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Der ehemalige Diplomat Walter J. Lindner hat das Land kreuz und quer bereist – er wirbt dafür, Indien trotz seiner Schattenseite optimistisch zu sehen
Indien ist mit fast 1,5 Milliarden Menschen das bevölkerungsreichste Land und, so sieht es sich selbst gern, die „größte Demokratie“ der Welt. Der frühere Diplomat Walter J. Lindner war auf seinem letzten Posten von 2019 bis 2022 deutscher Botschafter in Delhi. In seinem Buch „Der alte Westen und der neue Süden“ zieht er ein geradezu spannendes Resümee, das den Leser bis zuletzt fesselt. Indien, so sagt er, werde mehr und mehr die Stimme des globalen Südens, der sich vom Westen abgrenzt und eigene Wege sucht. Europa und auch Deutschland täten gut daran, jede Belehrung zu unterlassen.
Lindner hat das riesige Land unentwegt bereist und dabei faszinierende Eindrücke gewonnen. „In Indien ist alles richtig – auch das Gegenteil“, sagt er: unermesslicher Reichtum neben himmelschreiender Armut (40 Prozent der Menschen, 15 Prozent unterernährt, fast 90 Prozent ohne soziale Absicherung, 20 Prozent Analphabeten), katastrophale Umweltbelastungen neben modernstem „Silicon Valley“ (Bangalore), atemberaubende Tempel und Paläste neben endlosen Elendsvierteln, modernes Leben in den großen Städten und zugleich das lähmende, schier unüberwindliche Kastensystem. Vielleicht am bedrückendsten: Die nach wie vor oft grausame Situation der Frauen, die, oft früh verheiratet, in der Wohnung der Schwiegermutter geradezu eingesperrt und entmündigt leben. Um das trübe Bild etwas abzuschwächen, bringt Lindner Beispiele erfolgreicher Unternehmer- und Politikerinnen, die sich beinahe übermenschlich ein menschenwürdiges Dasein erkämpft haben.
Der Leser erlebt die eisigen Pässe im Norden, die hitzeflimmernden Sandwüsten im Westen, die malerischen Strände am Indischen Ozean (Goa), Indiens Kulturhauptstadt Kalkutta, die religiösen Riten an Ganges und Brahmaputra. Und immer wieder die Frage an die Politik: Wie hält man ein Land mit 780 Sprachen zusammen? Wie setzt man Reformen durch? Was erreichen deutsche Investitionen?
Der Autor verschweigt die Schattenseiten des Landes nicht, doch setzt er auf Optimismus. Mitunter denkt man doch, das Bild sei angesichts vieler Konflikte zu positiv. Die Gegensätze zwischen Hindus und Moslems, die jeden Besucher sofort ins Auge springende Armut, der anhaltende Konflikt mit Pakistan. Aber darin muss man dem Autor wohl recht geben: Indien hat die Funktion, „Brücke“ zu sein: „Es bringt alles mit, was es braucht, um den alten Westen und den neuen Süden zu verbinden.“
Walter J. Lindner: „Der alte Westen und der neue Süden. Was wir von Indien lernen sollten, bevor es zu spät ist“, Ullstein Verlag, Berlin 2024, gebunden, 320 Seiten, 24,99 Euro