20.04.2024

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Weihnachten

Die Schöne im Walde

Eine besinnliche Geschichte des ostpreußischen Erzählers Arno Surminski

Arno Surminski
20.12.2020

Er begegnete ihr auf einem Waldspaziergang. Hoch und hell der Himmel, flutende Wärme, duftendes Moos, von fern sangen Vögel. Sie stand am Rande einer Lichtung, umgeben von Brombeerranken.

„Zu Weihnachten müsste man dich in die Stube holen“, sagte er und schlug sich durchs Gestrüpp, um sie näher anzuschauen. Sie fühlte sich weich an, sah silbergrau aus und überragte ihn um einen Meter. „Du bist wirklich schön, zu Weihnachten werde ich dich holen“, sagte er und wunderte sich, warum er in sommerlicher Hitze an Weihnachten denken konnte.

Auf dem Heimweg fiel ihm ein, dass er noch nie einen Weihnachtsbaum besessen hatte. Er lebte seit Jahren allein, seine Wohnung war nicht groß genug, um sie mit einer drei Meter hohen Tanne zu teilen. Ja, wenn er Kinder hätte, Kinder brauchen so etwas. Er erinnerte sich blass der Weihnachtsfeste seiner Kindertage, die stets mit Tannenbaum gefeiert worden waren. Nun genügten ihm die Lichterketten in den Einkaufsstraßen, die glitzernden Bäume vor den Kaufhäusern und der eintönige Singsang der Weihnachtslieder neben den Registrierkassen. Seitdem er allein lebte, empfand er Weihnachten als ein graues, düsteres Fest, an dem nur andere ihre Freude hatten.

Ein Vogelnest in der Tanne

Aber nun, mitten im Sommer, diese Tanne. Er besuchte sie immer wieder, sah sie wachsen und kleine Zapfen treiben, die wie Schmuck an den Zweigen baumelten. Sie erschien ihm vollkommen wie kein anderer Baum. Weder kahle Stellen waren zu entdecken noch vertrocknete Ästchen.

„Es gibt nur wenige Bäume, die dir gleichen“, sagte er zu ihr, und es kam ihm vor, als nicke sie zustimmend. „Ich werde achtgeben müssen, dass dich nicht andere holen, weil du so schön bist. Schon im No­vember werde ich dich schlagen.“ Er stellte sich vor, sie zu schmücken. Engelshaar in die Zweige, weiße Wattebäusche ans Kleid, auf die Spitze wollte er eine goldene Krone setzen. „Dann wirst du noch schöner aussehen.“

Eines Tages entdeckte er in den oberen Zweigen ein Nest, sehr hoch, sodass er nicht hineinschauen konnte. Also setzte er sich ins Gras und wartete. Ein kleiner grauer Vogel erschien, hüpfte aufgeregt von Ast zu Ast, piepte hilflos und schlüpfte schließlich in das Nest. Ein gelber Schnabel und der Federbusch des Kopfes schauten heraus. „Dir gefällt die Tanne wohl auch“, sagte er zu dem Vogel.

Das Tier war ihm fremd. So grau und unscheinbar, so zitternd zerbrechlich. Die Bücher, die er befragte, sagten wenig über kleine graue Vögel, die in Tannenbäumen nisteten. Als die Jungen schlüpften, wurde es lebhaft in seiner Tanne. Sie sperrten ihre Mäuler auf und schrien, es war ein Kommen, Gehen und Rascheln in den Zweigen. Als die Kleinen sich aus dem Nest wagten, war es mit der Ruhe völlig vorbei. Sie umschwirrten die Tanne, taumelten unbeholfen von Ast zu Ast, stürzten auf den Waldboden, wo sie zitternd im Gras saßen. Einmal griff er einen hilflosen Vogel und trug ihn zurück ins Nest. Sicher sind es Zugvögel, dachte er. Zum Ende Sommers fliegen sie davon, ihr Nest wird leer, zu Weihnachten kann ich die Tanne schlagen.

