Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Analyse eines bislang wenig beachteten Aspekts der Beteiligung nichtdeutscher Kollaborateure
Thomas Sandkühler ist Historiker und lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ein inhaltlicher Schwerpunkt seiner Forschungen ist die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten in Ostmitteleuropa, vornehmlich in Galizien. Dieser westliche Teil der Ukraine wurde nach dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 als Dis-trikt dem Generalgouvernement zugeschlagen, das aus den Distrikten Krakau, Warschau, Radom und Lublin bestand. Eine Karte hätte dies verdeutlicht.
Das Buch gliedert sich in drei Hauptkapitel mit jeweils zahlreichen Unterabschnitten, die wiederum einzelne Themen behandeln. Das erste Hauptkapitel lautet: „Der Tatort Besatzungspolitik und Judenverfolgung im Generalgouvernement Polen 1939–1942“. Unterabschnitte behandeln beispielsweise „Deportationen und Pläne für ein Judenreservat“, „Vernichtungskrieg gegen die Juden“ oder „Die Ermordung der sowjetischen Kriegsgefangenen“.
Die weiteren Hauptkapitel lauten „Die Ermordung der Juden 1942–1944“ und „Fremdvölkische Täter in Aktion 1942–1944“. Unter den 27 Untertiteln findet der Leser folgende Kapitel „Befehle zur Endlösung der Judenfrage“, „Erste Massendeportationen“, „Ukrainische Hilfspolizisten und die Deportation der Lemberger Juden“.
Gesondert werden die Lager Treblinka, Belzec und Sobibor behandelt. Sie waren das Zentrum eines Vernichtungsprogramms größten Ausmaßes. Hier wurden in den Jahren 1942/43 mehr Juden ermordet als in Auschwitz-Birkenau. Galizien um Lemberg war Zentrum des osteuropäischen Judentums, hier befand sich die Welt des Schtetl, die unwiederbringlich ausgelöscht wurde. Daneben stand die Großstadt Lemberg mit der drittgrößten jüdischen Gemeinde Polens. Alle Einzelbeispiele zeigen, dass Sandkühler die gesamte Bandbreite der Vernichtung von Juden, Polen sowie sowjetischen Kriegsgefangenen sehr genau schildert, und zwar von der Ideologie in Hitlers „Mein Kampf“ bis zur Durchführung.
Der Autor stützt sich auf eine erstaunlich breite Materialbasis. Davon zeugen die vielen Anmerkungen auf insgesamt
83 Seiten. Er hat zahlreiche Dokumente, Akten aus deutschen und russischen Beständen, ausgewertet, hat noch lebende Zeitzeugen aus Täter- und Opferkreisen befragt und konnte auch Fotos für sein Buch finden.
Diese zeigen fast ausnahmslos Motive aus den Lagern sowie Gruppen von wachhabenden SS-Angehörigen und Hilfspolizisten nichtdeutscher Herkunft. Es ist erstaunlich, wie genau Sandkühler Angaben über die Stärke der Wachmannschaften und ihre Herkunft macht. Er nennt Namen der Führungspersonen und ihre Tätigkeitsfelder, die unterschiedlichen Dienstgrade. Großen Raum nehmen Angaben über die riesigen Zahlen der Opfer, zumeist Juden und sowjetische Kriegsgefangene, ein.
Alle diese gesammelten „statistischen“ Angaben und Daten zeigen, dass die deutschen Besatzer, SS, Polizeieinheiten und auch Wehrmacht, im gesamten Zeitraum (1942–44) allein nicht in der Lage gewesen waren, die Einrichtungen und den Betrieb der Vernichtungsmaschinerie in Gang zu halten. Dazu mussten Hilfseinheiten herangezogen werden. Es waren Ukrainer, Litauer, Polen und politisch zuverlässige sowjetische Kriegsgefangene sowie auch Angehörige weiterer Nationen wie Franzosen, Ungarn und Rumänen im Einsatz. Die Befehlsgewalt aber lag eindeutig und klar bei den Deutschen, was sich etwa auch daran zeigte, dass der Schusswaffengebrauch bei den Hilfseinheiten reglementiert wurde.
Die Gesamtzahl der Täter des Holocaust wird auf 200.000 geschätzt. Es waren überwiegend Männer. Das deutsche Führungspersonal seien keine Randgestalten der Gesellschaft gewesen, sondern aus deren Mitte gekommen und nach dem Krieg wieder dorthin zurückgekehrt, sie seien überzeugte Nationalsozialisten gewesen. Antisemitismus war für sie Staatsräson.
Das führt, ohne dass es Sandkühler erwähnt, zum Problem der Schulddebatte nach 1945 in den westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland. Die Motive des Fußvolkes waren weniger ideologisch bestimmt. Es gab fanatische Antisemiten besonders in Ungarn, Litauen und auch in Polen, unter den sowjetischen Kriegsgefangenen waren nicht wenige Gegner des Sowjetsystems, das gilt auch für Überläufer, ansonsten waren es angepasste Kollaborateure und Menschen, die schlicht überleben wollten.
Bei den Größenordnungen der Täter und Opfer musste es trotz starker Versuche der Geheimhaltung unmöglich sein, die Öffentlichkeit in Deutschland zu täuschen. Alle Zahlen, Daten und sonstigen Angaben sind das Ergebnis einer systematischen Erforschung der Massenmorde am osteuropäischen Tatort. Diese Arbeit begann erst in den 1990er Jahren und ist noch lange nicht beendet. Der relativ späte Zeitpunkt hatte politische Gründe. Erst das Ende des Kalten Krieges ermöglichte es, an die sowjetischen Archive heranzukommen, die unverzichtbar sind; das gilt auch für noch lebende Zeitzeugen.
Das Buch ist keine leichte Lektüre angesichts der grauenhaften Tatsachen, die nüchtern geschildert und aufgelistet werden. Hinter jedem Einzelnen der ermordeten Millionen steht ein individuelles Schicksal, in dieser Größenordnung unfassbar. Wozu Menschen fähig waren, berichtet folgende Passage aus dem Buch: „Während der Ausbildung hatten die SS-Männer praktischen Unterricht im Töten von Menschen. Dazu wurden in das Lager Juden gebracht, die von den Auszubildenden während ihrer praktischen Schießübungen erschossen wurden.“ Das übersteigt menschliche Vorstellungskraft. Nach den Angaben des Autors waren die Täter russische Hilfskräfte. Die europäische Dimension des Völkermords begründet der Autor damit, dass es sich auf dem Höhepunkt um eine Endlösung der europäischen Judenfrage handelt mit breiter Beteiligung nichtdeutscher Hilfstruppen.
Wer sich ernsthaft mit diesem Thema von Schuld, Verantwortung, Wegducken beschäftigt, muss dieses Buch lesen, unabhängig vom Alter und zeitlichem Abstand zu den beschriebenen Ereignissen.