19.04.2024

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Weihnachten in Ostpreussen

Die Gans der Schwestern Schneidereit

Jeder Ostpreuße schätzte das zartfleischige Geflügel aus Masuren, doch nicht jeder konnte sich den Festtagsbraten leisten

Ruth Geede
19.12.2021

Eine gut gebratene Gans ist eine gute Gabe Gottes – das erkannten schon in alten Zeiten die Berliner, die besonders die zartfleischige Masurengans schätzten und erst recht jeder Ostpreuße, für den die mit Äpfeln und Majoran gefüllte Gans einfach zum Weihnachtsfest gehörte.

Aber es gab auch Menschen, denen diese Gabe Gottes leider vorenthalten wurde. Sie konnten sich solch einen Festtagsbraten nicht leisten und hatten auch keine Verwandtschaft auf dem Lande, die Gänse hielten. Zu ihnen gehörten die Schwestern Schneidereit, zwei schon etwas betagte Damen, die sich so recht und schlecht durch das Leben schlugen. Erna, die Ältere, mit Kartenlegen, ihre Schwester Frieda mit Näh- und Strickarbeiten.

Für sie hatte es noch nie zu einer Weihnachtsgans gelangt – bis zu jenem kalten Wintertag, an dem Erna mit glücklichem Gesicht aus einem Abteil der Samlandbahn ausstieg mit einem Korb, aus dessen Deckel ein Gänsehals herausragte. Der zu einem lebenden Vogel gehörte, den Erna für ein Glück verheißendes Kartenorakel bekommen hatte, das tatsächlich eingetroffen war. Dieses Wunder bescherte den Schwestern Schneidereit unverhofft den Festtagsbraten.

Nun waren es bis zum Fest noch einige Tage, und so verwandelte sich die kleine Wohnung der Schwestern in dem Ponarther Mietshaus zwangsläufig in einen Gänsestall. Fenster und Türen wurden geschlossen, damit kein Schnattern nach außen drang. Eine der Schwestern blieb immer im Hause, um unliebsame Besucher abzuwimmeln. Durch die Enge der Räumlichkeiten wuchs den Schwestern die Gans, die sie Agathe getauft hatten, sehr ans Herz. Und Agathe, die zuerst ein wenig mickrig ausgesehen hatte, fühlte sich zusehends wohler, watschelte in der ganzen Wohnung umher und zeigte schnatternd ihre Zuneigung zu ihren vermeintlichen Betreuerinnen. Die sich aber nun am Tag vor dem Heiligen Abend mit dem Problem befassen mussten: Wer wird sie schlachten?

Es kam zu einem erregten Disput, bei dem Frieda den Kürzeren zog, denn ihre Schwester behauptete, sie hätte noch viele Kundinnen zu bedienen, denen sie die Karten legen musste.

Als Erna nach stundenlanger Abwesenheit die Türe aufschloss, fiel ihr erster Blick auf den Küchentisch. Erbarmung! Da lag Agathe leblos hingestreckt, ein Bild des Jammers. „Sie hat nuscht gemerkt, ich hab' ihr dein Schlafpulver unter das Futter gemischt“, schluchzte Frieda mit von Tränen erstickter Stimme.

Was nun? Die Gans musste ja noch gerupft werden. „Das ist aber jetzt deine Sache!“, erklärte Frieda ihrer Schwester energisch, und Erna wagte keinen Widerspruch. Sie begann ihr trauriges Werk, und als die Schummerstunde kam, lag Agathe nackt und bloß auf dem Küchentisch. Die Schwestern machten kein Licht. „Willst e Schlubberche?“, fragte Frieda ihre Schwester und holte die Flasche mit selbst gemachtem Bärenfang aus dem Küchenschrank. Der Honigschnaps wärmte Leib und Gemüt. „Ausnehmen müssen wir sie auch noch“, meinte Erna, fügte aber sogleich hinzu: „Dafür ist es nu all zu duster, man braucht Tageslicht, sonst triffst die Galle!“ Das sah Frieda auch ein, und nach dem dritten Meschkinnes gingen sie zu Bett und schlummerten sanft und selig in den Heiligen Abend hinein.

Am Morgen war es noch dunkel, als die Schwestern Schneidereit durch ein seltsames Geräusch geweckt wurden. Es kam aus der Küche, und als sie die Türe öffneten, watschelte ihnen Agathe entgegen, nackt und bloß, aber sonst ganz lebendig, nur völlig verhubbert in der Kälte des ostpreußischen Wintermorgens. Ernas gellender Schrei bewirkte, dass sofort an ihrer Türe geklingelt wurde.

Es war ihre Nachbarin Frau Wadehn, die von den Schwestern in letzter Zeit gemieden wurde, weil sie gerne tratschte. „Ach du liebes Gottchen“ – das war alles, was sie sagen konnte, als sie die nackte Agathe sah. Aber dann holte sie eine Kanne mit heißem Kaffee und beruhigte die aufgelösten Schwestern. Die begaben sich in stummer Einvernehmlichkeit ans Werk, und während draußen sanfter Schneefall einsetzte, strickten sie beide um die Wette. Die Weihnachtstanne blieb ungeschmückt, aber als die Heilige Nacht hereinbrach, stolzierte Agathe in einem bunten Wollwestchen umher, wohlig gewärmt und fröhlich schnatternd. Die Schwestern betrachteten sie immer noch mit Tränen in den Augen, aber mit aufkeimender Weihnachtsfreude im Herzen.

Die Äpfel, mit denen Agathe gefüllt werden sollte, schmorten in der Röhre des Kachelofens und ihr Duft durchzog die Stube. Es wurde noch ein wundervoller Heiligabend, in dem Agathe warm und geborgen in ihrem Körbchen einschlummerte. Von Gänsebraten wurde nie wieder gesprochen.

Agathe aber soll noch einige glückliche Jahre gelebt haben und eines natürlichen Todes verstorben sein. Sie blieb ungegessen.

(veröffentlicht in PAZ51/52 Weihnachten 2012)


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Kommentare

Micha Hausmann am 19.12.21, 22:57 Uhr

Die Jüngeren dürften die schöne Geschichte als ,,Weihnachtsgans Auguste" nach dem Kinderfilm kennen.

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