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Vor 50 Jahren, am 9. November 1970, starb der französische General und Staatsmann, der wie kein Zweiter um die Deutschen warb
Eines der größten Missverständnisse in der Geschichte Westdeutschlands war vom 4. bis 9. September 1962 der Besuch des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle. Seine Reise glich einem Triumphzug. Bislang war es nicht einmal Konrad Adenauer oder Theodor Heuss gelungen, Hunderttausende derartig begeistert zu mobilisieren. General de Gaulle, der klassisch gebildete Historiker, Europäer und Menschenkenner, sprach auf Deutsch, was sofort die Massen aufhorchen ließ. Er behandelte sie nicht als anonymes Publikum, sondern wandte sich an konkrete Personen, an die unzähligen, um ihn gedrängt versammelten Vertreter „des großen, jawohl des großen deutschen Volkes“. Diese dankten ihm mit enthusiastischem Jubel. Kein Gast hatte jemals wieder so eindringlich und feierlich an deutsche Größe in sämtlichen Künsten und Wissenschaften – auch in Staatskunst und Kriegswissenschaft – erinnert, wie damals Charles de Gaulle. Keiner folgte je seinem Beispiel. Es blieb die große Ausnahme.
Dennoch ist die Verneigung des immer auf Stil und Form achtenden Repräsentanten eines französischen „génie nationale“ vor dem deutschen Genius längst in Vergessenheit geraten. Nicht hingegen die auf stürmischen Beifall berechnete Pointe in der Rede des US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy ein Jahr später in West-Berlin: „Ich bin ein Berliner.“ In der mitten im „Osten“ gelegenen Frontstadt galten kurz nach dem Mauerbau dessen Worte dem Westen und der Freiheit, der atlantischen Gemeinschaft, der Demokratie und ihrem Menschenbild. Enthusiastische Zustimmung der Berliner versicherte ihm, den Ton getroffen zu haben, den „die Insulaner“ in ihrem Bollwerk der westlichen Zivilisation erwartet hatten. Sie dachten nicht an Geschichte, an die Nation oder Europa, sie hofften auf den Schutz der USA, mit dem sie ihre Sicherheit und Zukunft unmittelbar verknüpft sahen.
Conträre Europa-Modelle
Westdeutschland war damals gründlich gespalten in Gaullisten und Atlantiker, was die rasch aufeinander folgenden Staatsbesuche veranschaulichten, mit denen die Präsidenten unter Deutschen für ihr jeweiliges Modell der europäischen Ordnung um Zustimmung warben. Für de Gaulle blieb die Nation und Souveränität die Voraussetzung für Freiheit und Selbstbestimmung. Viele Deutsche, an den Verlust ihrer Souveränität gewöhnt, hofften hingegen auf transnationale Gemeinschaften im engen Zusammenhang mit den USA und Briten, in denen sie die historischen Wegweiser hin zu Demokratie und Parlamentarismus würdigten. Deutsche Gaullisten – vor allem um Franz Josef Strauß – strebten nach politischer Bewegungsfreiheit in einem Europa der Vaterländer und Nationen, in dem auch Deutschland wieder als wichtiges Element eine seiner Bedeutung entsprechende führende Rolle zu spielen vermochte. Darauf hoffte Charles de Gaulle, der eine Europäische Gemeinschaft aus der Abhängigkeit von den USA lösen wollte, um die Alte Welt dazu zu befähigen, in einer künftigen Konstellation mehrerer Groß- und Weltmächte wieder selbstbewusst auftreten zu können.
Charles de Gaulle verstand sich nicht als Gegner des Westens oder der USA. Er hatte an deren Seite im Zweiten Weltkrieg gekämpft, aber immer darauf bedacht, dass die „Angelsachsen“ – wie er Briten und Amerikaner stets zusammenfasste – die Eigenständigkeit und Mitsprache Frankreichs in sämtlichen Angelegenheiten der künftigen Staatenordnung anerkannten. Diese waren dazu gar nicht bereit, weil für sie Frankreich nach dem Sieg des Deutschen Reiches im Sommer 1940 nicht mehr als Staat existierte, weshalb sie beanspruchten, nach dem Krieg ein Frankreich nach ihren Vorstellungen zu schaffen.
