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Stettiner schauten einst vom neunstöckigen und 45 Meter hohen Quistorp-Turm über Stadt und Odertal
Wohin an den Wochenenden? Für Stettiner hieß das dereinst häufig, raus ans Wasser, hinaus in Wald und Heide, denn die Oderregion bietet davon eine Menge. Auf dem Sonn- und Feiertagstagsprogramm „ganz in Familie“ stand aber auch gern, die Aussichtspunkte am Stadtrand zu besteigen und den ungewohnten Panoramablick zu genießen. Unübertroffen in der Besuchergunst soll ab 1904 der Quistorp-Turm in Stettin-Westend gewesen sein. Allerdings brauchte der sich der Konkurrenz des später ähnlich beliebten Bismarck-Turms im Norden der Stadt noch nicht zu erwehren. Der wurde erst 17 Jahre später seiner Bestimmung übergeben.
Der 45 Meter aufragende, schlanke Quistorp-Rundbau, entworfen vom bekannten Berliner Architekten Franz Schwechten, erhob sich von einem 70 Meter hohen Hügel im Eckerberger Wald unweit der Falkenwalder Straße [al. Wojski Polskiego]. Er verfügte über drei Aussichtsebenen. Der Blick vom obersten Rondell auf die damals 200.000 Einwohner zählende Stadt mit der Nadelspitze der Jacobikirche mittendrin, sorgte immer wieder für staunende Gesichter. Erst recht aber sollen Turmkieker die Fernsicht auf das Oderland genossen haben. Stettin liegt in der Tat in einer reizvollen Umgebung.
Der Quistorp-Turm bot auch das, was nicht fehlen darf, um Ausflügler zufrieden zu stimmen: Cafés und Restaurants. Die luden in den Gewölbearkaden des aus hellem Granit ausgeführten Untergeschosses zu Speis, Trank und Geselligkeit ein. Das zinnenbesetzte und mit anderem Zierrat versehene Turmbauwerk selbst bestand aus rotem Backstein. Das Terrain ringsum mit seinen Wegespalieren, Skulpturen und vornehmen Treppenaufgängen war zudem gärtnerisch gestaltet worden. Turm nebst Drum und Dran werden in Schilderungen aus jener Zeit als wirklich gepflegte Örtlichkeit am Stettiner Stadtrand beschrieben.
Engagement für Mitarbeiter
Aber das ist Geschichte. Seit den Kämpfen um die Oderstadt im Frühjahr 1945 liegt der Aussichtsturm in Trümmern nieder. Doch selbst das, was in den vergangenen acht Jahrzehnten von ihm blieb, nötigt noch Achtung ab.
Quistorp-Turm – woher kommt eigentlich der Name? Das Bauwerk ist dem Stettiner Großunternehmer Johannes Quistorp (1822–1899) gewidmet, der den enormen wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts mitbestimmte.
Quistorp, gebürtiger Greifswalder und gelernter Kaufmann, betrieb ab 1855, ähnlich der Toepffer-Familie im benachbarten Finkenwalde, eine Portlandzementfabrik. Diese lag jedoch nahe den Dörfern Kalkofen [Wapnica] und Lebbin [Lubin] auf der Insel Wollin. Beide Fabrikanten begründeten damals europaweit den erstklassigen Ruf des begehrten Baustoffs von der unteren Oder, was ihnen enormen Wohlstand bescherte.
Vor allem die Quistorps engagierten sich dafür aus christlicher Überzeugung, wie man weiß, beispielhaft auf sozialem Gebiet. So wurden in Kalkofen 150 Werkswohnungen für 600 Arbeiter und Angestellte gebaut, außerdem eine Schule, Kindergarten, Bibliothek, Einkaufsladen – in dem es aber keinen Alkohol gab – , Witwen- und Waisenhäuser sowie ein Arbeiterbildungsinstitut. Die Beschäftigten kamen zudem in den Vorzug, sich in einer Kranken-, Witwen-, Sterbe- und Unterstützungskasse versichern zu lassen.
Als weitsichtiger und einflussreicher Industrieller, der ab 1867 den Titel „Königlich preußischer Commerzienrath“ trug und der Zugang zu höchsten Kreisen hatte, erweiterte Quistorp seine Betätigungsfelder fortwährend. Er besaß Ziegeleien, so auch die in Berndshof bei Ueckermünde, und er eröffnete in Wolgast, wo er seine Jugendjahre verbrachte, eine Soda- und Pottaschefabrik. Ihm gehörten Schamottewerke und eine Reederei. Schließlich stieg die Familie auch ins Immobilien- und Bauerschließungsgeschäft ein, denn Stettin platzte in jener Zeit aus allen Nähten.
Quistorp erwarb die vor der Stadtgrenze liegenden Güter Friedrichshof und Eckerberg und erschloss die Felder als Wohnbauland, aus dem alsbald der Stadtteil Westend [Lekno] mit seinerzeit moderner Infrastruktur wie Klinik, Pflegeheim, Diakonissenzentrum, Kirche, Schulen, Plätzen und Parkanlagen, darunter die Quistorp-Aue, entstand. Auch sonst unterstütze der angesehene Kommerzienrat fortwährend eine Vielzahl sozialer und kultureller Projekte.
Sohn ließ Gedächtnisturm bauen
Den Quistorp-Turm aber ließ nicht die Stadt errichten, etwa um ihrem verstorbenen Gönner Ehre zu erweisen. Es war sein Sohn Martin (1861–1929), der den Bau des Aussichtsturms auf dem Eckerberg zum Gedächtnis an seinen Vater initiierte und finanzierte. Er hatte die Leitung des Firmenverbunds bereits 1888 übernommen und erwies sich, ähnlich wie sein Vater, als tüchtiger Geschäftsmann mit ausgeprägtem Gemeinsinn aus christlicher Überzeugung. Das weitläufige, ineinander verwobene Parkgelände, Quistorp-Aue genannt, das sich im Prinzip von der Pommerschen Provinzialverwaltung, heute Stettiner Rathaus, bis hinauf zum Aussichtsturm ausdehnte, übereignete Martin Quistorp als ein Vermächtnis seines Vaters 1908 der Stadt.
Bei dem feierlichen Akt vor dem Stadtparlament sollen sich die Abgeordneten und der Magistrat, lange Beifall spendend, erhoben haben. Der inzwischen umgestaltete Park gehört auch heute zu den beliebtesten innerstädtischen Erholungsräumen der Stettiner. Als Papst Johannes Paul II. 1987 die Stadt besuchte, soll er in der einstigen Quistorp-Aue vor einer Million Gläubigen gepredigt haben. Dort befindet sich nun auch ein Denkmal des Papstes. Die einstige Oase trägt aber den Namen des polnischen Dichters Jan Kasprowicz. Andere Bereiche heißen heute Jasne Blonia und Las Arkonski.
Im Übergabevertrag der Quistorpschen Besitzungen an die Stadt wurde seinerzeit ein Passus fixiert, wonach der Park nur der öffentlichen Erholung zu dienen hat und keiner Bebauung geopfert werden darf. Daran haben sich bisher alle gehalten. Ein überaus markantes Detail fehlt der Anlage jedoch. Es ist der Aussichtsturm.