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Martin Mosebachs Roman „Krass“ erzählt mit ihren vielen Handlungen, Situationen und seltsamen Zuständen in Natur oder Umwelt eine großartige Heils- und Unheilsgeschichte
Nutze die Zeit, denn sie ist kostbar! Wer rastet, der rostet. Keine Zeit zu haben, zeichnet jene aus, die mit den flüchtigen Stunden rechnen und sie sich dienstbar machen wollen. Aber dennoch kommt auch für solch energische Temperamente der Augenblick, in dem sie vor der alten und immer beunruhigenden Frage stehen: Was ist die Zeit, und wer bin ich in der Zeit? Ralph Krass, der Protagonist in Martin Mosebachs lapidar nach ihm benannten Roman „Krass“, ist nicht von des Gedankens Blässe gezeichnet. Sein Name verweist auf Marcus Licinius Crassus, den Zeitgenossen Caesars, einen steinreichen Römer, dem alles, was er als Spekulant unternahm, zu Gewinn ausschlug, der aber zuletzt als Politiker und Mensch scheiterte.
Keine Handlung im banalen Sinne
Crassus bedeutet wohlbeleibt, ansehnlich, dick oder fett. Davon leitet sich unser Wort krass ab, das allerdings nicht körperliche Fülle meint, sondern etwas Auffallendes und Ungewöhnliches näher bestimmt. Ralph Krass, obgleich stark, umfangreich und muskulös, ist in diesem Sinne ein krasser Fall von außerordentlicher Tüchtigkeit und dem Glück, das sich dem Tüchtigen schenkt. Nicht unverdient, woran sein Vorname erinnert, die verkürzte Fassung von Radulf, also einem, der Rat sucht und gewährt.
Nomen est omen. Ralph Krass, der Handelsmann, ist keineswegs ein Abenteurer oder Glücksritter. Er begreift sich als Gründer oder Zerstörer, so wie einst Phönizier oder Griechen, handelnd, verhandelnd, siedelnd und siegend weite Räume rund ums Mittelmeer durchdrangen. Der norddeutsche Kaufmann, den ein Ergebnis interessiert, nicht jedoch der Weg, der zu ihm führt, vertraut selbstbewusst den wechselnden Augenblicken mit ihren Überraschungen.
Die Zeit versteht er nicht als eine Übermacht, vielmehr als eine Strömung, der er sich anschmiegt und die er sich auf diese Art gefügig macht. Immer in Bewegung sucht er nach einem festen Punkt, nach einem Haus und einer Stadt, nach Menschen, die Dauer im Durcheinander des Lebens versprechen. Deshalb ist Ralph Krass 1988 nach Neapel gekommen. Diese alte Stadt, eine Gründung wagemutiger Griechen vor fast dreitausend Jahren, hat etwas, was ihm völlig fehlt, sie hat Geschichte, sie ist Geschichte, die von der Vergänglichkeit redet und von dem Bemühen, sich dennoch unverzagt im nicht aufzuhaltenden Fluss der Zeiten zu behaupten. Der unübersehbare Vesuv erinnert an die Vergeblichkeit allen Stürmens und Drängens. Irgendwann werden die großartigen Ergebnisse ehrgeizigen Handelns verschüttet sein, wie in Pompeji und Herculaneum. Doch Ruinen und beschädigte Kunstwerke künden vom Unzerstörbaren in der alles zermalmenden Zeit.
Ralph Krass stammte gleichsam von sich selbst ab aufgrund eigener Taten und Verdienste. Er kam aus dem namenlosen „Gewühle“ gleichgültiger Durchschnittlichkeit ohne Vorfahren und ohne die Absicht, obschon verheiratet, je selbst eine Familie zu gründen und sich in möglichen Erben zu verewigen. Insofern bedurfte er weder festen Bodens und eines stattlichen Hauses, der Symbole von Dauer, Herrschaft und Zeiten übergreifender, geschichtlicher Existenz.
