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Kurz vor ihrer letzten Fahrt: Die „Estonia“ im Hafen der estnischen Hauptstadt Reval (Tallinn). Kurz darauf sank das Schiff und liegt nun  seit 30 Jahren auf dem Grund der Ostsee
Foto: picture-alliance/ dpa/Li_SamuelsonKurz vor ihrer letzten Fahrt: Die „Estonia“ im Hafen der estnischen Hauptstadt Reval (Tallinn). Kurz darauf sank das Schiff und liegt nun seit 30 Jahren auf dem Grund der Ostsee

„Estonia“

Die Wahrheit liegt auf dem Meeresgrund

Das schwerste Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte ereignete sich vor 30 Jahren auf der Ostsee. Bis heute bewegt es die Gemüter

Ute Eichler
24.09.2024

Auf Estlands zweitgrößter Insel Dagö (Hiiumaa), an der Spitze ihrer nördlich gelegenen Halbinsel Tahkuna, auf welcher der gleichnamige Leuchtturm steht, befindet sich ein emotional besonders ansprechendes Denkmal für die Toten der größten zivilen Schiffskatastrophe in der Ostsee nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wurde errichtet an der Stelle der estländischen Küste, die der Unglücksstelle am nächsten liegt. Vier schmale Stahlträger ragen aus einem Haufen kleiner und größerer Findlinge heraus. In neuneinhalb Metern Höhe werden sie von einem offenen Quadrat ebenfalls schmaler Stahlträger abgeschlossen. Darin befindet sich ein Kreuz, an dem eine frei schwingende Glocke aufgehängt ist. Man darf sie anschlagen, um den Toten näher zu kommen. Bei jedoch genau der Windstärke, die in der Untergangsnacht der „Estonia“ vom 27. zum 28. September 1994 herrschte, fängt die Glocke von selbst zu schwingen an. Die Glocke wird von den Trauernden als „Seelenglocke“ bezeichnet. Dieses Denkmal ist besonders den bei dem Unglück ums Leben gekommenen Kindern gewidmet. Nur ein einziges hat überlebt.

In Estlands Hauptstadt Reval (Tallinn) erinnert unweit des Wehrturms „Dicke Margarete“ die vom estnischen Bildhauer Villu Jaanisoo 1996 geschaffene Granitskulptur „Unterbrochene Linie“ an die Katastrophe, die das Land schwer traf. Auf ebenfalls schwarzem Granit sind die Namen aller 852 Todesopfer verewigt. 1994 hatte Estland 1,2 Millionen Einwohner, davon sieben Zehntel ethnische Esten. In Estland gibt es niemanden, der nicht direkt oder indirekt von diesem Ereignis betroffen ist und bis heute Trauer und Verlust spürt.

In besonderem Maße gilt dies für Werro, eine Kleinstadt im Südosten Estlands. Von den damals rund 15.000 Einwohnern sind 70 Bürger durch die „Estonia“-Katastrophe aus dem Leben gerissen worden.

Estland trauert bis heute
Auch auf der größten Insel Estlands, Ösel (Saaremaa) wird der umgekommenen Inselbewohner gedacht – mit einer Gedenkstätte an der Nordküste, die der Route des Fährschiffes „Estonia“, das seit 1993 unter diesem Namen sowie zu dieser Zeit als das größte und modernste Schiff unter estnischer Flagge auf dem Liniendienst zwischen Reval und Stockholm fuhr, am nächsten liegt.

Weitere „Estonia“-Gedenkstätten gibt es in Schweden. An Bord der „Estonia“ befanden sich zum Zeitpunkt des Unterganges 989 Menschen. Die Passagiere und Besatzungsmitglieder kamen aus insgesamt 17 Ländern, doch sind, wenn es um die Herkunft der Opfer geht, Estland und Schweden am stärksten betroffen.

Es gab nur 137 Überlebende der Katastrophe. 95 Menschen wurden tot geborgen. Sie waren bei 13 Grad Celsius Wassertemperatur und hohem Wellengang ertrunken oder in den Rettungsinseln durch Unterkühlung gestorben. Das Wrack des gesunkenen Schiffes birgt mehr als 750 Tote. Der Plan der Einsargung des havarierten Fährschiffes wurde nur ansatzweise umgesetzt. Die Betonierung hätte Kosten von 65 Millionen D-Mark erfordert und – vor allem – hätte sie weitere Untersuchungen des Wracks zur Feststellung der Unglücksursache unmöglich gemacht. So schlossen acht Ostseeanrainerstaaten ein Bannmeilenabkommen. Deutschland trat diesem Abkommen nicht bei. Das Wrack steht als Ruhestätte unter Schutz, es darf nicht von Tauchern aufgesucht werden. Es befindet sich in internationalen Gewässern in 80 Metern Tiefe.