Gibt es Konkurrenz?

Bei seinen Waldspaziergängen machte er regelmäßig Abstecher zu seiner Tanne und zu den grauen Vögeln, die in dem Baum ihr Zuhause hatten. Er beobachtete sie, studierte ihre Gewohnheiten, lauschte ihren Stimmen, versuchte sie zu zählen, was regelmäßig misslang, weil sie ständig durcheinander hüpften. Es hätte ihm einiges gefehlt, wenn sie im Spätsommer davongeflogen wären. Aber sie bevölkerten noch im September den Baum, saßen abwechselnd auf der Spitze und trillerten in den Wald hinein. Sie wurden so zutraulich, dass sie nicht davonflogen, wenn er kam. Sie kannten ihn.

Du kannst unmöglich eine Tanne schlagen, in der die Vögel ihr Zuhause haben, dachte er. Wenn sie nicht in den Süden fliegen, musst du dir einen anderen Baum suchen.

Nach dem Herbstregen entdeckte er in der Nähe seines Baumes Fußspuren. Jemand war um die Tanne gegangen, wie um sie anzuschauen, zu begutachten, ihren Wert zu taxieren. „Du hast noch andere Liebhaber“, sagte er lachend. Es wird so kommen, dass ein anderer den Baum schlägt und mit nach Hause nimmt, fiel ihm ein, und du findest nur noch einen kahlen Stumpf vor. Ob er ein Schild anbringen sollte? Diese Tanne gehört mir!

Im ersten Schnee sah sie wie verzaubert aus. Die Zweige neigten sich, als trügen sie Trauer. Wenn die Vögel umherhüpften, staubte das weiße Pulver zur Erde. „Dich braucht man nicht zu schmücken“, sagte er, „Du bist schön genug.“

Den Vögeln brachte er regelmäßig Körner und Brotkrümel, streute ihnen das Futter unter den Baum und sah zu, wie sie sich darüber hermachten. Wenn er kam, flogen sie ihm entgegen, sie saßen zu seinen Füßen. Als er ihnen Körner hinstreckte, fraßen sie ihm aus der Hand.

Wir gehören zusammen, dachte er, der Baum, die Vögel und ich. Der Wald wurde düsterer. Es wird Zeit, den Baum zu schla­gen, bevor ein Fremder es tut, dachte er. Die Vögel werden sich einen anderen Baum suchen müssen, oder sie fliegen doch noch in den Süden.

Eine Woche vor dem Fest besorgte er sich ein Beil, steckte es in einen Sack und ging, als der Abend dämmerte, in den Wald. Die Vögel erwarteten ihn, aber er hatte kein Futter für sie, er wollte nur die Tanne. „Ich muss es tun, bevor ein anderer dich schlägt“, sagte er so laut, dass die Vögel erschraken und davonflogen.

Eine wilde Entschlossenheit packte ihn. Er sah nur die Tanne, er wollte sie haben, ihm allein sollte sie gehören. Er warf das Beil ins Gras, nahm Platz, steckte sich eine Zigarette an, blies den Rauch so heftig in die Zweige, dass sie raschelten. Ruhig betrachtete er die Tanne. Wie majestätisch sie vor ihm stand. Ein Schauder lief ihm über den Rücken.

„Keiner wird einen solchen Baum haben. Du wirst die Stube füllen, das ganze Haus wird nach Tannengrün duften. Wir werden miteinander reden wie gute Bekannte. Über den Sommer werden wir sprechen, die kleinen grauen Vögel und über Weihnachten.“

Aber sie wird sterben, fiel ihm ein. Das ist nun mal so. Alle Weihnachtsbäume sterben mit einem letzten großen Fest. Die Nadeln vertrocknen, die Zweige werden kahl, auch die schönsten Bäume werden im Januar zum Fenster hinausgeworfen, damit die Müllleute sie aufsammeln und verbrennen.