Bezeichnenderweise ist die Villa, die ihm in Capri zum Kauf angeboten wird, ein Zeugnis des unsicheren, historisch verspielten Geschmacks um 1900, längst eine pompöse Ruine, unterhalb der Trümmer des Palastes von Kaiser Tiberius gelegen. Er besichtigt die verwahrloste Anlage, mit einer allerdings überwältigenden Aussicht auf das zeitlose Meer und die Überbleibsel ehedem bedeutender Orte, in geschwächtem Zustand.
Denn der Ausflug nach Capri in Gesellschaft aller möglichen Leute, die er als Klientel gerne um sich versammelte, bot ihm die Gelegenheit, im heißen September Abkühlung im Wasser zu suchen, das voller Tücken und Täuschungen dem kräftigen Mann und einsamen Schwimmer zum ersten Mal die Grenzen seines Willens und die Möglichkeit vollständigen Scheiterns erfahren lässt. Auf dem Rücken vor sich hintreibend und „toten Mann spielend“, wie die Kinder sagen, näherte er sich tatsächlich dem Tod als einem Hinübergleiten aus der Zeit und Endlichkeit in die Bewusstlosigkeit, in das unbestimmte Gewühle der Strömungen, das er so weit hinter sich gelassen hatte. Ralph Krass gab allerdings der verführerischen Erschöpfung nicht nach und rettete sich mit äußersten Anstrengungen in das schon sehr ferne Boot.
Einen Tag zuvor besuchte er mit seinen gewohnten Begleitern das archäologische Museum in Neapel, wo ihn das in Pompeji geborgene Mosaik beschäftigte, auf dem die Schlacht bei Issos zwischen Alexander dem Großen und dem persischen Großkönig Dareios als das dramatische Aufeinanderprallen zweier kolossaler Gewalten vergegenwärtigt wird. Der Meister des Geschehens ist der Tod! Ihm blickt ein gestürzter Perser ins Gesicht, der im spiegelblanken Schild sich selbst sieht und sterbend seinen Untergang beobachtet. Ähnliches widerfuhr Ralph Krass als toter Mann auf dem Meer, dem immer bewegten, in dem Welle auf Welle folgt und alles gleitet und zerrinnt im Gegensatz zur festen Erde, dem Schauplatz zupackender und ordnender Kräfte. Aber auch diese tröstliche Gewissheit ist Trug und Täuschung; denn was ist von Alexanders Siegen außer Ruinen geblieben? Die Geschichte ist das Reich der Illusionen, der Enttäuschungen, der Zusammenbrüche, des Betrugs, der Betrüger und Betrogenen.
Der Leser muss aufpassen
Mit einem Betrug – dem Spiel eines Zauberkünstlers – beginnt der Roman. Keiner erkennt dessen Tricks im Banne virtuoser Geschicklichkeit. Keiner passt genau auf. Aber selbst, wenn alle sehr aufmerksam gewesen wären, was hätten sie mit dem Datum 24. November 2008 zwanzig Jahre vorher anfangen können, das zum Spiel des Zauberers gehörte, der vorgab, unter kleinen Voraussetzungen Wirklichkeiten zu beherrschen und zu schaffen wie im großen Rahmen der Eroberer Alexander oder der vom Geld als Weltmacht ergriffene Crassus? Am 24. November 2008 starb Ralph Krass, als Gescheiterter erkennend, dass erst der Tod Klarheit gewährt über die Zeit und das Leben in ihr.
