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Biographie

Die Frau, die aus der Kälte kam

Klaus-Rüdiger Mai porträtiert die Sphinx der deutschen Politik: Ist Sahra Wagenknecht auch heute noch eine Kommunistin?

Holger Fuß
04.05.2024

Zwei Jahre nachdem in Berlin 1989 die Mauer fiel und die DDR vor der Geschichte kapitulierte, schrieb der „FAZ“-Herausgeber Joachim Fest ein schmales Büchlein über das Ende des utopischen Zeitalters. Darin stellt er fest: „Mit dem Sozialismus ist, nach dem Nationalsozialismus, der andere machtvolle Utopieversuch des Jahrhunderts gescheitert.“ Und: „Was damit endet, ist der mehr als zweihundert Jahre alte Glaube, dass sich die Welt nach einem ausgedachten Bilde von Grund auf ändern lasse.“ Weitere drei Jahre später interviewte der „Spiegel“ die damals 26-jährige Frontfrau der Kommunistischen Plattform in der PDS, Sahra Wagenknecht. Sie gab zu Protokoll: „Im Vergleich zur BRD war die DDR, was immer man im Einzelnen an ihr aussetzen mag, in jeder Phase ihrer Entwicklung das friedlichere, sozialere, menschlichere Deutschland.“

Heute würde ob solcher politischer Polaritäten von einer Spaltung der Gesellschaft gefaselt, die unsere Demokratie gefährde. In den 1990er Jahren gab es diese Spaltung auch schon, aber sie wurde als real existierende Demokratie praktiziert.

Klaus-Rüdiger Mais biographischer Essay über Sahra Wagenknecht mit dem schmucklos-polemischen Titel „Die Kommunistin“ erzählt von einer Frau, die aus der Kälte kam, aus der betonfarbenen Welt der DDR. Sie war begabt genug, um sich das gräuliche Einerlei durch einen hohen Aufwand an Intellekt und Phantasie mit sinnstiftendem humanistischem Glanz zu verzieren.

Neben dem schillernden weiblichen Part der Sahra Wagenknecht treten noch zwei Männerfiguren an die Rampe. Da ist der Dichter Peter Hacks, 1928 in Breslau geboren, der 1955 aus München in die DDR übersiedelte und dem Mai nachsagt, er sei dort vollends von der Halluzination ergriffen worden, die sozialistische Wiedergeburt Goethes zu verkörpern. Hacks wurde Wagenknechts intellektueller Übervater. Flankiert wird der Poet von seinem Freund, dem Star-Interviewer André Müller, 1946 im Brandenburgischen zur Welt gekommen, in Österreich aufgewachsen, der das journalistische Genre Interview mit berühmten Zeitgenossen zu literarischem Rang erhob. Das Interview mit seiner Mutter wurde im Hamburger Thalia-Theater als Drama uraufgeführt.

Im Banne alter weißer Männer
Aus dem Briefwechsel zwischen Hacks und Müller zitiert Mai genussvoll, über die Zitate könnten #MeToo-Aktivistinnen wie Heuschreckenschwärme herfallen. Wie Waldorf und Statler aus der „Muppet Show“ treten die beiden als weiße alte Männer auf und kommentieren in Mais Erzählung vom Spielfeldrand aus den Werdegang der holden Maid. Mal zischelt Hacks Vulgaritäten über Wagenknechts Liebesleben, mal schwärmt Müller von ihr als „unsere Rosa“ – in Anspielung auf Sahras Mimikry als Reinkarnation Rosa Luxemburgs. 2001 klagt Hacks, Wagenknecht sei „ihrer eigentlichen Aufgabe, die PDS zu einem geeigneten Zeitpunkt zu zerschlagen, nicht nachgekommen“. Und Müller lamentiert 1989 über die „unerhörte Geschwindigkeit des Zusammenbruchs“ der SED-Genossen: „Aber dass sie sich so gar nicht wehren ... so armselig untergehen ...“

