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Der Brexit zwingt die Europäer, sich zu vergewissern, wer sie sind. Eine wichtige Frage dabei ist, ob sie künftig wieder ein eigenständiger Raum sein wollen – oder sich lieber weiterhin als Teil des „Westens“ verstehen mögen
Das Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union bestätigt eine nahezu sprichwörtlich gewordene Warnung, die einst Carl Schmitt immer wieder aufgriff: „ England is of Europe, but not in Europe“. Mit dem Vereinigten Königreich wurde ein wichtiges Mitglied der Union der Vorschriften des Brüsseler Bürokratismus, der allzu leicht und zu oft in Bevormundung ausartet, letztlich überdrüssig. Die Briten ziehen bewusst ihre Selbstständigkeit vor, durchaus in Übereinstimmung mit dem gut europäischen Prinzip der Subsidiarität, das den einzelnen Staaten in einer großen Gemeinschaft alles dies überlassen will, was diese selbst besser regeln können als die zentralen Behörden. Doch diese haben sich mittlerweile vorgenommen, eine umfassende Gleichheit der Lebensverhältnisse in der EU zu erreichen.
Eine solche Absicht widerstrebt vielen europäischen Staaten, vor allem Italien, wo Rechtsphilosophen, Historiker und Politiker daran arbeiten, dem jeweiligen „Sovranismo“, der Selbstständigkeit und Eigenwilligkeit der Mitglieder, einen angemessenen Spielraum zu gewähren. Ein solches Vorhaben entspricht den Erwartungen vieler Europäer, die nicht – wie die Briten – die Union verlassen wollen, wie nervös gewordene Ideologen fürchten, sondern vielmehr eine andere Union wünschen, die nicht die historisch hergebrachte Vielfalt erstickt, die Europa immer auszeichnete.
Der Verlust der alten Welt
Europa ist nicht nur eine geographische Gegebenheit als Vorgebirge Asiens, es war einmal eine Idee und eine von dieser Idee ermöglichte Wirklichkeit. Im „Großen Krieg“ zwischen 1914 und 1918 und erst recht danach waren alle einst verbindlichen Vorstellungen über europäische Gemeinsamkeiten fragwürdig geworden. Dieser Krieg wurde von allen Seiten als erbitterter Kulturkampf geführt. Die jeweiligen Sinnstifter des Krieges unterstellten jeweils den anderen, die europäische Kultur und mit ihr die europäische Idee schlechthin, die Idee der Freiheit, verraten zu haben. Europa als vertrauter geistiger und historisch-politischer Raum zerbrach in viele Fragmente. Es war zu einem gänzlich ungesicherten Begriff geworden. Hugo von Hofmannsthal konnte daher 1921 erschüttert fragen, „ob Europa, das Wort als geistiger Begriff genommen, zu existieren aufgehört habe?“
Zusammen mit anderen „alten Europäern“ – mit Benedetto Croce, Paul Valéry oder José Ortega y Gasset – betrachtete Hofmannsthal die Wiederherstellung der alten Kulturgemeinschaft als Voraussetzung für ein geistig-politisches Überleben Europas. Das nannte er eine „schöpferische Restauration“ früherer Selbstgewissheit. Diese hat trotz unterschiedlicher, umstrittener Versuche nie stattgefunden. Ja, die zeitgenössischen Protagonisten europäischer Einheit sind nahezu überrascht, wenn sie hören, dass eine Idee von Europa wiedergewonnen werden müsse. Sie sind davon überzeugt, dass Europa sich überhaupt erst nach 1945 zu versichern vermochte. Doch sofern man Europa nicht auf den Euro reduziert, lohnt es, wieder so europäisch zu werden, wie es unsere Vorfahren bis 1914 waren. Sie waren so selbstverständlich europäisch, wie der Baum grün ist.
Die Europäische Union hingegen ist ein Wirtschaftsraum ohne jeden geistig-kulturellen Inhalt. Zuweilen werden gemeinsame „europäische Lebensformen“ beschworen, die sich darin erschöpfen, dass wir alle mehr oder weniger das Gleiche konsumieren und wünschen sollen. Darauf beruht ein gemeinsamer Markt, der ja nur bei möglichst gleichgestimmten Erwartungen funktioniert. Der Markt „harmonisiert“ die Bedürfnisse und deren Befriedigung, er egalisiert und homogenisiert und bewirkt eine Gleichheit der Lebensverhältnisse und des Denkens, die nie das Ziel der alten Europäer war. Im Lissaboner Vertrag von 2004 wird mit mancherlei verfassungslyrischen Verspieltheiten die Gewissheit beschworen, dass „in Vielfalt geeint“ die jeweiligen Europäer „stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte“ sind.