In Neapel, einer der ältesten Metropolen Europas, beginnt der Roman. Der zweite Schauplatz ist die französische Provinz mit Dörfern und Kleinstädten, die – durch Rationalisierung und Modernisierung heruntergewirtschaftet und nahezu menschenleer – der Geschichte entrückt sind und vor sich hindämmern in einer Ruhe, die sich kaum von der des Todes und der Grabesruhe unterscheidet. Ein Mann aus dem unbedeutenden Gewühl, ein Schuster, ein kleiner Mann, der rechtschaffen in einem kleinen Geschäft wirkt und sich dort bewährt, ist der Protagonist. Auf seine Art freilich bedeutend, ein Mann mit Eigenschaften, der Zeit hat, sich Zeit nimmt und gar nicht danach strebt, in dieser Zeit besonders aufzufallen. Religion, Familie, Vaterland – wovon der eigenwillige, Welten umspannende Krass nie sprach – sind die Selbstverständlichkeiten, aus denen und mit denen der Schuster lebt. Ganz unzeitgemäß wahrt er weiterhin dem Marschall Philippe Pétain seine Treue, der nach dem Sieg der Deutschen 1940 unter schwierigsten Bedingungen weder der Religion, der Familie noch dem Vaterland gegenüber treulos geworden war. Seine Frau, neuzeitlich – neugierig, war der alten Ordnung überdrüssig geworden. Sie verließ ihn, und ihre erfolgreichen Wege kreuzten sich kurz in Neapel mit denen des ungewöhnlichen Ralph Krass und seines zeitweiligen kunsthistorischen Beraters, der freilich kein Radulf ist, dennoch nie verlegen um einen guten Rat für einen anderen.
Dieser Dr. Matthias Jüngel ist im geistigen Sinne ein kleiner Mann. Er wird Professor, weil er beflissen den Wissenschaftsbetrieb füttert. Ein solches Funktionselement kann gar nicht scheitern. Der selbstgewisse Ralph Krass hingegen hat im unübersichtlichen Vorderen Orient bei Geschäften den Überblick verloren. Im Herbst 2008 hat es ihn nach Kairo verschlagen, der dritte und letzte Schauplatz. Er ist am Ende und kommt zur Ruhe. Arm geworden hadert er nicht mit der trügerischen Welt, er findet vielmehr in dieser chaotischen Stadt unzähliger, im Laufe der Geschichte verspielter Möglichkeiten ganz zu sich. Sein letzter Begleiter ist ein mit allen Wassern gewaschener ägyptischer Rechtsanwalt, unerschöpflich in Zauberkünsten und Pfiffigkeiten, gerade weil er, Allah ergeben, nie vergisst, dass es eine göttliche Weltweisheit gibt, ohne deren Licht jede menschliche Vernunft unvernünftig und deshalb ordnungswidrig wird.
Üppige und wunderbare Belohnung
Ralph Krass – fern jeder Religion aufgewachsen und erstaunliche Kraft nur aus dem Glauben an sich gewinnend – stellt sterbend fest, dass sein ganzes Leben von Anfang an ein umständlicher Umweg war. Im April 1945 hatte er das Alter erreicht, um als Hitlerjunge vereidigt und auf große Ziele verpflichtet zu werden. Zu der von ihm aufgeregt erwarteten Zeremonie kam es nicht mehr. Im allgemeinen Zusammenbruch waren die Funktionäre getürmt. Ralph Krass war plötzlich führerlos. Treue erwies sich als Schall und Rauch. Keiner war zuverlässig, es lohnte sich nicht, anderen zu trauen. Es blieb nur die Treue zu sich selbst übrig. Das ahnte er damals in kindlicher Einsamkeit.
Jetzt, vor dem Tod, wieder aller Illusionen ledig, erschien ihm sein Leben mit all seinen Hoffnungen und Zielen als ein langer Umweg. Der Anwalt Mohammed lehrte ihn Geduld und Ergebenheit in einen höheren Willen. In der Totenstadt, dem großen Friedhof Kairos, verschwand Ralph Krass wieder im anonymen Gewühl, ohne es bedauert zu haben.
Martin Mosebachs beziehungsreicher Roman als Lied vom Tod hat keine Handlung im banalen Sinne. Es gibt viele Handlungen, Situationen und seltsame Zustände in Natur oder Umwelt, die sich zu einer Geschichte verdichten, die als Heils- und Unheilsgeschichte gar nicht leicht zu entwirren ist. Der Leser muss aufpassen! Dafür wird er aber üppig und wunderbar belohnt.
Martin Mosebach
„Krass“. Roman
Rowohlt Verlag 2021,
gebunden, 525 Seiten, 25 Euro