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Vor 250 Jahren wurde in den USA eine militärische Legende geschaffen, deren Faszination bis heute andauert
Wer heute an das United States Marine Corps (USMC) denkt, hat durchtrainierte, muskelbepackte Männer mit breitem Kreuz, kantigem Gesicht und raspelkurzen Haaren vor Augen. Typen mit Stiernacken und einem schneidigen Blick, der mehr sagt als 1000 Worte. Schon hat man Bilder von wagemutigen Amphibienlandungen im Kopf, Killereliten mit eiserner Disziplin, bis an die Zähne bewaffnet, Patronengurte diagonal über der Schulter hängend, das Sturmgewehr im Anschlag, und alle vereint sowohl der unbedingte Siegeswille als auch eine unverbrüchliche Brüderlichkeit. Diese Männer sind keine Soldaten, auch keine Elitesoldaten oder nur hervorragende Kämpfer – nein, sie sind viel mehr, denn sie sind Marines!
Doch hinter den markigen Motiven steckt eine lange Geschichte: politisch, institutionell, kulturell. Um zu verstehen, wie sich aus einer militärischen Notwendigkeit des 18. Jahrhunderts ein echter Mythos entwickelte, der bis heute wirkt, müssen wir zu den Ursprüngen zurückkehren – und dann die Zwischenstationen verfolgen, in denen Legenden geprägt und schließlich tradiert wurden.
Es war im Jahr 1775 , als die britische Kolonialmacht in Nordamerika nicht nur Herr über das Land war, sondern auch die Meere regelrecht dominierte. Die amerikanischen Küstenstädte waren auf die Schifffahrt, auf Fischerei und den Import von Waren angewiesen. Gleichzeitig aber wuchs der Widerstand der Kolonien gegen das britische Joch. Man wollte und musste sich wehren. Und die Möglichkeit, britische Schiffe zu stören oder britische Einrichtungen an Küsten und auf Inseln zu attackieren, war daher strategisch wichtig. Hier konnte man den „Herren aus der alten Welt“ so richtig wehtun. Die Kolonien hatten bereits eigene schlagkräftige Milizen an Land aufgebaut, aber bisher noch nichts Vergleichbares für den Küsten- und Seebereich, das zugleich flexibel und militärisch wirksam war. Das wollte man ändern.
Aus der Not erschaffen
Schon bald nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten dachten die Führer des Kontinentalkongresses daran, eine eigene Marine (Continental Navy) zu schaffen, um britische Schiffe zu blockieren, Handelsschiffe zu schützen und Angriffe gegen britische Einrichtungen von See her zu ermöglichen. Doch schnell wurde klar: Eine Marine allein reicht nicht aus. Man brauchte Mannschaften, die an Bord und zugleich an Land eingesetzt werden können – z. B. um feindliche Forts oder Häfen zu stürmen, Schiffe zu entern oder Stellungen an Küsten zu besetzen. Genau hier kam die Idee der „Marines“ ins Spiel – als Kombination von Seeleuten und Infanteristen, spezialisiert auf Landungsunternehmen und Bordoperationen.
Am 10. November 1775 verabschiedete der Zweite Kontinentalkongress in Philadelphia eine Resolution, in der festgelegt wurde, dass „zwei Bataillone von Marines“ aufgebaut werden sollen, die bei der zuletzt gegründeten Marine zum Einsatz kommen sollten und dort auch dem Kommando unterstellt waren. Diese Resolution legte folgende wesentlichen Punkte fest:
• Die Einheit solle sowohl auf See als auch an Land eingesetzt werden.
• Die Rekrutierung solle auf Männer zielen, die Seeleute oder wenigstens mit maritimen Angelegenheiten vertraut seien, damit sie auf Schiffen nützlich sind.
• Die Beförderung und Besoldung, die Ränge und Strukturen – die Offiziersstellen, die Kompanien etc. – sollten ähnlich wie bei regulären Truppen sein.
Rekrutierung im Wirtshaus
Samuel Nicholas, wohnhaft in Philadelphia, wurde zum ersten Kommandanten ernannt. Es existieren Überlieferungen, wonach das „Tun Tavern“, ein zwielichtiges Wirtshaus in Philadelphia, der Ort war, an dem die ersten Rekrutierungsversuche stattfanden. Ob exakt dort oder in einem anderen Lokal der Familie Nicholas, das ist historisch nicht eindeutig gesichert, aber es gehört zur festen Legende.
Bereits in den nächsten Monaten wurden mehrere Kompanien aufgestellt, etwa 300 Männer, die dann auf Schiffen dienten, bei waghalsigen Landungsunternehmen mitwirkten – insbesondere das erste amphibische Gefecht gegen Nassau auf den Bahamas, März 1776.
