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Terrorismus

Ein böses Erwachen in einer zeitweilig verdrängten Realität

Das jüngste Attentat in Krasnogorsk bei Moskau zeigt auf brutale Weise, dass Russland gegen die Ukraine den falschen Krieg führt

René Nehring
27.03.2024

Es scheint wie ein Ruf aus einer anderen Zeit. Am Abend des 22. März drangen bewaffnete Terroristen in das Veranstaltungszentrum „Crocus City Hall“ in Krasnogorsk bei Moskau ein, schossen mit automatischen Waffen auf die Gäste eines Rockkonzerts und sprengten die Konzerthalle in die Luft, töteten mindestens 139 Personen und verletzten 182 weitere Opfer. Wenige Stunden später meldete Russland die Verhaftung von elf Personen – den vier Haupttätern und ihren Unterstützern. Da die Verdächtigen im Gebiet Brjansk aufgegriffen worden und auf dem Weg Richtung Westen gewesen seien, bezichtigte der Kreml umgehend die Ukraine, hinter dem Anschlag zu stecken. Viel plausibler ist indes die Version, dass die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) oder einer ihrer Ableger für das Massaker verantwortlich ist. Immerhin veröffentlichte der IS sowohl ein Bekennerschreiben als auch ein Video von dem Verbrechen aus der Perspektive der Täter.

Insofern ist der Anschlag von Moskau letztlich doch kein Ruf aus einer anderen Zeit, sondern vielmehr eine brutale Erinnerung daran, dass trotz der scheinbaren Auszeit der Corona-Jahre die Geschichte des islamischen Terrors keineswegs stehenblieb: So ermordete unter anderem ein IS-naher Amokläufer im November 2020 in Wien vier Personen, so wurden im August 2021 bei einem Bombenanschlag auf dem Flughafen von Kabul 183 Menschen getötet und über 200 verletzt, so ermordeten muslimische Gotteskrieger im Juni 2022 bei einem Anschlag auf die Kirche von Owo in Nigeria 40 Christen und verletzten 61. Mag die Weltöffentlichkeit in der Pandemiezeit auch andere Schwerpunkte gehabt haben, so hat sich doch im Grunde wenig verändert.

Verändert haben sich allerdings einige Begleitumstände. Allen voran, dass das vom jüngsten Terroranschlag getroffene Russland seit zwei Jahren einen Krieg gegen die Ukraine führt, die wiederum vom Westen in ihrem Abwehrkampf unterstützt wird, wodurch sich Russland und der Westen quasi in einem Stellvertreterkrieg befinden. Deshalb auch schlugen russische Sicherheitsbehörden Warnungen der US-amerikanischen und der britischen Botschaft in Moskau in den Wind, die diese Anfang März aufgrund von Erkenntnissen der Sicherheitskreise ihrer Länder erhalten und an die Russen weitergegeben hatten. Den Schaden dieser Ignoranz tragen nun die Opfer von Krasnogorsk und deren Angehörige.

Die eigentliche Bedrohung
Der russische Präsident Putin begründete die Invasion der Ukraine vor zwei Jahren unter anderem damit, ein weiteres Vordringen der NATO abwehren zu wollen. Abgesehen davon, dass er selbst unlängst in einem Interview mit dem US-Journalisten Tucker Carlson diese Argumentation in seiner Antwort auf die Frage nach den Motiven für den Krieg mit seinen Ausführungen über die historische Zugehörigkeit der Ukraine zu Russland widerlegte, sollte der Anschlag von Krasnogorsk die Führung in Moskau daran erinnern, dass sie in der Ukraine den falschen Krieg führt – und die eigentlichen Bedrohungen für ihr Land ganz woanders liegen. Seit dem Zerfall des Sowjetimperiums wurde Russland immer wieder von Terroranschlägen heimgesucht, hinter denen keine westliche Macht stand. Dass davon für die russischen Bürger eine weitaus direktere Gefahr ausgeht als von der Ukraine oder der NATO, zeigt der Abend des 22. März.

Die Frage, die sich seit zwei Jahren Woche für Woche unter immer wieder neuen Gesichtspunkten stellt, ist, wie die Beteiligten aus der verfahrenen Situation des Ukrainekriegs herausfinden. Auf westlicher Seite sollte allmählich die Erkenntnis reifen, dass weder neue vermeintliche Wunderwaffen noch naive Träume von einem „Einfrieren“ des Konflikts zu einem tragfähigen Frieden führen werden. Klar ist, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine angefangen hat und dass es nur dann bereit sein wird, diesen zu beenden, wenn die Gründe, die dazu geführt haben, den Krieg zu beginnen, nicht mehr gegeben sind (der Traum, Russland militärisch besiegen zu können, dürfte hoffentlich ausgeträumt sein).

Eine wesentliche Ursache für die Verwerfungen zwischen Russland und dem Westen ist die Zerstörung des gegenseitigen Vertrauens, das es in den 1990er Jahren für kurze Zeit gab. Dieses Vertrauen wurde auf westlicher Seite untergraben durch diverse russische Militäraktionen nach 1991, unter anderem in Abchasien, Dagestan, Kasachstan, Ossetien, Syrien, Tadschikistan, Transnistrien, Tschetschenien und zuletzt in der Ukraine. Hinzu kommt der kontinuierliche Abbau demokratischer Standards in Russland, einschließlich einer langen Liste gefangener Regimekritiker und ungeklärter Todesfälle sowohl unter Gegnern als auch Dienern des politischen Systems. Doch auch auf russischer Seite ging Vertrauen in den Westen verloren, allem voran durch die einseitige US-amerikanische Aufkündigung aller Abrüstungs- und Rüstungskontrollvereinbarungen, die einst überhaupt erst ein zartes Pflänzchen des Vertrauens zwischen den Gegnern des Kalten Krieges geschaffen hatten. Auch die Beteiligung der USA am Sturz des prorussischen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch beschädigte das Zutrauen in die Absichten der Amerikaner massiv.

Dass nun westliche Dienste und Botschaften Russland vor dem terroristischen Anschlag bei Moskau gewarnt haben, zeigt indes, dass trotz aller politischen Verwerfungen zumindest auf der Arbeitsebene staatlicher Behörden noch immer eine stabile Zusammenarbeit besteht. Diese könnte ein Ansatz sein, auch auf anderen Ebenen eingefrorene Kontakte wiederzubeleben und einen Weg des Neustarts zu gehen. Dass ein solcher Weg alles andere als leicht sein wird, versteht sich von selbst. Doch gibt es keine sinnvolle Alternative dazu. Der Anschlag vom 22. März erinnert jedenfalls daran, dass jenseits des jetzigen Konflikts zwischen Russland und dem Westen noch ganz andere Konflikte lauern.


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