewig schuldbewusst über Bord geworfen, für das Andere werden „Kultursensibilität“ und Hypertoleranz eingefordert.
All das ist Destruktion, auch wenn es im Orwellschen Stil „Transformation“ genannt wird. Masochistisch wird schließlich der Hass auf das Tradierte gepflegt, ohne zu merken: Wer sich selbst nicht mag, den mögen auch die Nachbarn nicht. Und: Masochisten locken Sadisten an.