06.05.2025

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Sinnbild eines geographischen und ideellen Verlustes: Das Denkmal für Reichsgründer Bismarck auf dem Königsberger Kaiser- Wilhelm-Platz am Ende des Zweiten Weltkriegs
Bild: Bildarchiv Ostpreußen/J. KostjashovSinnbild eines geographischen und ideellen Verlustes: Das Denkmal für Reichsgründer Bismarck auf dem Königsberger Kaiser- Wilhelm-Platz am Ende des Zweiten Weltkriegs

Erinnerungskultur

Dimensionen eines historischen Verlusts

Das Kriegsende vor 80 Jahren und die deutsche Identität

Klaus Weigelt
06.05.2025

Alfred Grosser kam 1952 bei der Analyse der Problematik der Oder-Neiße-Linie und der Vertreibungen zu dem Fazit: „Gewiß war die endgültige Festlegung der Grenze einem zukünftigen Friedensvertrag überlassen, aber die Duldung der Vertreibung aus den polnisch verwalteten Gebieten – samt Aufnahme so vieler Flüchtlinge in der englischen und amerikanischen Zone – entsprach einer Anerkennung der Endgültigkeit. Die ausdrückliche Anerkennung hatte nur de Gaulle in Moskau im Dezember 1944 ausgesprochen.“ (Alfred Grosser, Mein Deutschland, München 1996). Eine Deutschlandkarte von 1946 mit den vier Besatzungszonen zeigt denn auch exakt das „geeinte“ Deutschland von 1990.

Konrad Adenauer hatte in seinen Schlussworten im Parlamentarischen Rat ausgeführt, „daß wir durch unsere Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Wiedervereinigung des ganzen deutschen Volkes und auch zur Rückkehr unserer Kriegsgefangenen und Verschleppten leisten. Wir wünschen und hoffen, daß bald der Tag kommen möge, an dem das ganze deutsche Volk wieder vereint sein wird.“ (Konrad Adenauer, Erinnerungen, Band 1). Nicht erwähnt hatte Adenauer, dass in dem von ihm geleiteten Parlamentarischen Rat von 70 Mitgliedern nur drei (!) aus dem deutschen Osten stammten.

Einheit des Volkes oder des Landes?
Die Formel von der „Wiedervereinigung des ganzen deutschen Volkes“, die auch Eingang ins Grundgesetz gefunden hat, anstelle der „Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands“, entband den späteren und alle folgenden Kanzler von der Verpflichtung, eine Wiedervereinigung Deutschlands mit allen territorialen Implikationen zu thematisieren. Durch Flucht und Vertreibung von vielen Millionen Menschen befand sich das „ganze deutsche Volk“ mit Ausnahme der Verschleppten und Kriegsgefangenen im Wesentlichen auf dem Gebiet der vier Besatzungszonen, von wenigen in der Heimat Verbliebenen abgesehen.

So wurde der Terminus „Wiedervereinigung“ von Anfang an missverständlich beziehungsweise ambivalent interpretierbar: Während die nationale und vor allem die internationale Politik sich auf die kleine Vereinigung von Bundesrepublik und DDR festlegte, glaubten die Heimatvertriebenen aus dem Osten, die das „Recht auf die Heimat“ als ihr im Grundgesetz verbrieftes „Selbstbestimmungsrecht“ interpretierten, lange Zeit an eine Wiedervereinigung einschließlich der Ostgebiete, aus denen sie stammten. Dass 1990 nach dem Grundgesetz „in freier Selbstbestimmung“ das deutsche Volk seine Wiedervereinigung erlebte und dabei die Ostgebiete mit dem Königsberger Gebiet preisgab, lag von Anfang an in der Logik dieser von Adenauer angelegten Semantik.

Nur einmal war Königsberg nach Potsdam im Sinne eines deutschen Interesses auf internationaler Ebene aufgetaucht. Bei den Verhandlungen über den Deutschlandvertrag im Jahre 1951 gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen den Hohen Kommissaren und Adenauer bezüglich Art. 7, Abs.1: „Die Vertreter der drei Mächte erklärten dem Bundeskanzler, daß, wenn sie von der Einigung Deutschlands sprächen, ‚sie sich auf die Vereinigung der Ostzone und Berlins mit der Bundesrepublik und auf gar keinen Fall auf die Territorien jenseits der Oder-Neiße-Linie bezögen.' Adenauer habe darauf sehr scharf reagiert.“ Hier wurde also über den Gesamtbereich der deutschen Ostgebiete einschließlich Königsbergs gesprochen. Jedoch: „Weder Adenauer noch die Hohen Kommissare waren bereit einzulenken. ‚Das Problem war zu grundsätzlich, als daß man es durch eine Formel hätte überbrücken können.'“

Die westlichen Hohen Kommissare vertraten also klar die Position der nicht anwesenden Sowjetunion: Sobald man vom Volk auf die Nation und damit auf Deutschland als einen mit Grenzen zu denkenden Staat Bezug nahm, konnte es nur noch „grundsätzliche“ Probleme geben. Von da an ging es in der politischen Debatte auf der einen Seite um die Grenzen von 1937, also um die Einheit der deutschen Nation, auf der anderen um die Einheit des deutschen Volkes, die Position der Westmächte, die auf dem Potsdamer Abkommen beharrten und damit die Interessen der UdSSR wahrnahmen.