Sobald die europäischen Bürger allerdings bekunden, auf manche ihrer historisch bedingten Sonderformen nicht verzichten und ihre Souveränität und Identität nicht für festtägliche Redensarten halten zu wollen, machen sie sich verdächtig, nationalistische, populistische, gar identitäre Irrwege einzuschlagen, die mit der Einheit Europas nicht zu vereinbaren seien. Einheit und Vereinheitlichung ist das Ziel. Im alten Europa galt hingegen Einigkeit als sittliche Ordnungsmacht, gerade weil sie mannigfachste Verschiedenheiten anerkannte, ja begrüßte. Noch vor vierzig Jahren freuten sich die Reisenden, auch Deutsche unter ihnen, in Rom, Madrid, Zürich oder Paris überraschende Eigenwilligkeiten anderer Lebensarten kennenzulernen, die den Reichtum und den Reiz Europas ausmachten. Sie konnten damals sogar noch besondere Geschenke von ihren Reisen mitbringen, weil noch nicht überall die gleichen Handelsketten für den gleichen Geschmack sorgten. Damals war Europa ein spannender Kontinent.
Die Folgen der „Harmonisierung“
Heute ist es fast überall in Europa irgendwie immer wie daheim; Paris ist nur noch ein vergrößertes Mannheim, noch nicht einmal mit exklusiven Sonderangeboten überlegen. Es gibt keine Exklusivität mehr. Diese schafft Unterschiede, die in einem nach „Harmonisierung der Lebensverhältnisse“ strebenden Europa nicht mehr gewünscht sind.
Noch etwas stimmt am heute gängigen Europa-Verständnis im Vergleich zu früher nicht: Allzu oft wird die EU in Brüssel, aber auch in Berlin, mit Europa gleichgesetzt. Dabei ist die EU noch immer weit davon entfernt, den ganzen Kontinent zu repräsentieren, weil eine klassische europäische Großmacht, nämlich Russland, aus der europäischen Gemeinschaft ausgeschlossen bleibt. Auffällig ist, dass die EU sich im Umgang mit Russland nicht als „Europa“ betrachtet, sondern als Repräsentant des Westens. Dabei war mit dem Zusammenbruch des Ostblocks eigentlich auch „der Westen“ als ideologische Gemeinschaft überflüssig geworden. Doch „der Westen“ und mit ihm die Westeuropäer verstanden sich als Sieger des Kalten Krieges.
„Westen“ als Ideologie
Das verhindert bis heute ein einiges Europa, eine Wiedervereinigung von Gibraltar bis zum Ural, wie es sich de Gaulle einst erhoffte, um Europas atlantisch-westliche Bindungen zu lockern und die Selbstständigkeit gegenüber den USA zu fördern. Für den Franzosen gehörte Europa immer zur Alten Welt, einem kontinentalen Großraum mit einer gemeinsamen Geschichte von fünftausend Jahren. Es waren die Westdeutschen, die immer die Westbindung, die atlantische Wertegemeinschaft, einem einigen Europa vorzogen. In der eigenwilligen Präambel des Bundestages zum deutsch-französischen Vertrag von 1963 wurde ausdrücklich festgehalten, dass die deutsch-französische Freundschaft nicht die atlantischen Beziehungen schwächen dürfe und Großbritannien unbedingt in die damalige EWG aufgenommen werden müsse. De Gaulle begriff sofort, dass mit Westdeutschland keine europäische Politik zu machen sei. Er begann seine Ostpolitik, um Russland und der Sowjetunion allmählich wieder zu einem angemessenen Platz im gemeinsamen europäischen Haus zu verhelfen.
Die Westdeutschen jedoch konnten sich – in Übereinstimmung mit den USA – Europa nur als erweitertes Westeuropa vorstellen, sie hielten energisch an der Ideologie der Verwestlichung fest. Dabei wurde diese Ideologie im Ersten Weltkrieg von den Westmächten gegen Deutschland entwickelt, das – angeblich mit der Freiheit gänzlich unvertraut – umerzogen, verwestlicht und zivilisiert werden müsse. Die Westdeutschen haben 1990 in diesem Sinne die Wiedervereinigung nicht als deutsche, gar als nationale Aufgabe aufgefasst, sondern als Verpflichtung, die deutsche Verwestlichung in „Ostdeutschland“ zu vollenden. Sie konnten und wollten sich nicht von dem moralisch hoch aufgerüsteten Begriff des Westens lösen, auch gegenüber Russland. Damit verfestigten sie einen Zwiespalt in der EU, die gar nicht weiß, ob sie nun vorzugsweise zum Westen gehören soll – oder ein Europa als Gemeinschaft souveräner Staaten ein eigener politischer Raum im Zusammenhang mit dem euroasiatischen Großraum sein will. Der Begriff „Westen“ verdrängte unter deutschem Einfluss die Idee eines selbstbewussten Europas.
Einheit in Vielfalt
Längst hält es die EU als Mitglied der NATO für ihre besondere Verpflichtung, zusammen mit der „Weltordnungsmacht“ USA für die Verwestlichung der gesamten Welt zu kämpfen und ihre „westlichen Werte“ als universale durchzusetzen. Ein totales Westeuropa droht, im Westen als ideologischer Gemeinschaft aufzugehen und der Welt als eigenmächtige Erscheinung abhanden zu kommen. Somit braucht Europa eine „Europäisierung“ seiner eigenwilligen Völker, damit endlich wieder ein substantieller Begriff von Europa gewonnen werden kann – und der Aufbau eines in Vielfalt geeinten Europas keine Illusion bleibt.
Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehört u.a. „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (Klett-Cotta 2014).