General de Gaulle hatte sich geweigert, die französische Kapitulation hinzunehmen und floh nach London, von wo aus er um sich einige Emigranten scharte, die sich als das freie und kämpfende Frankreich verstanden und als Repräsentanten der einen und unteilbaren Nation auftraten, ohne deren Mitsprache ein Europa nach dem Kriege gar nicht aufgebaut werden könne.Erstaunt und betrübt beobachtete er, wie der britische Premier Winston Churchill kaum noch Anstrengungen unternahm, Herr im eigenen Haus zu bleiben und eine britische Selbstständigkeit gegenüber den USA zu wahren.
Beschwörung französischer Größe
Diese Fügsamkeit, die einem künftigen Europa abträglich sein müsste, bestärkte ihn darin, kompromisslos die französische Souveränität hervorzuheben, womit er „den Angelsachsen“ gründlich auf die Nerven fiel. Seinen nahezu heroischen Kampf für die Freiheit Frankreichs schilderte er mit größter Erzählkunst in seinen Memoiren, ein Meisterwerk historisch-politischer Vernunft und lateinischer Klassizität. Seine Beschwörung der Ehre und Größe Frankreichs, das 1500 Jahre um seine Unabhängigkeit gekämpft hatte und auch nach Niederlagen an seiner Bestimmung festhielt, mit seiner Freiheit die von Europa zu verteidigen, richtete sich aber auch nach innen, in das besiegte und verworrene Frankreich, gespalten in Gruppen und Parteien.
Die Katastrophe von 1940, die er nicht beschönigte, war für ihn das Ergebnis unentschlossener Parteipolitiker, die ratlos zwischen Rom, Moskau und Berlin hin und her schwankten und überhaupt gar nicht mehr wussten, welche Interessen für Frankreich ausschlaggebend sein müssten.
Nach der Niederlage löste sich endgültig ein klares Bild von nationaler Eintracht und Würde auf. General de Gaulle schien es daher notwendig, unter den miteinander hadernden Franzosen wieder Einigkeit zu stiften, um überhaupt ein festes Selbstbewusstsein wieder zu ermöglichen. Er sann nicht auf Rache im innerfranzösischen Bürgerkrieg, er achtete auch in Kollaborateuren mit den Deutschen aufrechte Patrioten, die sich irrten, aber nicht unbedingt „unfranzösisch“ handelten. Es erschien ihm unumgänglich, dennoch die auffälligsten Zuarbeiter der Gestapo oder der Wehrmacht zu bestrafen. Doch es sollten französische Gerichte sein, die über Franzosen urteilten, nicht alliierte Sieger mit ihrer Siegerjustiz. Dann hätte ja nur eine andere Besatzungsmacht die deutsche abgelöst. Sein erfolgreicher Kampf um die französische Souveränität galt auch der Absicht, in allen inneren Belangen, eben auch bei der Auseinandersetzung mit den verirrten Landsleuten, in voller Unabhängigkeit von anderen Mächten handeln zu können.
Für ein Europa freier Völker
Als Mann des Staates und der Ordnung bemühte er sich, 1944 bis 1946 als Staatschef, die unvermeidlichen Exzesse bei der Abrechnung mit den Besiegten einzuschränken und dem Recht auch in dieser Ausnahmesituation am Ende eines Bürgerkrieges Geltung zu verschaffen. Die meisten Todesstrafen änderte er um in Haftstrafen. Bei einigen fiel es ihm schwer, Gnade walten zu lassen, aber es befriedigte ihn sehr, wenn sie mit Todesverachtung bestätigten, so unerschrocken zu sterben, wie es sich für Franzosen, die ihre Ehre nicht vergessen sollen, gehört. Eine ähnliche, viele Umstände bedenkende Rücksicht, wollte er auch im Umgang mit Italien, Spanien oder Deutschland gewahrt wissen. Dabei bestätigte sich eindrucksvoll, dass der Einsatz für die französische Souveränität gerade auch den Zweck verfolgte, dass Europa nicht in einer „Pax americana“ um seinen besonderen Rang gebracht werden würde. Ein Europa freier Völker und souveräner Staaten von Gibraltar bis zum Ural, das gesamte Europa, einig in seiner Vielfalt, schwebte ihm für die Zukunft vor. Das war eine zu kühne, revolutionäre Idee für viele Westdeutsche, die Nation und Souveränität für von der Geschichte widerlegte, eben vorübergehende Erscheinungen begreifen wollten.