„Wenn ich wüsste, dass kein anderer käme, würde ich dich stehen lassen“, sagte er zu ihr. „In einem Jahr siehst du noch schöner aus, und wir könnten wieder Weihnachten feiern.“ Mit einer Taschenlampe leuchtete er den Stamm ab.

„Niemand soll mir diese Tanne nehmen!“ rief er, kniete nieder und suchte die Stelle, an der er den ersten Schlag setzen wollte. Da hörte er aus der Ferne Stimmen. Jemand spazierte durch den Wald, kam näher, Zweige knackten. Er griff das Beil und kroch unter das schützende Dach seiner Tanne. Zum ersten Mal sah er sie von innen, umspannte mit den Händen den schlanken Stamm, griff in das ausgelaufene Harz, das an seinen Fingern kleben blieb und duftete.

Ein Hund kläffte, eine Stimme redete beruhigend auf das Tier ein. „Sieh mal den schönen Tannenbaum!“, sagte eine Frau. „Wie gut, dass er so versteckt steht, sonst hätte ihn längst jemand geschlagen.“

„Wir haben schon einen Baum“, antwortete der Mann. „Aber vielleicht hole ich ihn im nächsten Jahr. Er sieht wirklich gut aus.“ Als die Spaziergänger fort waren, kroch er aus seinem Versteck. Er spürte Schweiß im Gesicht, und die Hand, die das Beil führen sollte, zitterte.

„Heute kann ich dich nicht schlagen“, sagte er zu der Tanne. „Ich werde morgen kommen oder übermorgen. Warte auf mich.“ Auch am nächsten Tag brachte er es nicht über sich. „Am Heiligen Abend werde ich dich holen, das ist früh genug“, sagte er.

Am Heiligen Abend

Es kam der Heilige Abend, ein trüber Tag ohne Licht, auch fehlte es an Schnee. Er zog sich festlich an, setzte die Pelzmütze auf, streifte dicke Handschuhe über.

Während die anderen zur Kirche gingen, wanderte er in den Wald, unter dem Arm eine vollgestopfte Tüte und das geschärfte Beil. Die Tanne stand noch an ihrem Platz. Die Vögel kamen ihm entgegen. Er streute ihnen Futter auf den Weg.

„Heute ist Weihnachten“, sagte er zu den Vögeln und zu der Tanne. Dann nahm er Lametta aus der Tüte und hängte es in die Zweige. Der Spitze gab er einen silbernen Stern, rote Kerzen steckte er auf. Als sie brannten, färbte sich der Wald wie im Abendrot. Er setzte sich ins Moos und schaute zu ihr auf. Er fror überhaupt nicht, es war geradezu frühlingshaft mild. Dass sich Hasen und Rehe einfanden, um den geschmückten Baum zu bewundern, entsprach nicht der Wirklichkeit, sondern seinen Wunschvorstellungen. Auch der Chor, der von ferne Lieder sang, kam aus seinen Kindertagen, ebenso das Glockengeläute. Er war allein mit seiner Tanne, und es war sehr still. Nicht einmal die kleinen grauen Vögel sangen.

„Im nächsten Jahr feiern wir wieder Weihnachten“, sagte er zu ihr. „Und danach immer wieder, bis du so groß bist, wie ein Kirchturm und ich eines Tages nicht mehr zu dir kommen kann.“


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Kommentare

Micha Hausmann am 24.12.20, 20:48 Uhr

Einfach Schön!

Chris Benthe am 24.12.20, 15:59 Uhr

Eine wunderschöne Geschichte, die ganz tief das Herz und die deutsche Seele berührt. Das Bild von C.D. Friedrich dazu ist perfekt ausgewählt. Meinen Glückwunsch und meinen Dank dafür.
Allen Machern der P.A. ein schönes Weihnachtsfest und ein glückliches und ertragreiches Jahr 2021 !

sitra achra am 21.12.20, 12:19 Uhr

Der Ostpreuße, jedenfalls mein Vater, war wohl sehr naturverbunden.
Allen Lesern der one and only PAZ ein gesegnetes Weihnachtsfest!

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