Die „Estonia“ war 1979/80 als RoRo-Schiff auf der Meyer Werft in Papenburg für die finnische Reederei Sally AB für den Verkehr zwischen Finnland und Schweden gebaut worden. Ihr Einsatz nur in küstennahen Gewässern erklärt die eingeschränkten Sicherheitsauflagen. Ab dem 1. Februar 1993 jedoch querte sie täglich die Ostsee im Liniendienst zwischen Reval und Stockholm.

Unbefriedigende Ursachenforschung
Der drei Jahre nach dem Unglück vorgelegte Untersuchungsbericht zur Ursache nennt Mängel am Bugvisier des Schiffes als Auslöser. Das 55 Tonnen schwere Bugvisier brach in dieser Sturmnacht des 28. September 1994 und versank. Eindringendes Wasser ließ darauf das Schiff in etwa einer halben Stunde sinken. Also ein Konstruktionsfehler? Dies haben spätere Untersuchungen und Gutachten verneint. Doch ein Bombenattentat? Es gibt Vermutungen und Hinweise, wie zum Beispiel auf zwei große Löcher in der Außenhaut des Wracks. Oder hat sich eine Kollision mit einem U-Boot ereignet? Der 2023 veröffentlichte neue Untersuchungsbericht, den Finnland, Schweden und Estland in Auftrag gegeben hatten, gibt keine neuen Antworten auf die vielen ungeklärten Fragen.

Die deutsche Journalistin und Filmproduzentin Jutta Rabe, die bis 2002 in allein 14 TV-Dokumentationen und Reportagen allen Aspekten dieser Schiffskatastrophe nachgegangen ist, sieht in ihr „die klare Handschrift von Militärgeheimdiensten“. In ihrem in ebendem Jahr erschienenen und bis heute den Leser aufregenden Buch „Die Estonia. Tragödie eines Schiffsuntergangs“ dokumentiert sie ihre durch akribische Recherchen gewonnene Überzeugung: Die wahre Ursache des Untergangs soll verborgen bleiben, die Schuldigen werden von offizieller Seite gedeckt.

Verarbeitung in Kunst und Kultur
Ähnliches schlussfolgert ihr Kollege, der dänische Journalist Peter Holm, der in seinem 1999 erschienen Roman „Der Untergang der Estonia“ im freien Umgang mit den Fakten die Schiffskatastrophe nachzeichnet und mögliche Hintergründe benennt.

Anfang 2024 erschien ein weiterer Roman, der im Kontext zum „Estonia“-Unglück steht: „Estonia – Eine Nachtfahrt“ von Rolf Stolz. Wieder kann mit Hilfe von Fakten und ungeklärten Fragen eine spannende doppelbödige Handlung mit tragischem Ausgang erzählt werden.

Auf Jutta Rabes Buch beruht der hervorzuhebende Film „Baltic Storm“ aus dem Jahr 2003. Die Journalistin hat nicht aufgehört, Nachforschungen zu betreiben, unbequeme Fragen zu stellen und viele Puzzleteile zusammenzutragen. Sie ist auf Widersprüche gestoßen, auf Unterlassungen und Fehlentscheidungen. Sie entlarvte Vertuschungsversuche genauso wie das Vernichten von Beweisen oder die Beeinflussung von Zeugenaussagen.

Weniger bekannt ist, dass das „Estonia“-Unglück auch in Kompositionen und Liedern verarbeitet wurde. Der Este Veljo Tormis komponierte ein Stück für achtstimmigen Männerchor. Der Finne Jaakko Mäntyjärvi widmete 1997 den Toten der Fährschiffkatastrophe das Chorwerk Canticum Calamitatis Maritimae. Auch in Songs der Popmusik hat das Schiffsunglück als Thema Einzug gehalten.

2008 erschien das Hörspiel „Der Untergang der MS Estonia“ von Jan Gaspard, das als Ursache eine absichtliche Versenkung angibt.

Es wird keine Ruhe geben, solange nicht auf alle offenen Fragen überzeugende Antworten gefunden werden. Das ist gut – der vielen Toten und ihrer Angehörigen wegen und auch für die Überlebenden, die ein Anrecht auf die Wahrheit haben. Noch liegt diese auf dem Meeresgrund.


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Kommentare

Kersti Wolnow am 01.10.24, 08:20 Uhr

Danke, liebe Frau Eichler, daß Sie sich ebenso wie Jutta Rabe des Themas annehmen, deren sehr lebendiges Interview ich gestern mit Dirk Pohlmann 1 Stunde und 11 Minuten auf "apolut" angehört habe. Geheimdienste sind anscheinend geheim, weil sie kriminell sind, denn die Unterlagen des Unglücks der "Estonia" sind für IMMER in den Archiven der USA verschwunden.
Dazu gehören noch Morde an Zeugen und der Transport von Militärmaterial auf einem Zivilschiff, was weltweit verboten ist.
Mich regen schon all die Archive zum II.WK und der NSU auf, welches Recht nehmen sich die Herrschenden, die Wahrheit über Generationen zu pachten und der Gesellschaft vorzuenthalten. Es sind Lüge und Verbrechen, sonst wären die nicht als geheim eingestuft. Die Wahrheit scheute noch nie das Licht.

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