Nach dem Ende des Revolutionären Krieges (Treaty of Paris, 1783) wurden sowohl die Continental Navy als auch die Continental Marines faktisch aufgelöst. Die jungen Vereinigten Staaten waren mit finanziellen Problemen, politischem Auseinanderdriften der Bundesstaaten und einer allgemeinen Angst vor stehenden Heeren belastet.
In den 1790er Jahren wuchs erneut der Druck auf die Vereinigten Staaten, Seefahrt und Handel vor Auslandsdrohungen zu schützen. Der sogenannte Quasi-Krieg mit Frankreich machte deutlich, dass man doch wieder über ausreichend und schlagkräftige Marinekräfte verfügen musste. 1798 verabschiedete der Kongress deshalb ein entsprechendes Gesetz, und am 11. Juli 1798 wurde der U.S. Marine Corps formal als dauerhafte Truppe neu gegründet – unter dem Department of the Navy.
Einsätze zur Heldenbildung
Doch wie wird aus einer bloßen militärischen Einheit eine Legende – ein Glaube, ein Symbol, ein Mythos, dessen Wirkung über Jahrhunderte anhält? Dafür dürften drei wesentliche Aspekte dienen
1. Geburtstag: Obwohl 1798 die offizielle Neugründung war, feiert das Corps seit 1921 den 10. November 1775 als Geburtsdatum. Die Entscheidung wurde nicht zufällig getroffen: Damit verbindet man das Corps rückwirkend mit der ersten Resolution und gibt ihm eine Kontinuität, ein älteres Erbe, das Stolz und Legitimität stiftet.
2. Symbole und Werte: Zum einen das Motto „Semper Fidelis“ („Immer treu“) wirkt, ebenso die Uniformelemente wie z. B. der starke Halskragen mit Leder verstärkt, was auch zum berüchtigten Spitzname der Elitesoldaten führte, nämlich „Leatherneck“ (Ledernacken). Dazu die Emblemes wie Adler, Globus und Anker – all das sind Bestandteile, die Identität stiften und das Corps als besonders, als eigenständig und nahezu elitär außergewöhnlich markieren.
3. Lieder, Hymnen, Sprüche: Die „Marines' Hymn“, die Slogans wie „First to Fight“, das traditionelle Grüßen und Rangformen, Terminologie, die teils aus dem maritimen Bereich stammt (z. B. Decks, Schotten), haben dazu beigetragen, eine eigene Kultur zu formen, die sich ganz bewusst von Armee oder Marine unterscheidet.
4. Elitedasein: Die Marine Corps Einheit war lange relativ klein und von vielen Stimmen bedroht, die sie für überflüssig hielten – besonders in Friedenszeiten. Hier wurde Öffentlichkeit wichtig: Kriegsberichte, Heldentaten, Einsatzberichte, die medial ausgewertet wurden, halfen, das Corps in der öffentlichen Wahrnehmung zu formen. Dazu ein extrem elitäres Auswahlverfahren: Jeder durfte sich melden, aber nicht jeder wurde rekrutiert. Nur die Besten der Besten – körperlich und geistig – durften harte „Ledernacken“ werden.
5. Brisante Einsätze: Mit Kriegen wie dem Spanisch-Amerikanischen Krieg (1898) und den Expeditionen in Lateinamerika, der Karibik und Asien erlangten die Marines sichtbare Einsätze, die medienwirksam waren – kleine Landungsunternehmen, Interventionen, Küstenoperationen. Diese Einsätze lieferten Stoff für Geschichten über Härte, Mobilität und typisch marineartiges Kämpfen.
Die Geschichte, dass die ersten Marines im „Tun Tavern“ rekrutiert wurden, ist Teil einer romantischen Überlieferung. – eine Legende, die stark ist und offiziell gepflegt wird. Das Wirtshaus, eine echte Spelunke, wird zum ikonischen Ort des Beginns, weil hier die „härtesten Hunde“ beim Bier verweilten. Ein paar gute Männer mit Bier zu locken, gehört heute immer noch zu den Mythen, die Identität mit Lebendigkeit verbinden.
Ein weiterer Mythos ist der Begriff „Devil Dogs“ (Teufelshunde), der angeblich von deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg bei der Schlacht von Belleau Wood kommen soll, um die Marines zu beschreiben. Historische Nachforschungen zeigen, dass es keine gesicherten deutschen Quellen dafür gibt; viel wahrscheinlicher ist, dass der Begriff durch amerikanische Presse und Propaganda entstand. Dennoch ist er tief im Selbstverständnis der Marines verankert.
