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Nach dem Rückzug fast aller westlichen Firmen: Vom Autobau bis zur Getränkeherstellung muss die Regierung für Ersatzprodukte sorgen
Für viele Russen, vor allem in den luxusverwöhnten Städten Moskau und St. Petersburg, muss es ein Schock sein: Immer mehr westliche Firmen haben sich seit dem 24. Februar vom russischen Markt verabschiedet, die gewohnten Waren werden knapp und teuer. Fast alle Branchen sind von Importverboten und dem Weggang westlicher Firmen betroffen.
Nachdem der französische Autobauer Renault seine Anteile am russischen Konzern Avtovaz verkauft hat, droht dem Automarkt ein Rückschritt in sowjetische Zeiten. In der Moskauer Renaultfabrik sollen bald wieder Moskwitsch und Lada vom Band laufen. Allerdings werden diese Neuwagen dann ohne viel Schnickschnack auskommen müssen, sprich ohne Katalysator, ABS oder Airbags, denn es fehlen die benötigten Mikrochips.
Russland wird versuchen, einige seit Jahren brachliegende Wirtschaftszweige wiederzubeleben, etwa den Maschinenbau für die Öl- und Gasförderung, die Luftfahrt oder den Autobau. In den letzten 30 Jahren haben die Russen sich allerdings nicht um die Weiterentwicklung ihrer Produktionsstätten gekümmert, da es für sie aufgrund ihres Reichtums aus den Öl- und Gasverkäufen günstiger war, sich auf Importe hochwertiger Produkte aus dem Westen zu verlassen. Ebenso wie sich für den Westen der Verlass auf eine globalisierte Welt und kurzfristige Verfügbarkeiten rächt, bekommt Russland nun seine Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten zu spüren.
Abgetrennt von den bisherigen Lieferwegen, ist Russland gezwungen, sich auf die eigene Produktion der Vergangenheit zurückzubesinnen, was zu einer Primitivisierung der Produkte und zu technischem Rückschritt führen wird. Um etwa Flugzeuge vom Typ Tupolew auf den neuesten Stand der Technik zu bringen, wären mehrere Jahrzehnte Zeit und Zehntausende Spezialisten vonnöten.
Primitivisierung und Rückschritt
Inzwischen haben russische Unternehmer ausländische Waren unter Umgehung der Urheberrechte einfach kopiert. Aus Coca-Cola wurde „CoolCola“ oder „Komi-Cola“, aus Fanta „Fancy“ und aus Sprite „Street“. Die typischen Farben wurden beibehalten und die Logos ähneln denen der Originale. McDonalds soll angeblich zu „Onkel Wanja“ mit einem auf der Seite liegenden McDonalds-Logo werden. Teilweise wurden sogar die Inhaltsstoffe der Originale verwendet, die die West-Firmen in den Lagern zurückgelassen hatten.
Die Sanktionen treffen insbesondere die IT-Branche und den Bankensektor hart, was Auswirkungen auf alle anderen Bereiche hat. Die Banken arbeiten zu 80 Prozent mit importierter Digitaltechnik. Eine Umstellung auf heimische Anbieter stellt ein fast unlösbares Problem dar, da Ersatz für Microsoft und Co. erst entwickelt werden muss. Experten gehen davon aus, dass die Importsubstitution im IT-Bereich ein langer und teurer Weg wird. In den nächsten fünf bis zehn Jahren würden Milliarden Rubel nötig sein, um einen stufenweisen Umstieg zu ermöglichen.
Die digitale Infrastruktur ist völlig abhängig von ausländischen Ersatzteilen, Computer sind bereits Mangelware. Der jährliche Absatz von westlicher Digitaltechnik betrug bisher 7,5 Milliarden US-Dollar, der Verkauf aus heimischer Produktion etwa 500 Millionen Dollar. Der massenweise Weggang von IT-Spezialisten stellt eine besondere Herausforderung für die Zukunft der Branche dar. Fast alles, was heute in Russland hergestellt wird, hängt in der einen oder anderen Weise vom Weltmarkt ab, ob in der Medizin, bei Lebensmitteln, der Möbelbranche, dem Autobau oder dem Ölsektor. Die Folge ist, dass für den russischen Verbraucher alles teurer wird.
Hoffnungsträger Landwirtschaft
Da bereits die Hälfte der Agrartechnik in Russland hergestellt wird und sich seit 2013 die Produktion landwirtschaftlicher Geräte versechsfacht hat, setzt die Regierung große Hoffnung in die Landwirtschaft. Erste Erfolge zeigen sich bereits, wie das Beispiel des Königsberger Gebiets zeigt. In den vergangenen Jahren wurde die Agrarwirtschaft derart gefördert, dass das Gebiet sich inzwischen selbst versorgen kann und noch Kapazitäten für die Ausfuhr hat. Der Anteil der Agrartechnik aus russischer und weißrussischer Produktion, etwa bei Traktoren und Mähdreschern, liegt bei 70 Prozent. Der Einzelhandel sieht eine Chance für russische Hersteller. Bei gesundem Brot, pflanzlichem Ersatz für Fleisch und Milch, aber auch bei Gebäck und Tiefkühlkost könnten die Importe bald komplett ersetzt werden.
