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Angesichts des rapiden Anstiegs der AfD beteiligen sich Beamte aus dem Umfeld der etablierten Parteien immer wieder an Aktionen gegen die Oppositionspartei – und verstoßen damit gegen das für sie bestehende Neutralitätsgebot
Am 17. November 2025 hat das Verwaltungsgericht Oldenburg in einem viel beachteten Urteil entschieden, dass ein Teil der Aussagen des ehemaligen Polizeipräsidenten der Polizeidirektion Oldenburg, Johann Kühme, im Zusammenhang mit der AfD in Niedersachsen das neutrale Handeln staatlicher Institutionen verletzt. Kühme hatte die AfD im August 2023 in einem Zeitungsinterview als „Gefahr für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung“ bezeichnet. Die Partei täusche „die Bürger bewusst und perfide mit ihrem Lügenkonstrukt“, um „Unsicherheiten und Ängste in der Bevölkerung zu schüren“. Damit, so der hohe Polizeibeamte, stelle sich die AfD gegen die Arbeit der Polizei, weil diese die Verpflichtung habe, dass die Bürger sich sicher fühlen können.
Es gibt ohne Zweifel Vieles, was man dem „gärigen Haufen“ AfD – um ein Wort des Parteigranden Alexander Gauland über seine eigenen Parteifreunde aufzugreifen – vorwerfen kann. Fingerspitzengefühl und diplomatisches Geschick gehört nicht dazu, wie die Statistiken zu Ordnungsrufen in den Parlamenten oder fragwürdige Auslandsreisen beispielsweise nach Russland belegen.
Doch auch wenn man mit guten Gründen sich selbst gegen diese Partei positionieren mag, ist eine deutliche Zunahme von Ereignissen, die Verletzungen des staatlichen Neutralitätsgebots und des vom Grundgesetz geschützten Parteienprivilegs nach Artikel 21 Grundgesetz darstellen, nicht mehr zu übersehen. Der Fall Kühme ist insoweit kein Einzelfall, sondern steht vielmehr in einer langen, sich kontinuierlich vertiefenden Konfliktlinie zwischen Verfassungsrecht und Verwaltungspraxis.
Das Gebot zur Neutralität des Staates
Angesichts der aktuellen Entscheidung ist es lohnend, die Entwicklung dieses Gebots historisch nachzuzeichnen – von den frühen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bis zur jüngsten Rechtsprechung – und seine Bedeutung für eine funktionierende Demokratie neu zu beleuchten.
Neutralität als solche steht nicht im Grundgesetz. Weder „neutral“ noch „Neutralität“ tauchen ausdrücklich in den Artikeln der Verfassung auf. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht in langjährigen Entscheidungen ein verpflichtendes, verfassungsrechtlich schlagkräftiges Prinzip geformt – zunächst mit Blick auf staatliche Öffentlichkeitsarbeit, später erweitert auf Äußerungen von Amtsträgern, sogar im laufenden Meinungskampf im Zusammenhang mit Wahlen.
Ein Meilenstein war die Entscheidung von Karlsruhe aus dem Jahr 1966. In dieser Grundsatzentscheidung (BVerfGE 20, 56) zur staatlichen Informationsarbeit formulierte das Gericht erstmals verbindliche Kriterien für sachliche, objektive Öffentlichkeitsarbeit. Es ging darum, dass der Staat seine Bürger informieren darf – aber ohne Parteipropaganda. Die Richter verlangten einen objektiven Ton, keine einseitige Vereinnahmung.
Später, im Bundestagswahlkampf 1976, entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Bundesregierung gegen das Neutralitätsgebot verstoßen hat, weil sie mit Steuermitteln Anzeigen schaltete, die stark auf positive Regierungsleistung abzielten – und diese Druckschriften teilweise direkt in den Wahlkampf der sie tragenden Parteien (SPD/FDP) flossen (BVerfGE 44, 125). Das Gericht betonte in der Urteilsbegründung, dass die Staatsorgane „als solche“ nicht parteiergreifend zugunsten oder zulasten einer Partei werben dürften, weil damit die Chancengleichheit der Parteien und die Integrität der Willensbildung verletzt würden. Eine einmal an die Macht gelangte Partei soll diese Macht gerade nicht dazu nutzen dürfen, für sich selbst zu werben und sich so den Wählerwillen manipulierend von politischen Mitbewerbern abzusetzen.
