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Rund 350 Millionen sind dazu aufgerufen, ein Gremium zu wählen, dem wesentliche Elemente eines Parlaments fehlen. Was allerdings nicht falsch ist
Steht die Europäische Union vor einem „Rechtsruck“? Zumindest sagen Meinungsumfragen seit Wochen für die am kommenden Sonntag anstehende Wahl zum Europäischen Parlament (EP) einen Stimmenzuwachs für die konservativen bis rechtspopulistischen Parteien verschiedener Schattierungen voraus, weshalb denn auch gerade deutsche Medien wie das ZDF davor warnen, dass „Europas Rechte die EU verändern wollen“. Besonders gefährlich ist in den Augen des ZDF, dass für die rechten Parteien „zuerst die Nation und ihre Bürger, dann vielleicht Europa“ käme.
Das zweite große Thema der Wahl ist, wer künftig als Präsident der Europäischen Kommission an der Spitze des wichtigsten Organs der EU stehen wird. Dabei ist keineswegs gewiss, ob die bisherige Amtsinhaberin Ursula v. der Leyen eine weitere Amtszeit bekommt. Als Alternativen zur deutschen Christdemokratin werden längst hochkarätige Namen wie der ehemalige EZB-Präsident und italienische Ministerpräsident Mario Draghi, die aus Malta stammende bisherige EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, die derzeitige EZB-Präsidentin Christine Lagarde oder auch der rumänische Präsident Klaus Johannis genannt.
Was wiederum verdeutlicht, dass der von den Bürgern der EU gewählten Versammlung noch immer wesentliche Befugnisse eines echten Parlaments fehlen. Zwar heißt es in Artikel 17 (7) des EU-Vertrags, dass das Europäische Parlament den Kommissionspräsidenten „mit der Mehrheit seiner Mitglieder“ wählt, doch liegt das Vorschlagsrecht – und damit die eigentliche Auswahl – beim Europäischen Rat, also dem Gremium der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten. Dass diese sich ihre Macht keineswegs aus den Händen nehmen lassen, zeigten sie vor fünf Jahren, als sie den Spitzenkandidaten der stärksten Fraktion, den deutschen Christsozialen Manfred Weber, nach der Wahl einfach zur Seite schoben.
Auch sonst fehlen dem Hohen Haus wesentliche Befugnisse eines echten Parlaments. So wird die Besetzung des zweiten wichtigen EU-Postens, des Hohen Vertreters der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, von den Staats- und Regierungschefs in deren Hinterzimmerrunden ausgehandelt. Selbst auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union hat das EP kaum Einfluss. Über die Gesetze der EU darf das Parlament zwar abstimmen, allerdings hat es kein eigenes Initiativrecht. Es kann also selbst keine Gesetze, Richtlinien oder Verordnungen auf den Weg bringen, sondern allenfalls über die Beschlüsse der Kommission und der nationalen Regierungen mitentscheiden. Selbst beim Haushalt, der Kernkompetenz klassischer Parlamente, kann das EP nur darüber abstimmen, was andernorts beschlossen wurde.
Die Macht liegt woanders
Wie gering der Einfluss des Hohen Hauses ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass es noch nicht einmal seinen eigenen Sitz bestimmen kann. Dieser ist seit den ersten Tagen der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Vorgängerin des EP, offiziell im elsässischen Straßburg. Doch obwohl die Hauptarbeit des Hauses längst an seinem nominellen Zweitstandort Brüssel geleistet wird und sich in Umfragen weit über 90 Prozent der Abgeordneten für die belgische Hauptstadt als alleinigen Sitz aussprechen, bleibt es bei dem kostspieligen Doppelstandort, weil die französische Regierung sich querstellt.
Obwohl all jene, die eine stärkere Kompetenz- und Machtverlagerung weg von den nationalen Regierungen hin zur EU befürworten, die eingeschränkten Gestaltungsmöglichkeiten des Hohen Hauses beklagen, so entspricht die derzeitige Kompetenzlage schlicht und ergreifend dem staatsrechtlichen und realpolitischen Charakter der Europäischen Union. Entgegen allen Inszenierungen der EU-Kommission ist diese noch immer kein souveräner Bundesstaat, sondern ein Bund souveräner Mitgliedstaaten. Und insofern wäre die vom ZDF und anderen Medien im Falle eines rechten Wahlsiegs an die Wand projizierte Horrorvision einer „Renationalisierung“ der EU nichts weiter als eine Bestätigung des simplen Faktums, dass die europäischen Nationen noch immer souverän sind.
Wer sich die Arbeit der Brüsseler und Straßburger Instanzen in den letzten Jahren ansieht, kann daran schwerlich etwas Schlimmes finden. Denn unabhängig davon, ob die einzelnen Betrachter sich „mehr Europa“ wünschen oder die Macht lieber in den Händen der Mitgliedstaaten sehen, kann niemand bestreiten, dass die EU den Beweis dafür, dass ihre „Vertiefung“ zu einem „höheren Gewicht Europas in der Welt“ führen werde (so die oft zu hörenden Floskeln), nicht erbracht hat. Ganz im Gegenteil sind die europäischen Staaten gerade nur passive Zuschauer, während Russland und China einerseits sowie die USA andererseits auf dem Boden der Ukraine einen geopolitischen Machtkampf austragen.
Auch bei anderen Großkrisen der letzten Jahre wie der Corona-Pandemie oder der unkontrollierten Massenzuwanderung war die EU nicht in der Lage, ihre Nützlichkeit unter Beweis zu stellen. Zwar haben die Brüsseler Institutionen auf diesen Gebieten wenig Entscheidungskompetenz, doch hätte niemand der EU-Kommissionspräsidentin verwehren können, in diesen Krisen die Mitglieder zusammenzutrommeln und mit ihnen gemeinsam vorteilhafte Regelungen für alle Beteiligten zu finden.
Funktionieren tut die EU heute noch immer dort am besten, wo sie vor über siebzig Jahren mit der Gründung der Montanunion angefangen hat: bei der Angleichung von wirtschaftlichen Standards, die mit der Schaffung des EU-Binnenmarktes 1993 zu den „Vier Grundfreiheiten“ – Dienstleistungsverkehrsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit, Personenverkehrsfreiheit und Warenverkehrsfreiheit – ihren Abschluss fand. Hätte man es dabei belassen, wäre der Union und ihren Bürgern viel Ärger erspart geblieben.