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Unser Kontinent ist übersäht von Spuren, die Staaten hinterlassen haben, welche schon lange vergangen sind. Ihre Schatten machen uns klar, dass selbst das scheinbar Unverrückbare nicht sicher ist
Staaten und Reiche kommen und gehen – das gilt auch für Europa. So liegen der Zerfall der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei sowie der Untergang der DDR noch gar nicht lange zurück. Manche Menschen glauben, solche Ereignisse seien eher selten und vorrangig dem Ende des Kalten Krieges geschuldet. Tatsächlich jedoch stellte die europäische Geschichte seit dem Ende des Imperium Romanum eine einzige Abfolge des Werdens und Verschwindens von politischen Gebilden dar, wobei die meisten davon in Vergessenheit gerieten.
Das trifft etwa auf das Tolosanische Reich zu, das 418 gegründet wurde und dessen Hauptstadt das heutige Toulouse war. Hier herrschten die germanischen Westgoten. Sie machten aus ihrem Besitztum binnen kurzer Zeit den mächtigsten aller Staaten im nachrömischen Westeuropa. Dann erlitt dessen Oberhaupt Alarich II. im Spätsommer 507 in der Schlacht von Vouillé eine vernichtende Niederlage gegen die Franken unter Chlodwig I., woraufhin das Tolosanische Reich sehr schnell kollabierte. Heute gibt es kaum noch Zeugnisse von dessen 89-jähriger Existenz – abgesehen von einigen Münzen, Schmuckstücken und Ortsnamen mit typischen Endungen sowie dem 1988 ausgegrabenen Rest des tolosanischen Königspalastes unter dem Hôpital Larrey in Toulouse.
Burgund hielt besonders lange
Nur wenige Relikte blieben gleichermaßen von dem Königreich Strathclyde, einem zählebigen Überbleibsel des archaischen Britannien auf nunmehr schottischem Gebiet. Der Ursprung von Strathclyde liegt im Dunkel des frühen 5. Jahrhunderts und ist mit den Legenden um den mythischen Zauberer Merlin beziehungsweise den sagenhaften König Artus verknüpft. Später füllte das Reich das politische Vakuum in der permanent instabilen Zone zwischen Schottland und England, woraus seine ungewöhnlich lange Existenz resultierte.
Die eindrucksvollste Hinterlassenschaft von Strathclyde ist eine Burg auf dem markanten Basaltfelsen Dumbarton Rock am Ufer des River Clyde. Darin residierten Ceretic Guletic und dessen Nachfolger, bis ihr Besitz im 12. Jahrhundert in das Eigentum der Könige von Schottland überging.
Außerdem war da noch Burgund, das die Leute heutzutage meist mit dem Burgunderwein in Verbindung bringen, während Historiker gerne darüber streiten, ob es fünf, sechs, sieben oder gar zehn burgundische Reiche gegeben habe. Auf jeden Fall währte die Geschichte von Burgund vom Jahr 411, als der germanische Stammesführer Gundahar das kurzlebige Regnum Burgundionum begründete, bis 1477, als das Herzogtum Burgund unter der Übermacht seiner Feinde zusammenbrach und zum französischen Kronland mutierte. Neben dem Wein erinnern derzeit vor allem noch die mittelalterlichen Gemäuer in Dijon und dessen Umgebung an das mehr als tausendjährige Burgund.
Ein weiteres in Vergessenheit geratenes, aber ebenfalls länger als tausend Jahre bestehendes Reich mit einem Zentrum auf europäischem Boden war Byzanz. Die griechische Stadtgründung Byzantion wurde 330 n. Chr. nach dem römischen Kaiser Konstantin benannt, der Konstantinopel zur Hauptstadt des östlichen Teiles des Imperium Romanum machte. Aus dem Letzteren ging das Byzantinische Reich hervor, welches bis 1453 existierte. Dann fiel Konstantinopel in die Hände der Osmanen.
Byzanz kontrollierte zeitweise Süditalien, den Balkan, weite Gebiete rund um das Schwarze Meer, Anatolien, die Ägäis, Zypern, Ägypten sowie die Levante, verging schließlich aber unter dem Ansturm des Islam und aufgrund etlicher innerer Gebrechen. Viele der prächtigen Kirchenbauten aus byzantinischer Zeit existieren noch heute, allerdings wurden in der Türkei etliche davon – so wie zuletzt die Hagia Sophia in Istanbul – in Moscheen verwandelt.
Ruthenien lebte nur für Stunden
Sehr viel weniger bekannt als das Byzantinische Reich ist das Königreich Etrurien in der Toskana, das 1801 im Nachgang des Zweiten Koalitionskrieges zwischen dem revolutionären Frankreich und einer Allianz um Russland, Österreich und Großbritannien entstand. Seine Errichtung resultierte aus dem Bestreben Napoleons, Vasallenstaaten in Italien zu schaffen, und war das früheste monarchistische Experiment des nunmehrigen Ersten Konsuls der Französischen Republik. Als König von Etrurien fungierte der junge Ludwig Ferdinand Philipp von Parma, welcher aber schon im Jahre 1803 starb, wonach das Regno di Etruria zunächst an seine Witwe ging und hernach im Mai 1808 dem französischen Kaiserreich einverleibt wurde. Aktuell erinnert praktisch nichts mehr an diese nur wenige Jahre währende Episode der europäischen Geschichte und schwere nationale Demütigung Italiens.
Die kürzeste Existenz aller Reiche und Staaten auf europäischem Boden war freilich der Republik Ruthenien in der Karpatenukraine beschieden. Ruthenien gehörte lange Zeit zu Österreich-Ungarn und fiel 1920 durch das Friedensdiktat von Trianon an die 1918 gegründete Tschechoslowakische Republik.
Das stieß auf den Widerstand der ruthenischen Nationalisten, die nach Selbstständigkeit strebten. Daher nutzten sie den Einmarsch der Wehrmacht in die „Rest-Tschechei“ am 15. März 1939 sowie die daraufhin erfolgte Abspaltung der Slowakei, um eine eigenständige Republik auszurufen. Allerdings rückten noch am Nachmittag desselben Tages ungarische Truppenverbände in Ruthenien ein, woraufhin das Gebiet bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges von Budapest kontrolliert wurde. 1945 erklärte Stalin die Karpatenukraine zu einem Teil der Ukrainischen Sowjetrepublik, weswegen Ruthenien nun zur Ukraine gehört, die keinerlei Interesse daran hat, ein Wiederaufleben des ruthenischen Separatismus oder eine Erinnerung an die Staatsgründung von 1939 zuzulassen.
Manche Staaten und Reiche verschwanden also erst nach langem Siechtum, während andere so blitzartig vergingen, wie sie entstanden waren. Daran zeigt sich die Unwägbarkeit historischer Entwicklungen, welche eine Mahnung an die Adresse der heute Lebenden und Regierenden darstellt: Uneingeschränkt sicher ist in Europa am Ende gar nichts – weder auf lange noch auf kurze Sicht.
Annegret Kümpel am 07.07.24, 21:14 Uhr
Danke sehr verehrter lieber Herr Kaufmann, daß Sie ein wenig Licht in diese dunkle Vergangenheit gebracht haben.
Nach dem Ende des römischen Reichs bis zur Renaissance gibt es eine riesige Lücke und ich frage immer wieder, wie eine römische Hochkultur mit Fußbodenheizung und Spülklosets untergehen konnte.
Was ist da in den tausend Jahren geschehen?
Sie haben ein kleines Fenster aufgemacht.