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Lüttenweihnachten

Ein Fest für die Tiere des Waldes

Von Hans Falladas Weihnachtsklassiker inspiriert: Kinder sorgen für eine Bescherung der Vierbeiner

Torsten Seegert
22.12.2023

Alles ist weiß. Der Schnee glitzerte, und in der Ferne brannten die Lichter von Sassnitz. Heulend blies der Wind aus Nordost am alten Kreidebruch und trieb den Schnee wie Puderzucker tanzend vor sich her. Mühsam kämpften sich drei Jungen mit Axt und Handsäge durch die Stubnitz. Bald fanden sie sich vor einem kleinen Tannenbäumchen. Oben schlank und unten breit, gleichmäßig im Wuchs.

Ein Blick zur Uhr hatte ihnen verraten, dass Eile geboten war, um 18 Uhr sollte Bescherung sein. Henning, Tobi und Basti mussten sich also sputen. Kurzerhand sägten sie den Baum um und trennten den letzten Halt der Rinde mit einigen unplatzierten Schlägen. Basti schlang einen Strick geschickt um die abstehenden Äste und schon zogen sie das frisch geschlagene Bäumchen mit einer langen Schleifspur durch den Neuschnee davon.

Verboten war allerdings nicht nur was sie getan hatten, sondern auch das, was sie vorhatten: Sie wollten „Lüttenweihnachten“ feiern. Einiges hatten sie von dem „Fest für die Tiere“ gehört, nun wollten sie es selbst tun. Tobi, der kleinste der drei „Verschwörer“, kämpfte noch mit seinem Rucksack, der unter der Last von Äpfeln, Nüssen und Futterringen wieder und wieder von seinen schmalen Schultern rutschte, als sie plötzlich einen bunt mit Äpfeln und Mohrrüben geschmückten Baum mitten im Wald erblickten.

Die drei verstummten bei dem schönen Anblick, hielten inne. Dann unterbrach Henning vorlaut die Stille: „Lüttenweihnachten für die Tiere!“ – „Lüttenweihnachten für die Rehe!“, meinte Tobi.

Besonderes Gespür der Kinder
Am oberen Abhang hatte sich bereits eine kleine Gruppe von Rehen eingefunden, ständig zur Flucht bereit. Doch nachdem die Kinder in Ruhe verharrten, näherten sie sich mit kurzen Sprüngen und begannen zu fressen. Ein Schauspiel, das es so sonst nur im Fernsehen gab – doch das war echt! Und so standen sie und vergaßen ganz die Zeit. Zu Hause warteten sicher schon Eltern und Geschenke.

Während Basti mit etwas mehr rechnen konnte, nicht weil er besonders lieb, sondern weil die Familie etwas großzügiger sein konnte, würde für den nicht gerade verwöhnten Tobi die gemeinsame Feier wohl der Höhepunkt des Abends werden. Doch all das war ausgeblendet.

Da! Plötzlich knackte es im Unterholz. Henning und Basti spürten mit voller Wucht eine starke Hand, die sie an ihren Jackenkragen packte. „Hab' ich Euch erwischt!“, rief ein grünvermummter und beschneiter Mann. Einzig Tobi hätte fliehen können, doch die Verbundenheit mit seinen Freunden hielt ihn von der billigen Flucht ab.

Das Erschrecken legte sich mit dem zweiten Blick, denn Tobi erkannte den Förster, er war ein Freund seines Vaters. Er musste den Schleifspuren des Baumes gefolgt sein. „Ihr Schweinskerls!“ Doch auch er erkannte das ihm vertraute Kindergesicht. „Wie konntet ihr nur einfach diesen Baum umlegen? Was habt ihr Euch denn dabei gedacht?“

Erwischt – der Förster ist da!
Basti, dem vor Angst und Sorge über das, was sie erwarten könnte, die Tränen ins Gesicht stiegen, sagte nur: „Lüttenweihnachten“. Da löste sich der Zugriff des Försters. „Was habt ihr denn dabei?“ Ohne zu zögern, half Henning Tobi beim Abnehmen des Rucksacks. Schon ein kurzer Blick hinein erübrigte alle weiteren Fragen. Mit einem knappen „Kommt!“ zog er die Jungen, wie an einer unsichtbaren Leine, hinter sich her. Da stapften sie nun also durch den Schnee zum Baum: Der erwachsene Mann und die drei Kinder. Sie verteilten die Gaben für die Tiere um den Baum und zogen sich wieder zurück.

Ein kleiner Rückblick ließ sie alle schmunzeln. Längst scharten sich wieder Tiere um den Baum. Der Förster aber verlor kein weiteres Wort. Stumm fuhr er die Kinder mit seinem Wagen heim.

Der kleine Baum sollte die nächsten Tage sein Zimmer schmücken. Die drei Jungen aber hatten sich in den folgenden Tagen viel zu erzählen – über die Stubnitz, den Förster und Lüttenweihnachten! Man kann es feiern, wo man möchte – als kleine Versöhnung mit den Tieren, mit dem Willen, sie stets zu achten.

Der aus Greifswald stammende Schriftsteller Hans Fallada wäre begeistert, wenn er sehen könnte, welche Nachwirkung seine zauberhafte Geschichte „Lüttenweihnachten“ hat.


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