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Kulturstaat

Die Krise sitzt tief – und tiefer

Die lang anhaltende Schließung kultureller Einrichtungen bedroht nicht nur Theater, Opernhäuser, Museen und Bibliotheken, sondern den Kulturstaat insgesamt. Der Niedergang des kulturellen Lebens begann allerdings schon lange vor Corona

Eberhard Straub
10.03.2021

Kultur ist eine öffentliche Angelegenheit und als solche eine Lebens- und Bildungsmacht. Doch im Zusammenhang mit den seit einem Jahr andauernden Versuchen, die wechselnden Corona-Krisen zu bewältigen, waren die Museen, Bibliotheken, Konzertsäle, Opernhäuser und Theater entweder ganz geschlossen oder werden durch den neuen Öffnungsplan der Bundesregierung jetzt im März nur unter besonderen Auflagen zugänglich.

Seit den Tagen der alten Griechen und Römer wurde immer geraten, die Bedürfnisse von Geist und Körper im Gleichgewicht zu halten, weil auf deren Zusammenspiel die umfassende Gesundheit der Bürgerschaft beruhe. Apollo war nicht nur der Gott der Musik, sondern auch ein Arzt und Retter vor Unheil. Die Gesundheitspolitik von heute lässt sich von solchen Überlieferungen nicht beirren. Sie hält Kunst und Künstler für entbehrlich und verbannt sie aus dem öffentlichen Leben, ohne zu überlegen, welchen Schaden sie damit unter Umständen anrichtet.

Die Natur des Menschen

Deshalb war es höchste Zeit, als Dirigenten und Intendanten der Orchester, Opernhäuser und Theater in Berlin vor wenigen Tagen einen dringenden Appell an die Kanzlerin und an den Berliner Senat richteten, alsbald durch Öffnung der kulturellen Einrichtungen wieder ein öffentliches kulturelles Leben zu ermöglichen: „Je länger der aktuelle Zustand anhält, desto mehr ist eine dauerhafte Schwächung unseres kulturellen Lebens zu befürchten.“

Eine dauerhafte Schwächung unseres kulturellen Lebens ist allerdings eine Schwächung unseres Lebens überhaupt. Die Kultur ist die Natur des Menschen. Es geht daher nicht nur um die gefährdeten Existenzgrundlagen der Künstler, woran die Unterzeichner der Berliner Petition eindringlich erinnern. Es geht um die Grundlagen des Kulturstaates und die Rolle, die in diesem Kulturstaat Kunst und Künstler zukommen muss, ganz unabhängig von Berlin als Metropole von Kunst, Musik und Wissenschaft.

Der Kulturbetrieb im weitesten Sinn entsprechend dem erweiterten Kulturbegriff, der sich seit „1968“ durchgesetzt hat, ist zudem in Deutschland und auch in der EU ein herausragender Wirtschaftsfaktor, der jetzt freilich beträchtliche Umsatzverluste erleidet und mit weiteren spektakulären Einbußen zu rechnen hat. In der Bundesrepublik unterhalten der Bund, die Länder und die Kommunen zahllose kulturelle Einrichtungen, die zusätzliche Gelder von Stiftungen und von Unternehmen erhalten. Die äußeren Bedingungen scheinen zu bestätigen, dass Staat und Gesellschaft kulturelle Aufgaben überhaupt nicht vernachlässigen. An Geld fehlte es bislang nie.

Das Ende des Bildungsbürgers

Dennoch steckte dieser Kulturbetrieb auch schon vor Corona in einer Krise. Die seit Jahrzehnten bestehende materielle Sicherheit konnte die ebenso lang anhaltende Unsicherheit über die geistig-kulturelle Rechtfertigung des Kulturlebens und der Bildungseinrichtungen nicht zur Ruhe bringen. Keiner weiß mehr so recht, was Kultur und Bildung meinen und auf welche Art Opern, Museen oder Universitäten als Bildungsanstalten wirklich bilden. Der Bildungsbürger als sozialer Typus ist verschwunden.

Dessen Bildung freilich war zu großen Teilen eine historisch-museale. Bezeichnenderweise wurde im 19. Jahrhundert, zur Blütezeit des Bildungsbürgertums, das Museum zu einer der wichtigsten Bauaufgaben. Der Geist des Museums, das Ansinnen, das Vorbildliche aus allen Zeiten zu bewahren und es vor dem Vergessen zu retten, drang in die Opernhäuser, die Theater, in die Konzertprogramme und in die Universitäten. Die Klassiker sollten gepflegt und das Erbe in Ehren gehalten werden, damit nachfolgende Generationen fähig wären, die Geister der jeweiligen Modernen unterscheiden und bewerten zu können.

