12.12.2024

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„Deutschland braucht eine Strategie“

Über wesentliche Voraussetzungen unseres Wohlstands und unserer Sicherheit, die Naivität der politischen Führung der Bundesrepublik sowie Ansätze für eine „politisch-intellektuelle Aufrüstung“ unseres Landes

Im Gespräch mit mit Markus C. Kerber
30.11.2023

Innen- wie außenpolitisch ist Deutschland mit zahlreichen Krisen konfrontiert. Umso mehr fällt auf, dass der politischen Führung eine grundlegende Vorstellung davon fehlt, wie sie den Bürgern auch künftig Wohlstand, Sicherheit und Freiheit garantieren will. Anlass für ein Gespräch mit einem Staatsrechtler und Finanzwissenschaftler, der soeben einige Gedanken zum Fehlen einer deutschen Strategie formuliert hat.

Herr Kerber, in Ihrer jüngsten Schrift widmen Sie sich unter der Überschrift „Führung und Verantwortung“ dem „Strategie-Defizit Deutschlands und seiner Überwindung“. Was hat Sie dazu bewogen?
Bewogen haben mich sowohl Beobachtungen aus den letzten Jahren als auch in der Gegenwart. Ich war fast zwanzig Jahre Reservist in der Bundeswehr, vorwiegend in der Marine und im militärischen Nachrichtenwesen. Dabei stellten sich mir Fragen wie die: Wozu gibt es unsere Streitkräfte eigentlich und wem dienen sie? Taktisch ist das natürlich klar, aber strategisch bleibt die Frage nicht beantwortet.

Warum, zum Beispiel, lässt sich Deutschland von Frankreich nach Mali beordern? Und warum bleiben wir dort, obwohl die Franzosen längst abgezogen sind? Was hatten wir in anderen Einsatzgebieten wie Afghanistan zu suchen, obwohl dort keine Landes- oder Bündnisverteidigung zu leisten ist? Weshalb, um das aktuell bedeutendste Beispiel zu nehmen, stellen wir uns fast reflexartig im Ukrainekrieg an die Seite der Ukraine? Welche Interessen verfolgen wir damit? Das sind angesichts der enormen finanziellen Mittel und zum Teil auch menschlichen Opfer, die diese Konflikte erfordern, gravierende Fragen, die nicht von Herrn Borrel, dem Hohen Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, oder dem ukrainischen Botschafter anstelle Deutschlands beantwortet werden dürfen.

Henry Kissinger sagte einmal, Deutschland sei ein Bruttosozialprodukt auf der Suche nach einer politischen raison d'être. Das bringt es auf den Punkt. Das Nachkriegsmodell der Bundesrepublik, das unserem Land einen historischen Wohlstand bescherte, ist ausgereizt. Die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt wird nicht die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt bleiben, ohne die grundlegenden politischen und ökonomischen Flanken zu sichern.

Woran machen Sie das von Ihnen attestierte Strategiedefizit fest?
Die deutsche Außenpolitik glaubte zu lange, dass wirtschaftliche Interessen moderne Staaten vor imperialistischen Rückfällen bewahren würden. Der Ukrainekrieg zeigt jedoch, dass ein Land wie Russland durchaus zu einem Krieg bereit ist, obwohl dieser der eigenen Volkswirtschaft massiv schadet. Und im Verhältnis zu China, aber auch zu den USA, sehen wir, dass befruchtende Wirtschaftsbeziehungen andere Länder keineswegs davon abhalten, eigene ökonomische Interessen zu verfolgen.

Was Deutschland braucht, um auch künftig eine Volkswirtschaft von Weltrang zu sein, ist eine politische Strategie. Deutsche Politiker glauben gern, dass wenn wir die Welt um uns herum liebhaben, die Welt um uns herum auch uns liebhat. Doch dem ist nicht so.

Die von der Bundesregierung im Juni vorgestellte „Nationale Sicherheitsstrategie“ reicht Ihnen nicht?
Mitnichten. Dieses Papier ist eine bunte Broschüre mit netten Bildern und ein paar schönen Schlagwörtern. Doch alles von dem, was eine Strategie ausmacht, ist in diesem Nicht-Konzept ausgelassen worden.

