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Vor 200 Jahren fand die Uraufführung von Beethovens „Neunter“ statt – Der Schlusssatz war Olympia- und ist Europahymne
Am 7. Mai 1824 wurde im Kärntnertortheater in Wien Ludwig van Beethovens Neunte Sinfonie uraufgeführt. Das in
d-Moll komponierte und als Opus 125 geführte Werk wurde begeistert aufgenommen, es gilt heute als Höhepunkt klassischer sinfonischer Musik. Wegen ihres vierten Satzes mit dem Schlusschor der „Ode an die Freude“ ist „die Neunte“ wohl eines der bekanntesten sinfonischen Werke überhaupt.
Geradezu revolutionär war, dass zum ersten Mal in eine Sinfonie die menschliche Stimme aufgenommen wurde. Dem solistisch und chorisch gestalteten vierten Satz hat Beethoven Schillers Gedicht „An die Freude“ unterlegt. Dieses vom Dichter 1785 eher als geselliges Trinklied gedachte Gedicht war rasch populär geworden. Der junge Beethoven hatte sich schon 1792, noch in seiner Geburtsstadt Bonn, mit Schillers „herrlichem Gedicht“ befasst und eine Vertonung erwogen, diese Idee aber dann nicht weiterverfolgt.
Als nach dem Wiener Kongress sein Ruhm zu verblassen drohte, drängten ihn Freunde und Bewunderer zu einer neuen großen Sinfonie, was durch einen lukrativen Auftrag der Philharmonic Society in London bestärkt wurde. 1822 begann er mit der Arbeit, und Anfang 1824 war er fertig. Bei der Uraufführung kam es zu bewegenden Szenen. Der völlig taub gewordene Komponist, der vor dem Orchester stand, musste von einer Sängerin umgedreht werden, damit er den Beifall des Publikums wahrnehmen konnte. Es war sein letzter öffentlicher Auftritt.
Beethoven übernahm nicht alle acht Strophen des Schillerschen Gedichts, sondern nur vier. Dabei arrangierte er die Verse nach eigenem Ermessen und stellte ihnen das eigene Rezitativ „O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere“ voran. Kritiker bemängelten, dass man so mit „unserem Schiller“ nicht umspringen dürfe („misshandelt die Poesie auf eine unbegreifliche Weise“). Auch manche Komponisten reagierten zurückhaltend. Carl Maria von Weber meinte, Beethoven sei „reif für das Irrenhaus“.
Aber dem Siegeszug der Sinfonie tat das keinen Abbruch. Spätestens seit Richard Wagners epochaler Aufführung am Palmsonntag 1846 in Dresden (mit einer „großen und enthusiasmierten Masse von Sängern“) war das Werk kanonisiert und diente mehr und mehr als Rahmen festlicher Arrangements. Ähnlich auch in anderen Ländern, wobei Schillers Text oft genug dortigen ideologischen Ansprüchen galt. Die Verszeile „Alle Menschen werden Brüder“ diente in Frankreich zur Verklärung des republikanischen Gedankens, was eine französische Autorin 1883 begeistert ausrufen ließ: „Dieser Chor ist großartig! Ah! Es ist die Marseillaise der Menschheit!“ Der NS-Ideologe Alfred Rosenberg rekurrierte nach 1933 auf die Zeile „Freudig, wie ein Held zum Siegen“.
Musikalischer Knaller zu Silvester
Einen wahren Schub in die Breite bewirkte die deutsche Arbeiterbewegung. Die Sinfonie wurde regelrecht Kult.
Legendär wurde eine Aufführung am 18. März 1905 in einem Berliner Brauereisaal vor 3000 Arbeitern. Der Komponist Hanns Eisler postulierte im Jubiläumsjahr 1927 zu Beethovens 100. Todestag: „Er war kein Komponist des Proletariats, und doch gehört seine Musik uns, der aufsteigenden Arbeiterklasse, nicht aber der Bourgeoisie.“ Auch die Tradition der noch heute beliebten Aufführungen an Silvester geht auf die Arbeiterbewegung zurück: Erstmals wurde sie, als „Friedens- und Freiheitsfeier“ deklariert, 1918 vom Leipziger Arbeiterbildungsinstitut veranstaltet. Vor 3000 Zuhörern begann die Aufführung um 23 Uhr, der Schlusssatz leitete das neue Jahr ein.
Musikalisch hat Beethovens Vorbild Schule gemacht. Zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Einbeziehung der menschlichen Stimme kein Tabubruch mehr, wie mehrere Sinfonien von Gustav Mahler sowie der russischen Komponisten Alexander Skrjabin und Dimitri Schostakowitsch zeigen. Auch wurde es nicht als Stilbruch empfunden, als im Jahr 1989 der Komponist Leonard Bernstein unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer das Werk in Ost- und Westberlin dirigierte und die „Freude“ durch „Freiheit, schöner Götterfunken“ ersetzte. Das sei, sagte Bernstein damals, in diesem historischen Moment durchaus legitim.
Längst untermalt die Neunte auch die Politik. Schon 1837 hatte ein englischer Kritiker von der „großen Freimaurer-Hymne Europas“ gesprochen. Der immer wieder virulente Gedanke wurde nach dem Krieg verwirklicht. Ein Ausschuss des Europarats bestimmte auf einer Sitzung in Berlin am 9. Juli 1971 die Melodie des Schlusschors als Europahymne – nur die Melodie, nicht den Schillerschen Text („Konkurrent“ war Händels „Feuerwerkhymne“ gewesen). Herbert von Karajan wurde mit dem Arrangement einer passgerechten Fassung für politische Anlässe betraut – mit der für seine Nachkommen angenehmen Folge, dass für ihn beziehungsweise seinen Erben bis 2059 Tantiemen anfallen.
Im Jahr 2001 wurde das in Berlin bewahrte Manuskript zum UNESCO-Weltdokumentenerbe erklärt. Inzwischen hatte der „Song of Joy“ des Argentiniers Waldo de los Ríos Beethovens Neunte als Tanzmusikversion um den Globus geschickt.
Die Melodie half auch politisch. Mitte der 1950er Jahre begann das Gerangel um angemessene Teilnahme deutscher Sportler an den Olympischen Spielen. Die damalige Bundesregierung blockierte rigoros jeden Versuch einer eigenständigen DDR-Mannschaft. Nach endlosen „querelle d'Allemands“ kam es dreimal zur Bildung einer gesamtdeutschen Mannschaft: 1956 (Winter: Cortina d'Ampezzo/Sommer: Melbourne), 1960 (Squaw Valley/Rom) und 1964 (Innsbruck/Tokio).
Bei Siegerehrungen für deutsche Athleten wurde Beethovens Hymne gespielt – auch noch 1968, als erstmals zwei deutsche Mannschaften antraten.