Der Verlust alter Kulturtechniken

Ein Beispiel für die Symbiose aus klassischem und zeitgenössischem Denken in jener Zeit ist Friedrich Nietzsches Essay „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ von 1874. Immer mehr Künstler entdeckten in jener Zeit die Geschichte und den musealen Geist, entgingen aber nicht dem Paradox, dennoch als Klassiker anerkannt zu werden, eben als Klassiker der Moderne. Das war unvermeidlich, solange auch die Avantgardisten klassisch gebildet waren – und heimisch in dem „Kulturmuseum“, aus dem sie hinausstrebten und von dem sie geprägt waren.

In jener Zeit der Klassik und der klassischen Moderne waren Geschichte und Kultur derart in Abhängigkeit voneinander geraten, dass um 1900 selbst die allerneueste Lebenskultur im Kaffeehaus und im Bierkeller, im Palasthotel und im Großkaufhaus oder in den großen Bahnhöfen als Palästen des Verkehrs und des Verbrauchs nicht mehr ohne historischen Zierrat auskam, der zugleich einen zeitgemäßen Stil hervorbrachte.

Im Laufe des späten 20. Jahrhunderts gingen jedoch zahlreiche kulturelle Riten und Techniken verloren, die zuvor durchaus auch von Arbeitern und ihren Kindern beherrscht wurden: zum Beispiel der gemeinsame Gesang in der Familie oder das Spielen eines Instruments und die Fähigkeit, Noten zu lesen. Vor allem aber waren auch die Gebildeten immer weniger vertraut mit den längst vergangenen Welten, in denen sich die Klassiker einst zu bewähren hatten.

Die großen Kunstwerke der Moderne wurden umso unverständlicher, je mehr sie in ihre Welt zurückversetzt und dem unbefangenen Genuss entzogen wurden. Die Zeiten, in denen Mozart oder Beethoven, Goethe oder George, Dürer oder Menzel alltägliche Begleiter des Bildungsbürgertums waren, sind lange vorbei. Heute dürfte es nur noch wenige Geister geben, die ihre Werke richtig verstehen.

Ein Teil dieses Niedergangs hängt auch mit dem Wesen der Demokratie zusammen. Gerade Demokraten, die bewusst in eine andere, bessere Welt streben, wollen oft die Distanz zu einer für sie fragwürdigen Vergangenheit wahren. Alexis de Tocqueville, der große Analytiker nicht nur der Demokratie in den USA, beobachtete schon um 1830 gerade im Theater die Unlust der Amerikaner, sich auf Stücke einzulassen, die nichts mit ihrer Wirklichkeit, mit ihrer in jeder Beziehung neuen Welt zu tun hatten.
Demokraten, so Tocqueville, wollen nur sich selbst sowie ihrer Lebensart und ihren Lebensvorstellungen begegnen. Wo zum Beispiel der Zugang zur Ehe und deren Auflösung gleichermaßen leicht geworden ist, schwindet unweigerlich das Verständnis für Komödien oder Tragödien, die sich aus ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen und Bindungen ergaben. Man kann auf sie verzichten, weil sie insgesamt überholt sind.

Tocqueville – ein Aristokrat von Geburt und Geist, immer ein Freund der Klarheit – konnte gar nicht ahnen, dass einmal in demokratischem Geist geprägte Bühnen auf den Gedanken kommen würden, alte Dramen durch aktualisierende Interpretationen „zeitgemäß“ zu interpretieren, weil es nicht genug neue Stücke gibt, die dauernden Erfolg versprechen. Vor allem die Oper ist auf das Repertoire alter Meister angewiesen, weil sich die Meister von heute nicht dauerhaft behaupten können. So müssen die immer selben Stücke von Mozart bis Richard Strauss mit ungewohnten Einfällen „interessant“ gemacht – und ergo jener Zeit entrückt werden, in der sie entstanden.

Der Geist der Eventkultur

Diese neuen Ein- und Ansichten veraltern freilich rasch, sodass erst recht immer wieder ungeahnte „Effekte“ gebraucht werden, um Neugier für das immer gleiche in nur anderem Gewand zu wecken. Damit wird allerdings nicht nur von dem misslichen Umstand abgelenkt, dass die Oper eine Kunstform aus der Welt von Gestern ist. Vielmehr verkommt einstige klassische Hochkultur zum zeitgenössischen „Event“.

Das Paradoxe daran: Die Programme der Konzertbühnen können durch alle möglichen Rückgriffe auf alte Werke aus vier Jahrhunderten stets abwechslungsreich erweitert werden – doch gerät man darüber erst recht immer tiefer hinein in ein musikalisches Museum bis hin zu einer Aufführungspraxis, die mit umfassender Altbegier Uraltem neue Reize verschaffen möchte.

