05.10.2024

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Vertreibung der Deutschen

Die Anwendung des Begriffs Völkermord

Manfred Kittel hat mit „Die zwei Gesichter der Zerstörung“ ein außergewöhnliches Buch vorgelegt

Konrad Badenheuer
05.10.2024

Ende August 1941 nannte Winston Churchill die Massenerschießungen von Juden in der UdSSR durch deutsche Einsatzkommandos ein „Verbrechen ohne Namen“. Im damaligen Völkerrecht gab es noch nicht den klar definierten Tatbestand des Völkermordes. Solche Taten nannten deutschsprachige Juristen meistens „Barbarei“. Allerdings arbeitete schon seit den 1920er Jahren der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin daran, diese Lücke zu schließen. Damit wurde er zum Vater der sogenannten Völkermordkonvention der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 1948 und über eben diese Konvention, ihre Entstehung und die Frage ihrer Anwendbarkeit auch auf Vertreibungen und Kolonialverbrechen hat der Zeithistoriker Manfred Kittel ein eindrucksvolles Buch vorgelegt: „Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen“.

Die Konvention von 1948 war im verabschiedeten Wortlaut das Ergebnis eines diplomatischen Kompromisses, dessen Entstehung Kittel genau nachzeichnet. Lemkin hatte eine weitergehende Abgrenzung des Begriffes befürwortet, war mit dem Kompromiss aber zufrieden. Völlig unzufrieden war er dagegen mit der Argumentation des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals. Der dort überwiegend verwendete Begriff „Ausrottung“ statt „Genozid“ blieb für Lemkin „eine ad-hoc-Schöpfung für ein militärisches Strafgericht einem besiegten Volke gegenüber“. Diese Argumentation ist überraschend für einen Menschen, der viele Angehörige im Holocaust verloren hatte – aber in der Logik des Denkens von Lemkin ist sie völlig stimmig.

Bei genauer Lektüre hat die Konvention seit jeher auch Vertreibungen als Genozide qualifiziert – vorausgesetzt, dass die Täter in der Absicht gehandelt haben, dass die vertriebene Gruppe damit als solche zerstört wird.

Unzufrieden mit Kriegsverbrechertribunal
Diese Absicht kann belegt und erschlossen werden, und dennoch hat es bis in die 1990er Jahre gedauert, bis internationale und deutsche Gerichte so geurteilt haben; Anlass dafür waren vor allem die Vertreibungen im ehemaligen Jugoslawien. Kittel belegt eindrucksvoll, dass dieser mehr als 40-jährige Umweg an sich hätte vermieden werden können, indem man sich die Aufzeichnungen der UN über die Beratungen im Vorfeld der Entschließung angeschaut hätte – Vertreibungen waren, das zeigen diese Dokumente, mitgemeint. Dass der Wortlaut der Konvention das am Ende nicht mehr explizit ausbuchstabiert hat, ist dem energischen Drängen mehrerer Länder, darunter auch der USA, geschuldet. Damit wurde die Tür geöffnet für einen jahrzehntelangen Auslegungsstreit der Juristen und Historiker über diese Frage, der bis heute nicht ganz abgeschlossen ist.

Nach dem 1948 verabschiedeten Text ist für die Einstufung eines Verbrechens als Völkermord nicht entscheidend, dass eine sehr große Zahl an Menschen getötet wird. Entscheidend ist vielmehr der belegbare oder erkennbare Wille der Täter, eine „nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Dabei bleibt ein reiner Massenmord wie der Holocaust immer etwas anderes, noch viel Schrecklicheres als eine Vertreibung. Das war schon immer klar, hat aber in Deutschland trotz des eindeutigen Wortlautes der Konvention vielfach zu dem irrigen Schluss geführt, nur Massenmorde könnten den Tatbestand des Genozids erfüllen. Kittel belegt diesen Irrtum mit frappierenden Zitaten deutscher Zeithistoriker. Die Zielrichtung gegen die Vertriebenen ist dabei oft unübersehbar. Um solche Unklarheiten und bewussten Irreführungen in Zukunft auszuschließen, plädiert Kittel dafür, künftig zwischen „Zerstörungsgenoziden“ und „Ausrottungsgenoziden“ zu unterscheiden.