Wie zwei Schatten huschen in der Familienaufstellung, die Mai für Wagenknechts Lebensbeschreibung entwirft, noch eine Ost-Berliner Studentin und ein Student aus West-Berlin vorüber – die Eltern, die ihre Tochter Sahra 1969 zur Welt brachten. Der Vater stammte aus dem Iran, ein erklärter Schah-Gegner, der aber schon bald wieder in seine Heimat zurückkehrte und seither als verschollen gilt. Dieser frühe Verlust des Vaters wurde für Sahra Wagenknecht zu einer existentiellen Fragestellung, die sie nie wieder verließ. Ihr Biograph behauptet sogar, dass dieses Identitätsmysterium für sie zum „Material für die Gestalt, die sich Sahra Wagenknecht zu geben wünscht“ wurde. Ist die Aura des Undurchdringlichen, in die Wagenknecht sich öffentlich hüllt, eine Eigenkonstruktion, „die Erfindung der Sahra Wagenknecht“?

Die Trostlosigkeit im Mauerstaat trieb die junge Sahra in die Bibliotheken – „für mich damals so etwas wie für andere Kinder die Süßwarenabteilung im Supermarkt“. Sie wurde zur exzessiven Leserin, erst Märchen, dann „Mosaik“-Comics, schließlich Hegel und Goethe. Den „Faust“ lernte sie auswendig. Mit

17 schrieb sie einen schwärmerischen Brief an den linientreuen Poeten Peter Hacks, 41 Jahre älter als sie, und gewann ihn als geistigen Leitstern. 14 Jahre lang hielt die Verbindung; bis 2001 dauerte ihre Loslösung von ihrem Ersatzvater.
Pirouetten und Häutungen
Unter seiner Schirmherrschaft lernte sie, sich die DDR als das bessere Deutschland zurecht zu ästhetisieren. Als ihr Land 1989 unterging, wurde sie Mitglied der SED. Ihr unbeirrter Glaube an den Stalinismus rief in seiner Antiquiertheit bei vielen Genossen Kopfschütteln hervor. Die SED, die sich bald zur PDS umtaufte, wollte sich sozialdemokratisieren, als linke Kraft im vereinigten Deutschland parlamentarisch anschlussfähig werden mit der SPD. Mittlerweile ist die PDS zur Linkspartei transformiert und auf eine Weise lifestyle-woke, dass sie neben der SPD am Abgrund steht und ihrem Untergang entgegenblickt.

Der Verfall beider Parteien hat viel mit dem Vernachlässigen der arbeitenden Stammklientel zugunsten identitätspolitischer Minderheitenbewirtschaftung zu tun. Und keineswegs hat Wagenknecht mit der Gründung ihres BSW der Linkspartei den Todesstoß versetzt. Sie hat nur ein sinkendes Schiff verlassen und ist sich auf verblüffende Weise treu geblieben.

Klaus-Rüdiger Mai behauptet, Wagenknecht sei trotz ihrer diversen Pirouetten und Häutungen eine Kommunistin geblieben. Ob sich diese These halten lässt, sei dahingestellt. Aber Mais Herleitung ist allemal lesenswert. Wir erfahren viel über die geistigen Grundlagen von Wagenknechts Sicht auf die Welt, viel über Marx, Hegel, Goethe und über die Untiefen des Postmodernismus. Wagenknecht selber bleibt allerdings auf eigentümliche Weise im Dunkeln. Die private Person verschwindet hinter der öffentlich rätselvoll inszenierten Fassade fast völlig.

Das Empfinden deutschen Auserwähltseins indes hat Wagenknecht nicht als einzige aus der DDR hinübergerettet. Auch in Kanzlerin Merkel zitterte dieses Lebensgefühl noch 2015 nach, als sie aussprach: „Unser Deutschland ist das schönste und das beste Deutschland, das wir haben.“

Klaus-Rüdiger Mai: „Die Kommunistin. Sahra Wagenknecht. Eine Frau zwischen Interessen und Mythen“, Europa Verlag, München 2024, gebunden, 288 Seiten, 24 Euro


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