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) wurde diese Linie später bekräftigt: 2017 formulierte Karlsruhe, das Neutralitätsgebot folge „aus dem Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG) ... das gilt nicht nur im Wahlkampf, sondern darüber hinaus auch für den politischen Meinungskampf und Wettbewerb im Allgemeinen.“ Erneut wird so das zentrale Prinzip betont: Der Staat darf nicht mit seiner Autorität, seinen Mitteln und seinem Gewicht im demokratischen Wettbewerb eingreifen – und zwar nicht nur vor Wahlterminen, sondern generell.
Strukturgebendes Prinzip des demokratischen Staates
Mit der Zeit hat die Rechtsprechung allerdings das Neutralitätsgebot in der Rechtsprechung zunehmend ausdifferenziert: Es ist nicht mehr eine bloße allgemeine Forderung, sondern ein strukturgebendes Prinzip mit detaillierten Anforderungen, je nach Kontext.
Der Politikwissenschaftler und Verfassungsrechtler Rainer Eckertz beschrieb in einer Analyse: „Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung hat das Prinzip der staatlichen Neutralität schrittweise und fallbezogen zu einem verfassungsrechtlichen Maßstab ausgebildet“, es sei „bereichsspezifisch konkretisiert“.
So hat das Bundesverfassungsgericht etwa klargestellt, dass nicht nur Ministerien im Wahlkampf neutral sein müssen, sondern auch staatliche Einrichtungen wie Schulen. Das heißt: Neutralität betrifft nicht nur parteipolitische Kommunikation, sondern auch weltanschauliche Neutralität an Bildungseinrichtungen. Das Neutralitätsgebot äußert sich insoweit auch in dem Gebot zur Mäßigung und Zurückhaltung nach § 33 Beamtenstatusgesetz. Das Gebot verlangt die Zurückhaltung auch außerhalb des Dienstes.
Eine gewisse Zwickmühle ist dabei für Beamte nicht zu übersehen: Einerseits müssen sie unparteiisch agieren, andererseits haben sie als Beamte auch eine Verpflichtung gegenüber der Verfassung selbst – insbesondere, wenn demokratische Grundwerte gefährdet werden. Das Neutralitätsgebot birgt insoweit ein Erpressungspotential, wenn politische Gegner die Pflicht zum „Schweigen“ instrumentalisieren könnten.
Beamte im Dienst der „Brandmauer“?
In den letzten Jahren hat die Bedeutung des Neutralitätsgebots durch das Aufkommen der AfD eine neue Dringlichkeit bekommen. Die staatsrechtliche Diskussion erlebt einen sprunghaften Wandel, weil immer häufiger Behördenleiter, Minister oder Sicherheitsbehörden in direkte Auseinandersetzung mit dieser Partei treten – und anschließend ihre etwaige Verletzung der Neutralitätspflicht geprüft wird. Bestes Beispiel dafür ist ein öffentlicher Auftritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die am 6. Februar 2020 von Südafrika aus die von der AfD unterstützte Wahl des FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen scharf kritisierte und (mit Erfolg) die Rückgängigmachung der Wahl einforderte. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Juni 2022 die Verfassungswidrigkeit dieser Äußerung wegen Verstoßes gegen das Parteienprivileg festgestellt.
Ein aktuelles Beispiel ist ein Urteil gegen einen Hamburger Bezirksamtsleiter, der die AfD in einer Bezirksversammlung als „Bruder im Geiste von Putin“ bezeichnet und als „Feinde der Demokratie“ deklariert hatte. Auch hier stellte das Gericht eine Verletzung der Neutralitätspflicht fest.