Was bleibt, sind Probleme bei der Beschaffung von Rohstoffen und der Einrichtung neuer Lieferketten. Alternative Absatzmärkte im Nahen Osten, am Persischen Golf und in Südostasien müssen noch erschlossen werden. Hierfür ist der Aufbau einer Infrastruktur vonnöten: Eisenbahnwege, Häfen und Röhren müssen erst noch gebaut beziehungsweise verlegt werden.
Frank Schmidt am 08.06.22, 08:18 Uhr
In Russland macht zur Zeit der Begriff der „Importsubstitution“ die Runde. Allerdings gilt vor allen Argentinien als abschreckendes Beispiel.
Im Peronismus der Nachkriegszeit setzte Argentinien auf eine Politik der Isolation, Abschottung und Autarkie. Was als „Importsubstitution“ propagiert wurde, meinte ein Verzicht auf weltweite Arbeitsteilung und eine Konzentration auf einheimische Herstellung von Gütern, selbst wenn das zu fehlendem Wettbewerb und steigenden Kosten führte. Damit einher ging – nahezu zwangsläufig – ein autoritärer Korporatismus, der Insider begünstigte und Außenstehende benachteiligte.
Mats Osrig am 04.06.22, 10:52 Uhr
Da ist doch viel Wunschdenken und Propaganda dabei, wenn der Eindruck erweckt wird, die Russen stünden vor dem technologischen Aus und wären auf dem Weg zurück in den Status eines Entwicklungslandes!
Russland hatte schon immer eine funktionierende Technologie-Wirtschaft, waren und sind in der Lage, in den Weltraum zu fliegen und hochkomplexe militärische Gerätschaften zu entwickeln und zu nutzen.
Zu denken, dass wäre alles nur Dank Microsoft und Co. möglich, ist ein Irrtum, denn in solchen Dingen waren die Russen schon immer misstrauisch und haben sich in entscheidenden Aspekten ihrer Sicherheit genauso wenig, wie die Amerikaner von fremder Technologie abhängig gemacht!
Und dort, wo sie westliche Technik benötigen, bekommen die Russen sie auch! In den Westmedien wird ständig von dem Embargo gesprochen, aber wie viele Länder tragen das Embargo denn mit? Ein kleiner Teil der Welt hat "die Schotten" gegenüber Russland dicht gemacht, der Rest - insbesondere China und Indien - machen weiter ihre Geschäfte!
Zweifellos wird Russland nun große Anstrengungen unternehmen, um die eigene Produktion von Waren und Dienstleistungen auf inländische Hersteller und Anbieter umzustellen, und das wird Zeit brauchen. Daraus den Untergang der russischen Wirtschaft zu ersehen, ist reichlich übertrieben!
Ein anderer Gedanke: Es ist offensichtlich, dass die russische Wirtschaft vom Boykott überrascht worden ist, auch wenn das wie geschildert m. E. NICHT den Untergang der russischen Wirtschaft bedeutet.
Wenn aber der Krieg gegen die Ukraine einem lange gehegten Plan folgt, warum ist die russische Wirtschaft nicht darauf vorbereitet worden?
Vielleicht musste die Entscheidung zum Kriege doch Hals-über-Kopf gefällt werden?
Bernhard Meier am 04.06.22, 06:17 Uhr
1. Dieser Beitrag berücksichtigt nicht die derzeit gut funktionierende Achse Russland -China.
2. China baut hochmoderne Autos und PCs, die auch auf dem Westmarkt erhältlich sind.
3. Dieser Beitrag geht davon aus, "mehr ist besser", während die UN bereits festgestellt hat, dass wenn in der Welt das Niveau von Europa wäre, wir 3,3 Erdplaneten brauchen. Vielleicht sollte sich eine "Neue Bescheidenheit" einstellen, um überhaupt überleben zu können!
H. Schinkel am 30.05.22, 20:35 Uhr
Das diese Primitivisierung so drastisch ausfallen wird, speziell bei der PKW Produktion, glaube ich gar nicht. Schließlich hat Russland China als "Verbündeten". Chips könnten sogar bevorzugt an Russland geliefert werden, auch das Know How des Fahrzeugbaus. Schließlich bauen viele westliche Firmen in China PKW´s und das Wort Urheberrecht kennen die Chinesen nicht.
Im IT Bereich gibt es genug Lösungen von Linux. Daher sehe ich auch das nicht als das große Problem. Die meisten Server und IT Anwendungen laufen eh mit Linux. So schwarz wie der Autor sehe ich also Russlands wirtschaftliche Zukunft nicht.
sitra achra am 30.05.22, 11:07 Uhr
Welcome back to stone age! Die russische Normalbevölkerung ist Kummer gewohnt. Das nationale Prestige, mit dem sie abgespeist werden, ersetzt das Wohlleben. Nur die Nomenklatura wird weiterhin auf geheimen Wegen den Zugang zu ihren Luxusartikeln finden und rauschende Feste in den Luxusbehausungen auf der Krim feiern.
E. Berger am 30.05.22, 07:40 Uhr
Es ist - glaube ich - nicht angemessen, jetzt mit Häme auf Russland zu gucken. Auch wir in Deutschland werden einen erheblichen Wohlstandsverlust hinnehmen müssen. Dieser wird vielleicht nicht so heftig ausfallen wie der in Russland, dafür ist die deutsche Leidensfähigkeit weniger ausgeprägt als die russische.
Und in wesentlichen Themenfeldern (Energieversorgung, Bildung, Zuwanderung (bzw. deren Folgen), Bürokratie usw) zeigen die Tendenzen steil nach unten.