Was bedeutet es, zum Beispiel, wenn chinesische Staatsunternehmen in die Lieferketten des deutschen Automobilbaus eindringen? Wie stehen wir zu Lieferungen von Hightech-Waffen in Länder mit einer fragwürdigen Regierung? Wie muss eine deutsch-französische Zusammenarbeit in der Rüstungswirtschaft aussehen, bei der wir nicht nur ein paar nachgeordnete Zulieferbetriebe abbekommen? Auch fehlt es an den Instrumentarien, um die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik wieder auf ein Niveau zu heben, das sie etwa in der Ära Willy Brandts hatte. Wir brauchen also einen nationalen Sicherheitsberater im Bundeskanzleramt.

Das Wort Interessen, das Sie eben erwähnt haben, erfährt in Ihrer Schrift eine besondere Bedeutung. Doch wie lässt sich das definieren? Schließlich dürfte jeder etwas anderes darunter verstehen.
Eben! Deshalb brauchen wir auch die Diskussion darüber. Im Koalitionsvertrag der Ampel steht, dass Deutschland ein „dienendes Mitglied“ der Europäischen Union sein und den europäischen Einigungsprozess voranbringen soll. Doch was heißt das? Ist die EU-Erweiterung ein Wert an sich – oder sollten wir nicht hinterfragen, was unser Land davon hat, wenn ein hoch problematisches Land wie die Ukraine und die Länder des Westbalkans der EU beitreten sollen?

Zu den Interessen eines Staates gehört auf jeden Fall, dass er stets souverän bleibt und das letzte Wort über seine Politik in der eigenen Hauptstadt gesprochen wird – und nicht etwa in Brüssel. In Bezug auf die EU bedeutet das, dass Deutschland ein Vetorecht bei allen Entscheidungen hat, also nicht überstimmt werden kann. Insofern darf auf keinen Fall das Einstimmigkeitsprinzip in der EU fallen. Das wäre das Ende unserer Souveränität.

In diesen Zusammenhang gehört auch die „EU-Außenpolitik“. Die EU ist ein Verbund souveräner Nationalstaaten. Deshalb ist es ein Unding, von einer eigenständigen EU-Außenpolitik zu sprechen, die es schon deshalb gar nicht geben kann, weil die Mitgliedsländer jeweils höchst verschiedene Interessen haben.

Ein zentrales Interessengebiet ist auch die Wirtschaftspolitik. Ich bin keine Krämerseele, und es kann sicherlich nicht jeder Euro deutscher Steuergelder, die in den gemeinsamen Markt fließen, wieder zurückkommen. Aber wir sollten schon darauf achten, dass bei bi- oder multilateralen Projekten wie der Raumfahrt die Arbeitsplätze nicht so ungleich zulasten Deutschlands verteilt sind wie derzeit.

Sie kritisieren nicht nur den Glauben, dass Deutschland nur noch von Freunden umgeben sei, sondern erinnern in diesem Zusammenhang auch an das Freund-Feind-Denken Carl Schmitts. Warum?
Ich will auf keinen Fall zu dem irrationalen Freund-Feind-Denken aus unseligen Zeiten zurückkehren, sondern eher im Sinne des genialen und zugleich berüchtigten Carl Schmitt daran erinnern, dass Staaten ohne die Unterscheidung von Freund und Feind unpolitisch werden. Die Überzeugung, dass wir nur noch von Freunden umgeben wären, hat zu intellektueller Bequemlichkeit geführt und zu dem Glauben, dass Wohlstand und Sicherheit ganz von allein kommen. Doch dem ist nicht so. Ganz im Gegenteil unterliegen sie klaren Voraussetzungen wie einer wettbewerbsfähigen Volkswirtschaft sowie einer funktionierenden Polizei und Armee – und nicht zuletzt auch einer starken Rüstungsindustrie.

In Bezug auf die Rüstung beklagen Sie, dass die deutsche Politik eher eine Nichtpolitik ist. Während in Frankreich der Staat in grundlegenden Fragen stets involviert sei, herrsche in Deutschland ein naiver Glaube an Europa vor.
So ist es. Die Auffassung, dass sich die Politik nicht in die Wirtschaft einmischen dürfe, funktioniert nur so lange, wie auch andere Staaten sich daran halten. Doch das ist bei der Rüstungsindustrie nicht der Fall. Ein geradezu skandalöses Beispiel ist Krauss-Maffei Wegmann, wo die deutsche Politik zusah, wie ein Schwergewicht unserer Volkswirtschaft und Sicherheitsarchitektur nahezu unter französische Kontrolle geriet. Die damalige Verteidigungsministerin von der Leyen hätte das verhindern können, zog es jedoch vor, sich in Frankreich lieb Kind zu machen. Mit ihrer späteren Wahl zur Präsidentin der EU-Kommission hat sich das für sie auch ausgezahlt. Bei Airbus ist es ähnlich. Der Flugzeugbauer ist schon lange kein deutsch-französisches Gemeinschaftsunternehmen mehr, sondern ein französisches Unternehmen mit einigen deutschen Standorten, denen das Wasser mehr und mehr abgegraben wird.