Sie sprachen vage von deutsch-französischer Freundschaft, ohne Frankreich und Deutschland als politisch-historische Gegebenheiten gründlich zu bedenken; eingebunden in einen „Westen“, der sich im Kalten Krieg gegen den Osten ideologisch konstituierte. Vom Westen sprechen Deutsche weiterhin wie von einer Erlösungsgemeinschaft, während er für de Gaulle – etwa in Form der NATO – nur eine vorläufige, praktische Allianz war. Bündnisse hielt er für flüchtige Übereinkünfte. Sie haben ihre Zeit, wie Rosen und junge Mädchen, denn sie verblühen. Zu seiner Enttäuschung bemerkte er bald nach seiner Reise durch die Bundesrepublik, dass mit den Deutschen keine realistische Europapolitik in seinem Sinne möglich war.
Charles de Gaulle war noch ein richtiger Alteuropäer, ein Christ, ein Lateiner und ein klassischer Humanist. Er sprach viel von der Größe Frankreichs, gerade weil er die Schwächen seines Vaterlandes kannte, das ab 1789 von einem Verfassungszustand in den nächsten taumelte. Von der Parteiendemokratie hielt er nichts. Aber auch seine monarchische Verfassung, die Frankreich eine Zeit lang beruhigte, ist längst zur Beute der Parteien geworden. Als Christ und stoischer Klassizist war dieser große Patriot und Europäer allerdings nicht zu erschüttern, da – trotz aller politischen Leidenschaft – von der Nichtigkeit der Dinge durchdrungen.
sitra achra am 14.11.20, 18:04 Uhr
Wie peinlich, Korrektur: mir ... imponiert.
sitra achra am 07.11.20, 10:50 Uhr
Es war Charles de Gaulle, dessen Rede in unserem Restdeutschland bei mir bleibenden Einfluss als Teen (damals 14 Jahre alt) hervorgerufen hat. Er hat meine Liebe und meine Bewunderung für Frankreich bis heute beflügelt und zu meiner Berufswahl entscheidend beigetragen.
Deshalb mein Appell, das wahre Europa nicht nur geographisch, sondern auch kulturell nicht zur bis zum Ural, sondern bis Wladiwostok als Eurasische Union wiederzuvereinigen. Nur so kann Europa erfolgreich weiterexistieren.
Entgegen der Aussage Ihres Artikels, dass es de Gaulle gelungen sein sollte, Kollaborateure zu schützen, ist tatsächlich doch ein fürchterlicher Rachefeldzug mit zahlreichen Ermordungen durchgeführt worden. Deutsche Kriegsgefangene wurden auch massenweise in den Tod geschickt und unbarmherzig behandelt (Mitteilung eines betroffenen Augenzeugen).
Ein sehr guter Europäer in der Nachfolge de Gaulles-obwohl mehr gesamteuropäisch als national gesinnt-scheint mir Sarkozy zu sein, dessen Memoiren derzeit aktuell auf dem Markt sind.
Mehr als Kennedys Auftritt in Berlin hat mich Ronald Reagans Rede in Berlin imponiert: Tear the wall down!
Heute jedoch ist unsere gesamte Zivilisation in Gefahr, der Feind befindet sich im Innern, die Schäden, die er anrichtet, sind immens, ein Dialog mit diesen institutionell abgesicherten Nihilisten ist aus meiner Sicht schlicht unmöglich. Man muss sie, z.B. die Kevins dieser Republik, mit allen erdenklichen Mitteln, zur Räson bringen. Da ist nicht nur Phantasie, sondern äußerste Entschlossenheit und Tatkraft verlangt. Erste Anzeichen des Widerstands sind gottlob schon sichtbar. Es wird ein harter Strauß werden, doch die Freiheit (liberty) wird sich letzten Endes durchsetzen!
Siegfried Hermann am 06.11.20, 09:55 Uhr
...Ein Europa freier Völker und souveräner Staaten von Gibraltar bis zum Ural, das gesamte Europa, einig in seiner Vielfalt....
Das war die Vision eines großartigen Mannes und Politiker von Format, den es so wohl nur alle 100 Jahre einmal gibt.
Heute brauchen Europa bitter, bitter nötig, gleich reihenweise solche Männer, die seine Vision zum Wohle der europäischen Völker umsetzen und kein
Mafia-Konzern-shithole und Selbstbedienungsladen wie in Brüssel.