Die Beispiele zeigen, dass die Justiz in Zeiten der gegen eine an Relevanz immer weiter zunehmenden Partei errichteten „Brandmauer“, die einen vernunftbasierten Austausch und eine abwägende parlamentarische Kooperation unmöglich macht sowie eher als gegenseitiger Treiber von Hass und Ablehnung wirkt und so immer wieder auch zu angreifbaren Handlungen von Behörden und Amtsträgern führt, heute sehr sensibel abwägen muss zwischen legitimer Meinungsfreiheit von Amtsträgern und deren Pflicht, im Amt neutral zu agieren.
Auch die Wissenschaft mag sich nicht mehr in Gänze raushalten aus dem Dilemma, der AfD zumindest indirekt beispringen zu müssen. So warnte der Staatsrechtler Volker Boehme-Neßler von der Universität Oldenburg, dass öffentliche Kampfansagen des Verfassungsschutzes an die AfD parteipolitisch motiviert sein könnten und damit das Neu-tralitätsgebot verletzt würde.
Kritiker an dieser Auffassung wettern wiederum gegen eine zu starre Interpretation des Neutralitätsgebots. „Das alles ist ein fatales Missverständnis des staatlichen Neutralitätsgebotes: Es wird so ausgelegt, als ob es quasi keine Kritik an einer Partei geben dürfe, die in Teilen verfassungsfeindlich ist“, formuliert etwa Valerie Schönian pointiert in der Wochenzeitung „Die Zeit“.
Klarstellung in Zeiten der Versuchung
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg könnte zu einem wichtigen Markstein werden. Denn während im politischen Berlin CDU-Parteichef Friedrich Merz von seiner eigenen Jugendorganisation herausgefordert wird und die Koalition von Zerreißprobe zu Zerreißprobe eilt, beweist die Justiz, dass der Rechtsstaat keine Bühne für parteipolitische Agitation ist, sondern einen Rahmen für einen fairen, gleichberechtigten Wettstreit bietet, eine Instrumentalisierung der Justiz also nicht gesichert ist. In diesem Lichte dürfte auch die Äußerung des SPD-Innenpolitikers Sebastian Fiedler, der jüngst in einem Interview erklärte, dass Beamte auf das Grundgesetz verpflichtet sind und dann fragte, ob sie im Falle eines Wahlsiegs der AfD in Sachsen-Anhalt „Extremisten sensibelste Daten überlassen“ oder „lieber auf die Löschtaste drücken“ sollten, als Aufforderung zu Straftaten gesehen werden, die weit über Verletzungen gegen das Neutralitätsgebot hinausgehen.
Die Neutralitätspflicht ist kein Feigenblatt, sondern ein Fundament der Demokratie. In einer Zeit, in der Populismus, Polarisierung und Misstrauen wachsen, sind die Gerichte gefordert, das Gleichgewicht zu wahren: Meinungsfreiheit muss auch für Beamte möglich bleiben – den Anlass dafür dürften AfD-Politiker wohl auch in Zukunft immer wieder liefern. Andererseits ist unbedingt zu verhindern, dass der Staat selbst zum Akteur im parteipolitischen Wettbewerb wird. Dieses Prinzip wird dann auch die AfD lernen müssen, sollte sie in den kommenden Jahren in einzelnen Bundesländern an die Macht gelangen.
Die Oldenburger Entscheidung ist insoweit ein Bekenntnis für den rechtsstaatlichen Kern der Demokratie, für einen spröde und neutral agierenden Staat, der sich aus parteipolitischem Geplänkel heraushält, soweit dieses nicht selbst Gesetzesverstöße beinhaltet. Der Staat hat, so die Botschaft, ein Diener aller Bürger zu sein, nicht nur seiner Machthaber. Eigentlich sollten solche Urteile das zuletzt vielerorts weggebrochene Vertrauen in den Staat wieder stärken helfen.