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Die Kunstketzer aus Berlin, München und Wien

Eine Schau der Extraklasse in der Berliner Nationalgalerie zeigt Arbeiten von Klimt, Stuck und Liebermann

Claus-M. Wolfschlag
28.09.2023

Die ungebrochene Freude an der Kunst um das Jahr 1900 scheint sich zu offenbaren, wenn man die langen Besucherschlangen in Berlin betrachtet. Kunstinteressierte, die über kein online erworbenes Zeitfenster-Ticket verfügen, sind dazu verurteilt, vor dem Eintritt einige Minuten den Blick über die Fassade der klassizistischen Alten Nationalgalerie schweifen lassen zu müssen, ehe Einlass zu einer Schau der Extraklasse gewährt wird. Es gibt schlechtere Anblicke, zumal in der berechtigten Erwartung, dass einem in der Ausstellung „Secessionen“ weiterer Augenschmaus geboten wird.

„Secessionen“ waren die zahlreichen Abspaltungen vom traditionellen akademischen Kunstbetrieb während der Jugendstil-Epoche. Neue Künstlervereinigungen unter diesem Leitbegriff bildeten sich unter anderem in Wien, Berlin und München. Dabei hatte die 1892 gegründete Münchner Secession Vorbildfunktion. Doch auch hierbei spielte nicht nur die Kunst eine Rolle, sondern auch der Mammon. Der steigende Erwerbsdruck einer wachsenden Künstlerschaft führte zu Verteilungskämpfen. So wollten die „Secessionen“ staatliche Fördergelder dem Monopol des Wirtschaftsverbandes der Künstler und der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft entziehen, um damit wirtschaftliche Vorteile zu erlangen.

Die ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts langsam einsetzenden neuen künstlerischen Entwicklungen werden heute von Nationalgalerie-Direktor Ralph Gleis als „Impulsgeber für den Aufbruch in eine neue Kunstära“ verstanden. Ob sich viele der sich ebenfalls unter dem Begriff „modern“ vermarktenden Gegenwartskünstler zu Recht auf jene damaligen, noch akademisch und in Kunstfertigkeit geschulten Meister der Jahrhundertwende berufen dürfen, sei dahingestellt.

Der Anspruch auf Individualität und die Freiheit der Kunst bei den neuen Strömungen des Impressionismus und Jugendstil war zweifellos ein Moment der Ablösung vom traditionellen akademischen Betrieb. Hinzu kam der Wunsch des Jugendstils, ein gesellschaftlich wirkendes ästhetisches Gesamtkunstwerk zu schaffen, wozu auch die Architektur gehörte. Dies wird in der Ausstellung exemplarisch an Otto Wagners Modell der monumentalen Ehrenhalle für die Akademie der Bildenden Künste erkennbar.

Dennoch blieben die Künstler gebunden, denn die meisten jener Zeit waren gar nicht so strikt individualistisch, wie bisweilen behauptet wird. Viele Motive und Techniken tauchen auch bei ihren Kollegen auf. Es fand also vielfache Befruchtung und Nachahmung statt.

So dürfte Jules Joseph Lefebvres „La Vérité“ von 1870 ein Vorbild für Franz von Stucks 1892 gemaltes Bild „In vino veritas“ sein. In beiden Bildern hält eine nackte Wahrheitsallegorie den Spiegel der Selbsterkenntnis in die Höhe, bei Stuck indes auf einem Buckelkelch balancierend. Diese Fokussierung des Bildes auf die Frauenfigur könnte später wiederum Einfluss auf die 1910 entstandene Bildreihe „Tempeltanz der Seele“ des Malers Fidus gehabt haben. Auch Klimts „Liebe“ von 1895, bei der ein sich küssendes Paar von Köpfen und Fratzen aus dem dunklen Hintergrund beobachtet wird, wirkt, als hätte es konzeptionell Einfluss auf Karl Wilhelm Dieffenbachs Programmgemälde „Du sollst nicht töten“ von 1906 gehabt, in dem Gott diese Beobachterrolle einnimmt. Analogien zu anderen Künstlern finden sich auch bei Richard Riemerschmids „Wolkengespenstern“ oder den Badebildern Ludwig von Hofmanns.

200 Gemälde von 80 Künstlern
Gleichwohl setzte mit den „Secessionen“ der Jugendstil-Ära ein Zwang zu steter Innovation ein, der sich im Verlauf des
20. Jahrhunderts in Sackgassen festfahren sollte. Am ehesten ist dem heutigen Betrachter diese Innovation in der geome­trisch strukturierten Plakatkunst jener Jahre erkennbar, von der die Schau einige beeindruckende Arbeiten der Österreicher Koloman Moser, Ferdinand Andri und Alfred Roller zeigt.

Die Berliner Schau präsentiert viele Jugendstil-Stars der damaligen „Secessions“-Vereinigungen. Ralph Gleis versteht sie als „Teil einer europäischen Bewegung“. Der Fokus liegt indes auf den Metropolen Wien, München und Berlin. So werden zahlreiche Gemälde von Gustav Klimt und Franz von Stuck dargereicht, während der Berliner Max Liebermann exemplarisch für die impressionistische Stilrichtung gezeigt wird.

Insgesamt sind über 200 Gemälde, Skulpturen und Graphiken von 80 Künstlern zu sehen. Speziell für die Ausstellung konnte dabei das 1898 gemalte Portrait „Dame in Weiß“ (1898) von Ernestine Schultze-Naumburg erworben werden. Die Künstlerin war Gründungsmitglied der Berliner Secession und die erste Frau des Architekten Paul Schultze-Naumburg.

Den Besuchern der Schau begegnen ansonsten zahlreiche Kunst-Klassiker des Jugendstils und Symbolismus. Interessant ist dabei zu sehen, wie die Künstler ähnliche Motive mit jeweils eigener Handschrift umgesetzt haben. Die griechische Schutzgöttin Pallas Athene, Sinnbild der künstlerischen Wehrhaftigkeit, wurde bei Stuck als fast lebensgetreue Person vor einem monochrom goldenen Hintergrund in Szene gesetzt, während sie bei Klimt mit aufgerissenen Augen und schuppenartigem Panzer zum Glied eines ornamentalen Spiels wird.

Dass die Kunst jener Jahre auch im Kleinen eindrucksvolle Leistungen hervorgebracht hat, beweisen nicht nur zahlreiche Skizzen Klimts, sondern auch das 1904 gefertigte sensible Selbstportrait der 1867 in Königsberg geborenen Käthe Kollwitz und der „Flötenbläser“ der aus Thorn stammenden Julie Wolfthorn.

„Secessionen. Klimt, Stuck, Liebermann“, bis 22. Oktober in der Alten Nationalgalerie, Museumsinsel Berlin, geöffnet täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Eintritt: 12 Euro. www.smb.museum


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