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Konrad Löw und Felix Dirsch lassen bislang unbeachtete Opfer der Judenverfolgung zu Wort kommen
Audiatur et altera pars“ heißt der lateinische Grundsatz des römischen Rechts, das heißt, dass in Streitfragen auch „der andere Teil gehört werden soll“. In modernen Rechtsordnungen gilt diese Verfahrensweise als zentral. Und wie sieht es bei unterschiedlichen und streitbaren Betrachtungen zur Zeitgeschichte aus, beispielsweise bei Fragen zur verbrecherischen NS-Judenverfolgung? Dominiert hier etwa die Sichtweise des deutschen Historikers Leopold von Ranke, dass die Aufgabe der Geschichtsforschung darin bestehe herauszufinden, „wie es eigentlich gewesen ist“? Nicht ganz, wie in der nachfolgenden Rezension eines interessanten Buchs belegt werden kann.
Es existieren erhebliche Leerstellen, derer sich die beiden Professoren Konrad Löw und Felix Dirsch mit ihrem Werk „Die Stimmen der Opfer. Zitatelexikon der deutschsprachigen jüdischen Zeitzeugen zum Thema: Die Deutschen und Hitlers Judenpolitik“ angenommen haben.
Was bislang kaum berücksichtigt wurde, beschreibt Löw in der Einleitung: „In diesen aufwendigen Dokumentationen fehlen ausgerechnet einige der aussagefähigsten Zeitzeugnisse von verfolgten Juden und anderen besonders glaubwürdigen Zeugen.“ Eigentlich verwunderlich, aber dann doch wieder nicht, denn: Das Autorenpaar stieß auf Hunderte von quellenmäßig klar belegbaren Aussagen, die die Rolle der deutschen Bevölkerung im NS-Staat in einem bisher kaum bekannten Licht erscheinen lassen und der Legende einer geschlossenen Front des Antisemitismus „von unten“ widersprechen.
Derartige Relativierungen waren aber – und sind – in der offiziösen deutschen Geschichtspolitik nicht nur nicht vorgesehen, sondern sie wurden mit schwergewichtigen Totschlag-Einwänden konsequent bekämpft. Motto: Hier bestehe die Gefahr, dass die singuläre Schuld der Deutschen am Holocaust relativiert werde, und das dürfe wegen der unbestreitbaren Schwere des „Zivilisationsbruchs“ nicht sein.
Doch wie kam Löw überhaupt auf das unerwünschte Feld historisch „unkorrekter Feldforschung“, auf das sich Zeitgeist-Historiker so gut wie nie begeben? Es waren die von ihm erst spät entdeckten Aufzeichnungen von Victor Klemperer, der während der NS-Zeit als Jude in Dresden lebte und akribisch Tagebuch führte. Das Schlüssel-Zitat seiner Eintragungen vom Oktober 1941 lautet: „Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde!“ Das war für Löw gleichsam der Startschuss zur umfangreichen historischen Quellen-Recherche nach ähnlichen Aussagen, und er wurde fündig.
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: „Die jüdischen Opfer und ihre Bekundungen“ und „Weitere Quellen“. Ein Personen-, Orts- und Schlagwortregister erleichtert die gezielte Suche und ein Literaturverzeichnis rundet das fast 400-seitige Werk in gelungener Weise ab.
Kurt Jakob Ball-Kaduri über Reaktionen nach der NS-Machtübernahme 1933: „Viele anständige deutsche Männer und Frauen beschließen, nun erst recht ihren jüdischen Anwalt oder Arzt aufzusuchen ...“
Albert Herzfeld über seine Eindrücke in der Düsseldorfer Bevölkerung: „Das große Publikum ist durchaus nicht antisemitisch, denn keiner meiner arischen Freunde hat sich von mir zurückgezogen und, ganz im Gegenteil, alle, auch absolut Fernerstehende bekunden mir ihre Sympathie und verabscheuen den Antisemitismus ...“
Inge Hoberg über Hilfen nach der Flucht aus der Kölner Wohnung 1944/45 aufs Land durch parteitreue Dorfangehörige der NSDAP: „Wieder einmal wurde uns von anständigen Menschen bewiesen, dass die Zugehörigkeit zu Hitlers Partei nicht unbedingt eine niedere Gesinnungsart voraussetzt. So manch einer hatte sich in gutem Glauben und Begeisterung dem Teufel verschrieben. Später ließ purer Pragmatismus die Menschen vieles nach außen hin bejahen, das sie im Innersten längst ablehnten.“
Werner Cahmann über löcherige Isolierungspolitik gegen Juden in München: „In Anbetracht der rigorosen Isolierungspolitik ist es erstaunlich, dass einfache Menschen es trotzdem möglich machten, Juden eine hilfreiche Hand zu bieten. So konnte meine jüngere Schwester noch 1937 ihre Ausbildung im Keramikfach im Betrieb A. & E. Königsbauer beginnen und bis nach der Kristallnacht fortsetzen, obwohl ein SA-Mann und ein SS-Mann im Betrieb arbeiteten.“
Joseph Levy über die Einstellung der christlichen Bevölkerung: „Es darf nicht vergessen werden, dass das Verhalten eines großen, vielleicht des größten Teils der christlichen Bevölkerung der jüdischen gegenüber im Ganzen freundlich, oft gütig und mitfühlend war. Nicht selten wurden Äußerungen der entschiedenen Missbilligung, ja starker Ablehnung der behördlichen und parteilichen Maßnahmen uns und unseren Freunden gegenüber laut ... Lieferanten und Lebensmittel kamen heimlich ...“
Eli Munk, bis 1936 Oberrabbiner im fränkischen Ansbach, über jüdische Berührungspunkte zur Ideologie des Nationalsozialismus: „Es muss gerechterweise anerkannt werden, dass die Aufrichtung des nationalen Sozialismus in ideeller Hinsicht gerade die gefährlichsten Giftzähne des Marxismus ausgerissen und dasjenige behalten hat, was von uns als vom Standpunkt des Judentums annehmbar bezeichnet wurde. Hierbei muss vorausgeschickt werden, dass der Rassenantisemitismus eine Nebenerscheinung ist, die mit dem Wesen des Nationalsozialismus an sich nicht das Geringste zu tun hat ... Ohne den Antisemitismus würde jedoch der Nationalsozialismus in den überlieferungstreuen Juden seine treuesten Anhänger finden.“
Auch namhafte, nichtjüdische NS-Gegner kommen im Buch zu Wort, darunter Konrad Adenauer, Max Brauer, Klaus von Dohnanyi, Joachim Fest, Karl Jaspers oder Erich Kästner sowie Stellungnahmen der Exil-SPD, nicht zuletzt auch von Kurt Schumacher oder Franz-Josef Strauß. Sogar führende Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels und Heinrich Himmler, letztere mit ihren Klagen über den zu geringen Antisemitismus der Deutschen.