Wie kann man den deutschen Mangel an strategischem Denkvermögen beseitigen?
Wir brauchen ein Gremium, das originär dafür zuständig ist, eine Strategie zu entwickeln, und das sowohl die intellektuellen Fähigkeiten als auch die institutionelle Unabhängigkeit dazu besitzt. Wir benötigen also einen Nationalen Sicherheitsrat, der wie einst Henry Kissinger als Sicherheitsberater des US-Präsidenten unabhängig von den Parteien seine Analysen formulieren und Forderungen aufstellen kann. Angesiedelt sein sollte dieses Gremium beim Bundeskanzler, um einerseits die Bedeutung herauszustellen und es andererseits auch vom Zugriff der Parteien und des Auswärtigen Amtes fernzuhalten.

Sie erwähnen in Ihrer Denkschrift auch den bereits bestehenden Bundessicherheitsrat. Was unterscheidet diesen von dem von Ihnen geforderten Nationalen Sicherheitsrat?
Der Bundessicherheitsrat ist ein Untergremium der Bundesregierung. Er setzt sich aus Kanzler, Außenminister, Wirtschaftsminister, Entwicklungshilfeminister zusammen und entscheidet zu einzelnen Sachfragen wie der, ob Herr Erdoğan den Eurofighter kaufen darf. Grundlegende Strategien werden dort jedoch nicht ausgearbeitet. Der Nationale Sicherheitsrat wäre hingegen ein gesamtstaatliches Gremium aus Fachkräften, die eine belegbare Erfahrung mit sicherheitspolitischen Konzepten haben und dem Bundeskanzler strategische Vorschläge unterbreiten.

In Ihrer Schrift wird allerdings deutlich, dass Sie sich gerade vom aktuellen Kanzler mehr Führung wünschen. Ist Herr Scholz seinen Aufgaben gewachsen?
Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass Herr Scholz überhaupt den Willen hat, sich strategischen Fragen zu widmen. Dass er eine Frau Lambrecht zur Verteidigungsministerin berief, zeigt, dass Scholz innerparteiliche Proporzfragen wichtiger sind als fachliche Kompetenz. Das ändert jedoch nichts daran, dass die entscheidenden Fäden beim Kanzler als Inhaber der Richtlinienkompetenz zusammenlaufen müssen.

Als Antwort auf die strategischen Defizite Deutschlands fordern Sie eine „politisch-intellektuelle Aufrüstung“. Doch woher sollen die Ressourcen dafür kommen?
Ressourcen kommen oft aus disruptiven Prozessen. 1939 forderte der damalige Oberst Charles de Gaulle zur Abwehr der deutschen Bedrohung die Aufrüstung der französischen Armee mit Panzern. Die Antwort aus Paris lautete, Frankreich habe doch die Maginot-Linie. Die Folgen sind bekannt. Mit der kurz darauf folgenden Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht verschwanden jene, die de Gaulle einen Korb gegeben hatten – während sein eigener Stern schon bald aufging.

Im Deutschland von heute führte das anfängliche Versagen des Kanzlers bei der Besetzung des Verteidigungsministeriums dazu, dass mit Boris Pistorius ein Nachfolger berufen wurde, den bis dahin bundesweit kaum jemand kannte, der sich jedoch inzwischen als ziemlich tüchtig erwiesen hat.
Insofern wohnt jeder Krise immer auch die Chance für einen Neuanfang inne.

Das Gespräch führte René Nehring

Prof. Dr. Markus C. Kerber ist Professor i.R. für Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik an der TU Berlin. 1998 gründete er den interdisziplinären Thinktank „Europolis“, um an der Neuausrichtung der europäischen Ordnungspolitik mitzuwirken. www.europolis-online.org


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