Als das Corps in Friedenszeiten immer mal wieder reduziert wurde, hatte es somit seine Gegner, die argumentierten, dass Marineinfanterie – ähnlich wie Armeeinfanterie – doch irgendwie redundant sei. Besonders nach großen Kriegen gab es politische Debatten über Kosten, Zuständigkeiten und Struktur der Streitkräfte. Das Corps reagierte nicht nur mit militärischer Effizienz, sondern auch mit der Betonung seiner eigenen Geschichte, seiner besonderen Traditionen und Leistungen. In dieser Phase wurden Mythen und Heldengeschichten systematisch gesammelt, gepflegt und verbreitet – in internen Veröffentlichungen, in Rekrutierungsbroschüren und in der Presse. Damit wollte man eine fortlaufende Legitimierung der Einheit erreichen, was letztendlich auch gelang.
Heather Venable, Professorin für Militär- und Sicherheitsforschung im US-Department of Airpower at the United States Air Force's Air Command and Staff, beschreibt in ihrem Buch „How the Few Became the Proud“, das sich ausgiebig mit der Geschichte und dem Mythos der United States Marines Corps beschäftigt, ausführlich, wie zwischen etwa 1874 und dem Ersten Weltkrieg diese Institutionalisierung der Legende erfolgte.
Statuspflege trotz Niederlagen
Im Ersten Weltkrieg, besonders bei Belleau Wood (1918) und anderen Schlachten in Frankreich, fanden Geschichten statt, die bis heute identitätsstiftend sind: Der Einsatz neben französischen Truppen, schwere Kämpfe, Beharrlichkeit in der Gegenwehr trotz heftigem Beschuss. All diese Ereignisse halfen dem Corps, sich zunehmend als Elitetruppe in der öffentlichen Wahrnehmung zu etablieren. Die Presse griff die Erzählungen dankbar auf, und Rekrutierungsplakate machten den Mythos letztendlich populär. Der Slogan „First to fight“ verband reale Leistung mit Imagebildung.
Die Entwicklung der amphibischen Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg war ein Beleg für die Bedeutung und Einzigartigkeit des USMC: Landungsoperationen bei Guadalcanal, Iwo Jima, Tarawa und viele mehr prägten das Bild des Marineinfanteristen als hart, durchsetzungsfähig, fähig, unter extremen Bedingungen zu kämpfen. Noch wichtiger aber waren die heldenhaften Filme, Bücher und Erzählungen, die diese Operationen zur Legende machten – und halfen, den Mythos international bekannt zu machen.
Während des Kalten Kriegs und später in Vietnam, Nahost, Afghanistan etc. wurde diese Identität weiter gepflegt und zementiert – trotz der schmachvollen Niederlagen wie in Vietnam.
Ein Mythos, der bis heute wirkt
Es ist die elektrisierende Identitätsbildung und Kameradschaft. Wer ein strammer Marine wird, übernimmt Traditionen und Rituale – das schafft ein starkes Zugehörigkeitsgefühl, das über den einzelnen Einsatz hinaus reicht. Wer Teil einer Elite ist, verhält sich auch danach. Die Erwartung von sich selbst und von außen verstärkt diesen Effekt.
Aber auch die politische Unterstützung wirkt nachhaltig. Langfristige Unterstützung des Kongresses, militärische Budgetierung, öffentliche, feierliche Zeremonien, Denkmäler – all das trägt dazu bei, dass Geschichte nicht nur erzählt, sondern erinnert wird. Und schließlich dient der Mythos als Zweck: In vielen Fällen war und ist Legendenbildung nicht nur eine schöne Begleiterscheinung, sondern strategisch gebraucht – um Moral zu stärken, Einheiten zu rekrutieren, internes Prestige zu wahren und politische Gegner zu überzeugen, dass man das Corps weiterführen und ausbauen muss. So wird die Geschichte zur Ressource.
Das United States Marine Corps wurde vor 250 Jahren aus politischen, militärischen und geographischen Gründen ins Leben gerufen. Der heldenhafte Mythos dieser berühmten Einheit ist nicht einfach nur eine übertriebene Stilisierung. Diese militärischen Legende ist vielmehr ein großes Stück Realität, in dem Erinnerung, Besonderheit, Legende und Zweck eng miteinander verwoben sind. Der Erfolg liegt gerade darin, dass er greifbar ist: in harten Schlachten, in seinen Ritualen, in den Symbolen – und in der Weise, wie die Institution und die Gesellschaft sich wechselseitig geformt und auch geprägt haben. Das United States Marine Corps ist vor allem aber eins: ein wirksames Werkzeug der Freiheit – seit damals bis heute.