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Gerhard Schindler beklagt in seiner Streitschrift eine fehlende Debatte über unsere Sicherheitsdienste
Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsschutzes (BND), Gerhard Schindler, der den deutschen Auslandsnachrichtendienst von 2012 bis 2016 führte, hat eine lesenswerte Streitschrift vorgelegt, die sich aus mehreren Gründen zur Lektüre empfiehlt. Zum einen – und so steht es gleich im Vorwort – geht es ihm nicht nur um den Bundesnachrichtendienst (BND), sondern „der BND hat stellvertretend für alle anderen Sicherheitsbehörden seinen Platz im Titel dieses Buches gefunden“.
Warum Streitschrift? Ganz einfach: Weil Schindler einen – bislang weitgehend fehlenden – Diskurs über den Stellenwert von Sicherheit anstoßen und dabei, O-Ton, „stören will“. So problematisiert er schon auf den ersten Seiten seines Werkes das bisweilen mit irritierenden Urteilssprüchen zeitgeistig in Erscheinung getretene Bundesverfassungsgericht, man denke nur an das „Soldaten sind Mörder“-Urteil.
Diesmal mit seiner Entscheidung vom 19. Mai 2020, wonach die strategische Auslands-Fernmeldeaufklärung des BND gegen das Grundgesetz verstoße. Doch mit dieser Entscheidung beeinträchtige Karlsruhe die Aufklärungsarbeit des BND zugunsten der Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland erheblich, so Schindler: „Das Gericht stellt damit die ganze Weltbevölkerung von über sieben Milliarden Menschen unter deutschen Grundrechtsschutz. Ein solcher Vorgang ist in der Staatengemeinschaft ohne Beispiel.“ Offenbar eine neue Variante des viel zitierten „deutschen Sonderwegs“. Wem kommt dabei nicht Pierre-Joseph Proudhons abgewandelter Satz in den Sinn: „Wer Menschheit sagt, will betrügen!“
Aber: Wollen „deutsche Gutmenschen“, ob in Richter-Roben, an den Schaltstellen der Mainstream-Medien oder bei den Parteien links der Mitte, in ihrem lautstark geforderten „humanitären Internationalismus“ die Menschheit wirklich betrügen? Natürlich nicht! Sie wollen in ihrem subjektiven Empfinden vielmehr „Mal kurz die Welt retten“.
Zurück zu Schindlers realpolitisch geprägter Berufserfahrung. „Wer einen Auslandsnachrichtendienst – noch dazu einen leistungsfähigen – haben will, sollte wissen, dass dieser im Ausland Rechtsbruch begeht“, so steht es nicht nur im Klappentext des Buches. So funktioniert halt Geheimdienstarbeit – oder es ist keine! Zwar sei Spionage völkerrechtlich nicht verboten, doch werde sie weltweit in den jeweiligen Staaten strafrechtlich verfolgt. Ergo: Mit diesem unauflösbaren Spannungsverhältnis im Sinne von Max Webers „Verantwortungsethik“ einsichtig umzugehen, das müsste die Voraussetzung sein, sich realistisch auf das Phänomen Nachrichtendienste überhaupt einzulassen. Und zwar sowohl aus der Sicht von kritischen Außen-Betrachtern und erst recht natürlich von jenen Innen-Akteuren, die als Mitarbeiter der Dienste fungieren. „Gesinnungsethische“ Musterknaben der „Moral und Hypermoral“ (Arnold Gehlen), die beide Ebenen nicht auseinanderhalten können, sind da offensichtlich fehl am Platze.
In Schindlers Buch werden die Aufgaben, Probleme und Strukturen der deutschen Nachrichtendienste vielfältig beschrieben. Er geht auf deren Sicherheitsarchitektur ein und beklagt ihre Unübersichtlichkeit, die Misserfolge und Minderleistungen begünstigt. Im Kapitel über „Sicherheit und Freiheit“ thematisiert er das streitbare Verhältnis der beiden Staatsziele untereinander, um als Ergebnis zu verkünden: „Die immer wieder in Sonntagsreden gern behauptete These, Freiheit und Sicherheit stünden auf einer Stufe, sie bedingten sich wechselseitig, es bestehe eine Balance zwischen Freiheit und Sicherheit, ist faktisch falsch. Sicherheit ist das höherrangige Bedürfnis der Menschen.“
Auch „Die NSA-Affäre“ wird vom Autor in einem eigenen Kapitel gebührend berücksichtigt. Er sieht in ihr eine „verpasste Chance zum sicherheitspolitischen Diskurs“. Sie war, so Schindler, „politisch und medial ... die größte Krise des BND seit seinem Bestehen“. Allerdings, und das dürfte für viele Beobachter der sich über drei Jahre hinziehenden Verwerfungen vielleicht überraschend erscheinen: „Der BND ging aus der NSA-Affäre gestärkt hervor.“
Da das Buch, dessen ursprüngliche Fassung durch Intervention des Kanzleramtes zunächst nicht erscheinen durfte, dann aber doch noch im Oktober 2020 in veränderter Form herauskam, konnte Schindler die zweite Welle der Corona-Krise nicht berücksichtigen. Doch geht er in einem letzten Kapitel weitsichtig auf die Pandemie-Problematik ein. Zurückhaltend versagt er sich einer Beantwortung von angesprochenen Erwägungen, „ob zum Beispiel die Grenzschließungen zu spät erfolgten; warum der Flugverkehr aus den Hauptrisikogebieten nicht frühzeitiger unterbunden wurde; ob bei Urlaubsrückkehrern aus Risikogebieten konsequenter Quarantäne angeordnet hätte werden müssen; ob die Beschaffung von Schutzkleidung zu nachlässig betrieben worden sei oder wie man die unterschiedlichen Maßnahmen der Bundesländer hätte besser abstimmen können“. Diese Fragen würden später einmal zuständige Gremien zu klären haben, meint der Ex-BND-Chef.
Was ihn jedoch besonders interessiere, sei die Frage, „warum uns die Krise so unvorbereitet getroffen hat“. Und Schindler, dessen sicherheitspolitisches Engagement auch unter die Prämisse von „vorbeugender Gefahrenabwehr“ gestellt werden kann, hat eine einfache Antwort parat, allerdings eine des „gehobenen Unbehagens“, nämlich: „Weil sich vorher niemand ernsthaft dafür interessiert hat.“