Kein Treuhänder für den Osten
Damit war spätestens Anfang der 1950er Jahre, also vor jeder definitiven Einigung mit Polen oder der Sowjetunion, klar, dass Königsberg und die deutschen Ostgebiete nicht mehr verhandelbar waren. Diese „territoriale Amputation“ wurde vom deutschen Volk während der 1950er Jahre im Zuge des Wiederaufbaus und der Westintegration vor dem Hintergrund der deutschen Teilung und des Kalten Krieges erstaunlich gelassen und klaglos hingenommen. Die mit dieser territorialen Abtrennung einhergehende „kulturelle Amputation“ des deutschen Ostens wurde von den sich 1948 konstituierenden Ländern, die ihre kulturelle Autonomie in Vorbereitung auf das Grundgesetz von 1949 definierten, und vom Bund zunächst überhaupt nicht wahrgenommen.

So fehlte von Anfang der bundesdeutschen Geschichte an ein Treuhänder für die ostdeutsche Geschichte, Kultur, Literatur und Kunst in Bund und Ländern, da letztere mit sich selbst und der Bund als Teilstaat im Gegenüber zur DDR (für 40 Jahre) mit seiner eigenen Bewährung beschäftigt waren. Für die deutsche Identität spielte die Amputation eines Viertels des deutschen Vaterlandes keine Rolle.

Frühzeitig erkannten verantwortungsvolle Ostdeutsche diese historische, schon im Parlamentarischen Rat erkennbare Fehlentwicklung und gründeten 1950, vor 75 Jahren, den „Ostdeutschen Kulturrat“, der 1975 in eine Stiftung umgewandelt und bis 1999 vom Bund mit großem Erfolg institutionell gefördert wurde. Der erste Kulturstaatsminister Michael Naumann mit seinem Mitarbeiter Knut Nevermann in der Regierung Schröder/Fischer (1999–2005) beendete diese jahrzehntelange Förderung im Jahr 2000. Mehr als einem Dutzend Einrichtungen der ostdeutschen Kultur, die Nevermann als „Schrott“ bezeichnete, wurden damals mit einem Kahlschlag die Mittel entzogen.

In später Erkenntnis der Tatsache, dass die ostdeutschen Länder nicht mehr in eigener Rechtshoheit handeln konnten, regelte der Bund nach dem Lastenausgleich (1952) die Fragen der ostdeutschen Kultur 1953 im Rahmen des Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetzes (BVFG), dem er einen diesbezüglichen „Kulturparagraphen § 96“ einfügte. Damit wurde die ostdeutsche Geschichte und Kultur als Teil der deutschen Identität zu einem Flüchtlingsthema (!), und das ist sie im Kern bis heute geblieben.

Es war die Geburtsstunde der ostdeutschen Kulturförderung durch den Bund, ergänzt durch die politisch volatile Förderung der Länder. Dies war ein schwerwiegender Geburtsfehler mit dauerhaften Nachwirkungen. Zudem geriet die ostdeutsche Kultur damit in die Mühlen der Bund-Länder-Auseinandersetzungen und in den Wirrwarr der ministeriellen Kompetenzabgrenzungen. Vor allem aber blieb die ostdeutsche Kultur bis zum heutigen Tage ein ungeliebtes Stiefkind in der deutschen Kulturlandschaft, das der erst 1982 gegründete Deutsche Kulturrat nicht zur Kenntnis nimmt.

Die Ignoranz des Kulturstaats
Die Vertriebenen kamen mit dieser problematischen Situation nicht zurecht, zumal sie keine echten politischen Partner hatten. Sie hatten es stets mit Beamten zu tun, die nur in wenige Ausnahmefällen wirklich wussten, mit welchen Themen sie es zu tun hatten. Empathie für die Sache der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, für ihre Geschichte und Kultur, für ihren Anteil an der deutschen Identität, hatten die wenigsten.

Die Ostdeutschen konnten ihre doppelte Aporie nicht meistern. Ihre Verbände schauten nach Hause und kämpften bis weit in die 1980er Jahre und zunehmend unverstanden auf ihren Treffen für das „Recht auf die Heimat“. Wer sich in den 1950er und 1960er Jahren vorwiegend mit der Geschichte und Kultur seiner ostdeutschen Heimat befasste, musste sich den Vorwurf des „Verrats an der Heimat“ gefallen lassen. Das war ein Zeichen innerer Zerrissenheit.

Die Musealisierung, also die Sammlung des geretteten Kulturgutes wurde oft als Absage an die politischen Ziele der Landsmannschaften missverstanden. Siegfried Lenz trieb mit seinem großen Roman „Heimatmuseum“ (1978) das Missverständnis in eine andere Richtung: Der Held des Romans verbrennt sein Museum, weil er es von den Verbänden nicht im Sinne einer Rückgewinnung der Heimat instrumentalisieren lassen möchte.