Die Kunst soll zum Erlebnis werden. Doch was erlebt der Kunstfreund von heute unter dem Eindruck von Werken, die einst zur höfisch-aristokratischen Repräsentation, zur katholischen Festlichkeit oder zur Stärkung protestantischer Innerlichkeit verfasst wurden? Wo die Kenntnis biblischer Geschichten oder christlicher Legenden und Tugendbeispiele nicht mehr vorausgesetzt werden kann, entziehen sich viele klassische Werke von vornherein dem unmittelbaren Verständnis heutiger Zeitgenossen. Auch die antike Geschichte und Mythologie ist aus dem öffentlichen Bewusstsein entschwunden und mit ihr der Humanismus, der als bürgerliche Haltung gerade die Bildung jener Demokraten bestimmte, die einmal auf die Kraft der Vernunft und der freien Diskussion hofften.

Ursachen des Schweigens

Ein weiteres Ärgernis unserer Zeit ist die Politisierung der Bildung, die sich mächtig vordrängt und die allgemeine Lebens- und Geisteskultur zunehmend parteiisch prägt. In den Glanzzeiten des Bürgertums gab es keinen Zweifel, dass eine möglichst breite humanistische Bildung die Voraussetzung sei, um sich am öffentlichen, politischen Gespräch beteiligen zu können. Heute sollen die Politik und ein moralisch-korrektes Bewusstsein die Kultur durchdringen.

Hatte sich der klassische Kulturstaat dazu verpflichtet, weite Räume von der Politik und der Politisierung freizuhalten, damit sich die Geister der Künste und der Wissenschaften frei entfalten konnten, werden diese schon seit geraumer Zeit wie selbstverständlich in den Dienst staatlichen Handelns gestellt. Möglicherweise ist diese lange gewohnte Praxis auch der Grund dafür, dass sich die Künstler, Schauspieler und Autoren derzeit so schwer damit tun, gegen ihre staatlich verordnete Stilllegung in Zeiten der Corona-Pandemie zu protestieren.

Kunst und Kultur brauchen Freiheit, beide zusammen bilden einen Geist der Freiheit, auf den die Politik und der Staat angewiesen sind, um nicht die Grenzen ihrer Wirksamkeit und Zuständigkeit zu überschreiten. Auch und gerade dem demokratisch verfassten Staat sind Grenzen gezogen, damit er ein Freistaat bleibe. Denn der Staat ist für den Menschen eingerichtet. In dessen zweckfreier Bestimmung, auch nicht für beliebige Staats­zwecke verwertet zu werden, äußert sich seine Würde. Diese bedarf der Kunst und der Wissenschaft.

Insofern sollte der Appell der Berliner Künstler nicht nur die Politiker, sondern alle Bürger dazu auffordern, gründlich über die Rolle der freien Kunst und Wissenschaft in einem freien Staat nachzudenken. Auch wenn dieser Tage wieder erste Kultureinrichtungen öffnen, darf sich das vereinte Zusperren von Museen, Opernhäusern, Theatern, Kinos und sonstigen Stätten unseres kulturellen Lebens nicht noch einmal wiederholen.

• Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehören unter anderem „Zur Tyrannei der Werte“ (2010) und „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (2014, beide Klett-Cotta).
www.eberhard-straub.de


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Kommentare

Siegfried Hermann am 11.03.21, 10:04 Uhr

....Kunst und Kultur brauchen Freiheit, beide zusammen bilden einen Geist der Freiheit....

Und jetzt kommt der Denkfehler: Der heutigen links-bunt-faschistischen Staats-Dingsbums Mörkelschen Verschnitt scheut Freiheit wie der Teufel das Weihwasser!
Datt kann nicht funktionieren.

Deswegen werden die Kulturetats aller Orten Jahr für Jahr weiter beschnitten, oder für so perverse "Kunst-Events" a la Gender, BLM, Antifa-Rassismus, oder dieser Intellektuellenmüll von bepixxten Kupferblechen eines Herrn Boys, der das "Kunst" nannte, fehl investiert.

Und was Straub in einer angestaubten steuerfinanzierte Kulturblase auch nicht kapieren will, dass seit den 50ziger Jahren die Jugend EIGENE Wege der Kulturvorstellung und -durchführung gehen. Rock for ever. Und meist ganz ohne staatliche Unterstützung und Kohle.
Im Gesamtergebnis kann ich allerdings zustimmen: Mehr geistige Besinnung in dieser inhaltsleeren Poser-RTL-Generation kann wirklich nicht schaden.

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