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Weltmeere

Die rätselhafte Wut der „freundlichen“ Meeressäuger

Wale und sogar Delfine attackieren immer öfter Boote und Menschen. Forscher erörtern ganz unterschiedliche Theorien über den Auslöser der wachsenden Aggressivität

Wolfgang Kaufmann
23.09.2023

Im Laufe dieses Jahres fanden immer wieder unerfreuliche Begegnungen zwischen Menschen und großen Meerestieren statt, wobei es sich bei den Letzteren weniger um Haie als um eigentlich als „freundlich“ geltende Angehörige der Familie der Delfine handelte.

Am 11. Juli attackierten Schwertwale der Art Orcinus orca, welche mit ihren sieben bis acht Metern Länge zu den größten Vertretern der Delfinartigen gehören, die 48 Meter lange Luxus-Segelyacht „Corsario“. Die Yacht war auf dem Weg nach Mallorca, wo sie an der Regatta „Copa del Rey“ teilnehmen wollte, und wurde von den Orcas erheblich beschädigt.

Neun Tage später traf es vor dem spanischen Küstenort Estepona das Segelboot „Kapote III“. Weil die Wale Teile des Steuerruders abbissen, musste die Jacht von der Küstenwache abgeschleppt werden. Und dann meldete am 25. Juli ein weiterer Teilnehmer der prestigeträchtigen Regatta um Mallorca, nämlich die portugiesische „Tiro“ unter Skipper Nuno Vasco Barreto, Orca-Attacken während der Passage der Straße von Gibraltar, bei denen erneut das Ruder zu Bruch ging.

Das Gleiche erlebte der französische Segler Phep Philouceros Mitte August vor Cabo de São Vicente an der äußersten Südwestspitze Portugals. Diesmal griffen fünf Orcas auf einmal an und demolierten das Ruder von Philouceros' „Oxygene“ binnen weniger Sekunden. Noch Schlimmeres widerfuhr der Besatzung der Schweizer Segelyacht „Champagne“ unter Werner Schaufelberger Anfang Mai auf der Fahrt nach Palma de Mallorca: Nachdem drei Orcas das Boot mehrmals mit voller Wucht gerammt hatten, sank es vor dem Hafen von Barbate westlich von Gibraltar.

„Irgendetwas ist passiert“
Derartige „Interaktionen“ wurden erstmals 2020 gemeldet. Seitdem registrierten die Arbeitsgruppe Orca Atlántica und die Cruising Association 470 Angriffe von Schwertwalen auf Segelboote, wohingegen die Zahl 2020 noch bei nur 52 lag. Dabei häufen sich die Vorfälle in den Sommermonaten, wenn die Orcas auf der Jagd nach Thunfischen durch die Meerenge von Gibraltar ins Mittelmeer ziehen.

Auch vom anderen Ende der Welt kamen Berichte über unübliche Verhaltensweisen von Meeressäugern. So machte ein rund zweieinhalb Meter langer Großer Indopazifischer Tümmler in Japan Schlagzeilen. Der Delfin „rempelte“ im seichten Wasser vor den Stränden der Stadt Fukui wiederholt Badegäste an, welche dabei zum Teil Verletzungen erlitten. Nach Angaben der lokalen Polizei ereigneten sich im Juli und August 17 solcher Angriffe. Das erinnert an Vorkommnisse, wie sie 2013 aus Irland gemeldet wurden. Damals brachte der Delfin „Dusty“ zwei Schwimmerinnen an der Küste vor dem County Clare mit Rammstößen Rippenfrakturen und ähnliche Blessuren bei.

Nun rätseln die Experten über die Ursachen dieses Verhaltens, welches für die Meeressäuger eigentlich untypisch ist. Dabei kommen sie auf ganz unterschiedliche Erklärungen. Der Delfinforscher Bruno Diaz meinte gegenüber der Nachrichtenagentur AP: „Viele Schäden sind wahrscheinlich von unreifen Teenager-Orcas verursacht worden, die sich rüpelhaft verhalten. Vielleicht haben diese Orcas einfach Spaß daran, Schaden anzurichten.“ Oder es handele sich um die Folge eines fehlgeleiteten Jagdtriebs.

Andere Meeresbiologen sehen die Schuld dagegen beim Menschen. María del Carmen Rodríguez vertritt die Ansicht, dass die Tiere gestresst seien, weil der Schiffsverkehr und damit auch die Lärmentwicklung unter Wasser nach der relativen Ruhe infolge der Corona-Pandemie wieder stark zugenommen habe. Rodríguez' Fachkollegin Eva Maria Carpinelli hält frühere Zwischenfälle mit Booten für die wahrscheinlichste Ursache der Attacken: „Diese Tiere lernen auf kultureller Ebene von einem Individuum zum anderen. Irgendetwas ist passiert – sie haben untereinander kommuniziert und gehen nun intensiv gegen Segelyachten vor.“

Sind Drogen im Spiel?
Im Falle des „missgelaunten“ Delfins vor Japan vermutet die deutsche Zoologin Bettina Wurche hingegen Ärger darüber, dass die Badegäste versucht hatten, den „niedlichen Flipper“ anzufassen oder aufdringlich aus der Nähe zu fotografieren. Außerdem gebe es bei Delfinen sexuell motivierte Annäherungen an Menschen, wie man sie beispielsweise auch von Hunden kenne.

Andererseits hat bislang keiner der in den Zeitungen zitierten Experten zwei weitere plausible Ursachen für das Verhalten der Meeressäuger zur Sprache gebracht. So könnten die Tiere ebenso durch den Zuwachs an immer neuen Offshore-Windkraftparks traumatisiert worden sein. Beim Bau und Betrieb dieser Anlagen wird nicht nur der Meeresgrund verwüstet, sondern auch die maritime Nahrungskette negativ beeinflusst.

Die Wirbelschleppen der gigantischen Windräder verändern die vorhandenen Strömungen sowie Schichtungen im Oberflächenwasser und verschieben damit dessen mittlere Temperatur und den Salzgehalt. Das wiederum wirkt sich auf die Verteilung des Planktons aus, welches am Anfang der Nahrungskette steht. Dazu kommt die Desorientierung der Meeressäuger durch den extremen Lärm bei der Errichtung der Windkraftanlagen.

Darüber hinaus setzt der Mensch der Unterwasserfauna auch dadurch zu, dass er immer wieder dafür sorgt, dass Drogen im Meer landen. Kokain und Marihuana aus Südamerika werden quer durch die Karibik in die USA geschmuggelt, und nach Europa gelangen die illegalen Suchtmittel vor allem über das Mittelmeer. Oft genug fliegen die Drogen dabei über Bord, wenn die Küstenwache naht. Da Kokain wasserlöslich ist, kann es leicht von Tieren aufgenommen werden. Bei Zebrafischen fanden Schweizer Forscher 2016 in einzelnen Körperteilen Konzentrationen des Rauschgifts, welche die für Menschen tödlichen Werte um das Tausendfache überschritten.

Das erklärt, warum der Meeresbiologe Tom Hird und die Umweltwissenschaftlerin Tracy Fanara Hammer- und Sandbankhaie in den Gewässern um die Florida Keys beobachteten, welche ungewöhnliche Verhaltensweisen zeigten. Allerdings wurden die Haie durch die mutmaßliche Drogenintoxikation nicht etwa aggressiv, sondern unsicher und langsam in ihren Bewegungen. Aber andere Tierarten reagieren möglicherweise anders.


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