Einsatz für korrekte Übersetzung
Glanzlicht des Buches ist, was Kittel über die Beratungen des Deutschen Bundestags 1953/54 zutage gefördert hat, als es um die Übernahme der Völkermordkonvention durch die Bundesrepublik Deutschland ging. Merkwürdigerweise haben die damit befassten Juristen und Abgeordneten dabei das englische Wort „destruction“ zunächst ungenau mit „Vernichtung“ (englisch annihilation) statt exakt mit „Zerstörung“ übersetzt. Diese Ungenauigkeit hätte beinahe dazu geführt, dass die Konvention ausgerechnet im deutschen Recht nicht mehr auf die Vertreibung der Deutschen hätte angewendet werden können.

Es war kein anderer als Lemkin persönlich, der mit zwei Memoranden an den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages und Briefen an Bundestagsabgeordnete energisch dafür eintrat, die Konvention exakt ins Deutsche zu übersetzen, und zwar ausdrücklich „zur Unterstützung wesentlicher Anliegen der Bundesrepublik Deutschland (Austreibung aus dem Osten, Zwangsarbeitslager, etc.)“. Lemkin erinnerte daran, dass die Wortwahl „Ausrottung“ bzw. „Vernichtung“ statt „Zerstörung“ vor 1948 die der Sowjetunion gewesen war und es paradox wäre, dieser Position nun „auf dem Weg der Einführung ins Deutsche Strafgesetzbuch doch noch Anerkennung und Erfolg zuteilwerden“ zu lassen. Seine Intervention hatte Erfolg und der Text der Konvention ging nahezu wörtlich in den neuen § 220a des deutschen Strafgesetzbuches ein. Linus Kather, der damalige Präsident des „Zentralverbandes der Vertriebenen Deutschen“ (ZvD), dankte Lemkin im Juni 1954 in einem empathischen Brief: Die „Verwässerung des Begriffes ‚Völkermord' verhütet“ zu haben, sei eine „historische Tat [...], die Ihnen die deutschen Heimatvertriebenen nicht vergessen werden “.

Leider blieb dieses Versprechen unerfüllt. Als es ab 1965 darum ging, politische Bestrebungen zur Anerkennung der durch die Vertreibung geschaffenen Fakten abzuwehren, ließen die deutschen Vertriebenen das scharfe juristische Schwert, das ihnen ausgerechnet ein jüdischer Überlebender des Holocaust in die Hand gedrückt hatte, ungenutzt. Wer die Debatten um die Ostdenkschrift der EKD von 1965 und die Ostverträge liest, der findet kaum Bezüge auf die Völkermordkonvention. Was öffentliche Ehrungen angeht, so blieb es bei der untersten Stufe des Bundesverdienstkreuzes, die Lemkin im April 1955 erhielt. Er verstarb 1959 verarmt in New York.

Kittels Buch enthält weitere, überaus bemerkenswerte Inhalte zur Anwendung der Völkermordkonvention durch den Deutschen Bundestag in den letzten Jahren etwa auf die Vertreibung der Armenier (1915) und auf die Verbrechen an den Herero und Nama (1904). Alles ist exakt belegt und klar geschrieben. Man wünscht diesem Buch eine größtmögliche Verbreitung unter Außenpolitikern, Zeitgeschichtlern, Juristen, Medienleuten und in der breiten Öffentlichkeit generell.

Manfred Kittel: „Die zwei Gesichter der Zerstörung – Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen“, Huncker & Dumblot Verlag, Berlin 2023, broschiert, 181 Seiten, 19,91 Euro


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