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Leitartikel

Ein Jahr nach der Flut

Gedanken zur Aufarbeitung der Hochwasserkatastrophe im Sommer 2021

René Nehring
15.07.2022

Vor einem Jahr ereilte Deutschland mit dem Hochwasser an Ahr, Erft und Nette eine der schlimmsten Naturkatastrophen seiner jüngeren Geschichte. Mehr als 180 Menschen starben in den Fluten, ganze Straßen und Bahntrassen wurden zerstört, unzählige Autos und sogar Häuser wie Spielzeug hinfortgespült.

Der erste Jahrestag ist nach jeder Tragödie ein Zeitpunkt nicht nur der Erinnerung an das Unglück, sondern auch einer Zwischenbilanz von dessen Aufarbeitung. Wurden Verantwortliche für die Katastrophe ausgemacht – und mussten sie sich ihrer Verantwortung stellen? Welche Folgen wurden gezogen, um ähnliche Vorfälle in Zukunft zu verhindern? Und haben die Ereignisse unser Land in irgendeiner Weise verändert?

Die Antwort darauf ist vielschichtig. An einer juristischen Bewertung versucht sich die Staatsanwaltschaft Koblenz, die noch immer gegen den ehemaligen Landrat des Landkreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler, wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung ermittelt. Pföhler hatte den Katastrophenalarm zu spät ausgelöst. Andere Ermittlungen richten sich etwa gegen die Verantwortlichen eines Pflegeheims in Sinzig, in dem allein zwölf Menschen starben, weil sie nicht rechtzeitig evakuiert wurden.

Politisch ging die Aufarbeitung deutlich schneller voran. Fast alle verantwortlichen Landes- und Kommunalpolitiker mussten von ihren Ämtern zurücktreten. Den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU), der während eines Besuchs im Flutgebiet gefilmt worden war, wie er über einen Witz feixte, kostete das Hochwasser sogar den zuvor sicher erscheinenden Sieg bei der Bundestagswahl im Herbst 2021. Auch die Grünen-Politikerin Anne Spiegel kostete die Flutkatastrophe die politische Karriere. Nach ihrem Totalausfall als verantwortliche Landespolitikerin in Rheinland-Pfalz flüchtete sie sich nach Berlin und wurde dort nur wenige Monate später von den Fluten erfasst. Einzig verschont geblieben ist die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, obwohl in ihrem Bundesland mit Abstand die meisten Opfer zu beklagen waren.

Im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe war vielfach von einem „Staatsversagen“ die Rede. Dies ist jedoch nicht ganz korrekt, denn zum Staat gehören auch Bundeswehr, Polizei und THW, die in den Wochen und Monaten nach dem Unglück oft das einzige waren, was funktionierte. Fakt ist jedoch, dass sich viele Bürger der betroffenen Region bis heute im Stich gelassen fühlen.

Noch längst nicht abgeschlossen ist die technische Aufarbeitung des Sommers 2021. In zahlreichen Ausschusssitzungen wurde in den vergangenen Monaten erörtert, wie es zu dem Unglück kommen konnte – und wie ähnliche Katastrophen künftig verhindert werden können. Ob diese Beratungen zu einem Ergebnis führen werden, kann bezweifelt werden. Erst vor wenigen Tagen beklagte etwa Albrecht Broemme, ehemaliger Präsident des THW, in einer Anhörung des Bundestagsausschusses für Inneres und Heimat, dass seit Jahren immer wieder die gleichen Fehler gemacht würden. Neben einer mangelhaften Fehlerkultur beklagte er auch eine „Hochwasserdemenz“: Nach einem halben Jahr sei die Hälfte des Geschehens vergessen, nach einem Jahr alles.

Auch dass viele Stimmen in Politik, Wissenschaft und Medien umgehend den menschengemachten Klimawandel für die Flutkatastrophe verantwortlich machten, lässt befürchten, dass unser Land in ähnlichen Situationen künftig kaum besser gewappnet ist. Denn wo ein Unglück als Folge höherer Gewalt verstanden wird, trägt kein irdisch Handelnder irgendeine Schuld.

Der einzige Hoffnungsschimmer in den letzten zwölf Monaten waren und sind die Bürger dieses Landes. In der Region selbst haben sie sich trotz aller Verzweiflung ihrem Schicksal gestellt. Sie haben eigenverantwortlich die Trümmer beiseitegeräumt, wobei viele Häuser noch im Nachhinein abgerissen werden mussten, sie haben den Wiederaufbau ihrer Heimat eingeleitet und einander Trost gespendet. Ebenso beachtlich war die Solidarität aus allen deutschen Landen sowie aus dem europäischen Ausland in Form von tausenden ehrenamtlichen Arbeitsstunden sowie von enormen Geld- und Sachspenden.

Das ist vielleicht das einzig Tröstliche an dieser Katastrophe – dass die Menschen unserer im Alltag allzu oft als Gemeinschaft von Egoisten und Neidern beschriebenen Gesellschaft in Zeiten der Not noch immer zu großartigen Leistungen gegenseitiger Hilfe fähig sind.


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