Ein Verständnis oder gar eine gesellschaftliche Unterstützung wurde den Vertriebenen in ihrer existentiellen Aporie in der „kalten Heimat“ (Andreas Kossert) nicht zuteil. Seit den 1970er Jahren ging es in der Bundesrepublik im Sinne der „Versöhnung mit den Völkern der Sowjetunion“ vor allem um Ausgrenzung und Gettoisierung der Ostdeutschen. Es gehört zu den großen Defiziten der so viel gepriesenen deutschen Demokratie, dass sie die durch den Zweiten Weltkrieg herbeigeführte Identitäts- und Kulturamputation des deutschen Volkes, die auf den nationalsozialistischen Unrechtsstaat folgte, weder wirklich zur Kenntnis genommen noch politisch hinreichend diskutiert und verarbeitet hat. Der für dieses Verhalten von Hans-Peter Schwarz geprägte Begriff „Geschichtsvergessenheit“, belastet nicht nur die ostdeutsche Kultur, sondern das ganze deutsche Volk bis heute.

Amputierte Identität
In den 1980er Jahren hatte der Autor dieser Zeilen die Gelegenheit, mit einer europäischen Delegation den Reichstag in Berlin zu besuchen. Dort erklärte er den Besuchern die Fahnen aller deutschen Länder. Die ausländischen Besucher zeigten sich beeindruckt, dass die Deutschen sich nicht scheuten, auch die Fahnen der verlorenen Gebiete Schlesien, Pommern, Ostpreußen etc. zu zeigen. Kein Wort der Kritik wurde laut. Zum Tag der Deutschen Einheit 1990 jedoch wurde die Fahnensituation schnellstens bereinigt: Von nun an gab und gibt es nur noch die 16 Fahnen des vereinigten Deutschlands, die übrigen sind Sache der Landsmannschaften der Vertriebenen. Ein anderer Anwalt hat sich nicht gefunden. Und werden diese Fahnen heute öffentlich gezeigt, wird von interessierter Seite schnell der Verdacht der Rechtslastigkeit oder gar des Revanchismus geäußert.

Wer geglaubt hatte, dass sich mit den CDU-geführten Regierungen ab 2005 etwas im Sinne einer Anerkennung ostdeutscher Teilnahme an der deutschen Identität ändern würde, der hat sich gründlich getäuscht. Der Kurs des ersten Kulturstaatsministers wurde von seinen Nachfolgern fast unverändert fortgesetzt, vor allem, was die äußerst eingeschränkte finanzielle Förderungspolitik angeht. Der Autor sah sich deswegen veranlasst, 2016 einen Leserbrief in der FAZ unter dem Titel „Das Prekariat der ostdeutschen Kultur“ zu veröffentlichen und 2019 ein Buch folgen zu lassen mit dem Titel „Im Schatten Europas. Ostdeutsche Kultur zwischen Duldung und Vergessen“.

Nachdem dieses Thema mit der Regierung Scholz (2021–2024) einen weiteren Tiefpunkt erreicht hat, ist die Hoffnung auf eine Besserung nach den Wahlen 2025 eher begrenzt. Die deutsche Identität findet erkennbar und auf Dauer nur noch „amputiert“ statt. Nur merkt das von den über 80 Millionen Deutschen fast niemand mehr.

Klaus Weigelt ist Vorsitzender der Stadtgemeinschaft Königsberg e.V. Zu seinen Büchern gehören „Im Schatten Europas. Ostdeutsche Kultur zwischen Duldung und Vergessen“ (Westkreuz-Verlag 2019) sowie „Schweigen und Sprache. Über Ernst Wiechert“ (Quintus-Verlag 2020).

stadtgemeinschaft-koenigsberg.de


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Kommentare

Kersti Wolnow am 06.05.25, 07:07 Uhr

Sie schreiben, daß die Westmächte nach dem Krieg die Interessen der (von ihnen im Kalten Krieg doch ach so bekämpften) UdSSR vertraten. Nicht nur das ist ein Beispiel des vorgetäuschten Konflikts in der Nachkriegszeit. Beide Seiten verschweigen deutsche Opfer, die der Gegner zu verantworten hat. Zur Kriegsschuld wird auf beiden Seiten bis heute gelogen. Wie abgesprochen behandelten beide Seiten ihre Gefangenen nicht nach der Haager Landkriegsordnung.
Deutsche Polit- und Medien-Vasallen bringen dieses Thema das 80. Jahr nicht zur Sprache. Nur der kleine Kreis von Widerständlern, die man gerade noch zuläßt, veröffentlicht Zahlen dazu und klagt an.
Verträgt sich die Handlungsweise dieser "Sieger" mit dem Völkerrecht und der herrschenden menschlichen Moral? Da regen sich einige (zu Recht) auf über die Behandlungsweise der Palästinenser, aber was ist mit uns Deutschen?

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