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Stadtfest

Die Legende von den „kleinen Kämpfern“

Junggesellen müssen sie sein: Pfingsten feiert die Stadt Lingen ihre Kivelinge – Das Fest ist immaterielles Unesco-Weltkulturerbe

Anne Martin
20.05.2024

Das Ritual am Pfingstmontag ist seit Langem festgeschrieben: An der Spitze des Zuges reiten vier Herolde, in 30 Metern Abstand trabt der Kommandeur hoch zu Ross hinterher. Er sitzt hoch aufgerichtet im Sattel, eine weich fallende Kappe wird seine Stirn halb verdecken, das Zaumzeug wird leise knirschen.

Peter Flatken (33) führt die jungen Männer wieder an, die sich Kivelinge nennen, die jüngsten sind gerade mal 16 Jahre alt. Auch viele Frauen, Marketenderinnen, begleiten den Zug, tragen kunstvoll bestickte Bustiers und lange Röcke, den Gewändern des Mittelalters nachempfunden. Gemeinsam werden sie die Stadt durchqueren – über den Markt und die Mühlentorstraße, zurück zum Markt und dann bis zum Endpunkt, dem Versammlungshaus Wilhelmshöhe, mitten in einem weitläufigen Park gelegen.

Zwölf Fanfarenzüge schicken während des Marsches ihre donnernden Signale durch die Straßen, Trommelstöcke sausen auf die gespannte Haut historischer Landsknechttrommeln. Kutschen rattern übers Kopfsteinpflaster, der Applaus der Zuschauer – 10.000 werden erwartet – ist dem Zug gewiss.

Was die 57.000-Einwohner-Stadt Lingen an der Ems alle drei Jahre auf die Beine stellt, ist viel mehr als mittelalterlicher Mummenschanz, wie er gelegentlich auf den Marktplätzen kleiner Städte gefeiert wird. Das Fest der Kivelinge in der Stadt im Emsland reicht bis in das Jahr 1372 zurück und beruft sich auf eine dramatische Geschichte, die auch als Parabel dienen könnte für den Einsatz der Bürger für ihre Stadt und deren Bewohner.

Die Legende erzählt, dass Ende des 14. Jahrhunderts während einer Fehde zwischen dem Grafen von Tecklenburg und dem Bischof von Münster die Burg belagert wurde und kaum noch wehrfähige Männer die Stadt und ihre darin ausharrenden Familien verteidigen konnten. Als letzte Reserve wurden deshalb die unverheirateten Bürgersöhne unter Waffen gestellt, die Kivelinge, was im Mittelniederdeutschen „kleine Kämpfer“ bedeutet. Ihnen gelang es in drei Tagen und drei Nächten, die Angreifer in die Flucht zu schlagen.

Als Dank sagte ihnen der Magistrat zu, mit Unterstützung der Stadt alle drei Jahre ein Fest ausrichten zu dürfen. Das Motto lautet: Civis, Civis, Civibus. Bürger, Bürger, für die Bürger! Im Jahre 2018 wurde das Fest der Kivelinge wegen seiner lebendigen kulturellen Tradition von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt.

Ein Geschenk an die Bürger
Immateriell – nicht käuflich. Ein Zauberwort, findet „Kommandeur“ Flatken. Der 1,96 Meter große Hüne, der im Hauptberuf Ingenieur ist, hält während des dreitägigen Ausnahmezustandes alle Fäden zusammen. Nicht ohne Stolz sagt er: „Hier wird kein Eintritt erhoben, alles ist ein Geschenk an die Bürger.“ Bunte Plastikkarussells mit lauter Musik wird man auf dem Lingener Marktplatz vergeblich suchen. Stattdessen dreht sich dort etwa ein Kinderkarussell mit handgeschnitzten Schiffen und langen Tauen – die Taue werden von einigen Kivelingen gefasst und rundherum gezogen.

13 Sektionen junger Männer von den „Schreckensteinern“ bis zu den „Spökenkiekern“ kümmern sich um Spiel, Spaß und Kulinarisches wie süße Kartoffelkuchen „Poffertjes“, die an die nah gelegene niederländische Grenze erinnern.

Wenn es Abend wird, dann blaken die Laternen, Kerzen leuchten und Fackeln knistern – alles soll sein wie damals, als es noch kein elektrisches Licht gab und die Menschen im Feuerschein zusammenrückten. Dieser Zusammenhalt ist es auch, der das Fest der Kivelinge so besonders macht. 333 Bürgersöhne gehören in diesem Jahr dazu, genauso viele junge Frauen als Marketenderinnen. Immer noch gilt, dass ein Kiveling unverheiratet sein soll. Daran halten sich auch Flatken und seine Partnerin Birte Bontenbroich, die in dieser Saison die gekrönte Königin des Festes ist.

Ein Besuch im Stadtarchiv lohnt nicht nur zu Pfingsten. Archivleiter Mirko Krabich hütet dort vergilbte Aufzeichnungen, welche die Legende von den tapferen Kivelingen belegen. Da wäre etwa ein „Notgeldschein“ von 1922, der zum 550. Jubiläum herausgegeben wurde – links ein Kiveling in mittelalterlichem Putz und roten Strumpfhosen mit der Hellebarde über der Schulter, rechts ein Kiveling oder auch Kommandeur in der schmucken Uniform von 1922, Epauletten auf der Schulter, an der Seite ein Säbel.

Dann wären da noch ein Kompaniebuch von 1786 und Kämmereirechnungen aus den Jahren um 1550. Den Schützen wurde ein „Schnapphahn“ zuerkannt – der damalige Ausdruck für eine bestimmte Münze. Als Belohnung nach dem Vogelschießen gab es nachweislich eine Kiste Bier, allerdings von geringerem Alkoholgehalt als das heutige.

Landsknechte als Ampelmännchen
Die alten Aufzeichnungen werden gehegt und gepflegt, lagern in Pappfoldern aus entsäuertem Papier, damit sie keinen Schaden nehmen. Wer das Stadtarchiv besucht, kann auch Fotos der Könige und Königinnen aus den letzten Jahrzehnten sichten und in der „Kiveling-Zeitung“ blättern, die in den 20er Jahren mit einem Umfang von zehn Blatt erschien und heute 300 Seiten dick ist.

Auch das Emsland-Museum im Ort hat sich ganz der Erinnerung an die jungen Helden verschrieben, die sich im Laufe der Jahrhunderte von der Bürgerwehr zum Heimatverein gewandelt haben. Der Thronschatz mit Königsketten aus fünf Jahrhunderten, mitsamt Schmuck und historischem Tafelgeschirr, ist dort zu
bestaunen.

Einmalig ist auch die Tradition der Kivelinge, die Unterstützung der Stadt mit einem originellen Geschenk zu honorieren. Das Emslandmuseum erhielt die Statue einer Landsknechtfigur, das Rathaus ein klingendes Glockenspiel. Die neueste Idee sind Ampelmännchen in Landsknechtuniform, die den Lingener Bürgern über die Straße leuchten. Die Genehmigung musste allerdings durch so viele Instanzen gepaukt werden, dass letztlich nur zwei dieser Lichtzeichen in der Innenstadt blinken. Im Kampf mit der Bürokratie sind die Kivelinge eben endgültig in der Gegenwart angekommen.


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