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Ein Leuchtturm der Humanität

Arno Surminski zum 90. Geburtstag. Die Hommage eines langjährigen Freundes an einen Autor, dessen Geschichten zumeist im ostpreußischen „Irgendwo“ spielen, jedoch von großer Bedeutung für das „Überall“ unserer Welt sind

Klaus Weigelt
20.08.2024

Arno Surminski ist ein Erzähler von hohem Rang. Er ist der letzte große Schriftsteller Ostpreußens, das als östlichste Region des früheren Deutschen Reiches reich war an literarischen Größen. Man denke nur an Arno Holz, Siegfried Lenz, Agnes Miegel, Hermann Sudermann oder Ernst Wiechert. In diese Reihe gehört auch Arno Surminski. Er nimmt die Leser mit hinein in seine Geschichten, er spricht mit ihnen, er lässt sie teilnehmen, teilhaben und miterleben, was er schildert. Sein großes Werk ist von einer universalen Vielfalt.

Arno Surminski stellt keine Schilderungen distanzierter, entfernter Ereignisse vor uns auf, sondern er nimmt uns mit in die Unmittelbarkeit des Geschehens, des Geschilderten, was auch immer wir an Büchern von ihm in die Hand nehmen. Der fast immer durchscheinende autobiographische Hintergrund seiner Bücher wird nie dominant, vielmehr bleibt er fast verborgen. Blicken wir auf:

· seine frühen Werke vor fast 50 Jahren über Heimatverlust, Flucht, Vertreibung und Ankommen in einem fremden Land, wie seine Romane „Jokehnen“ und „Kudenow“,

· seine erschütternde Schilderung der Teilung Deutschlands in der Liebesgeschichte „Polninken“;

· seine unter die Haut gehende Darstellung der NS-Verbrechen in „Winter fünfundvierzig oder Die Frauen von Palmnicken“;

· die Suche nach der Verheimlichung des Holocaust durch die Nationalsozialisten in „Die Vogelwelt von Auschwitz“;

· den Untergang Königsbergs, beobachtet aus der Ferne der Kurischen Nehrung und aus
der unmittelbaren Nähe von Maraunenhof im Norden Königsbergs in „Sommer vierundvierzig oder Wie lange fährt man von Deutschland nach Ostpreußen?“;

· die menschenverachtende Grausamkeit des französischen Diktators Napoleon und sein Scheitern in „Der lange Weg. Von der Memel zur Moskwa“;

· die verhängnisvolle deutsche Geschichte von 1918 bis 1948 am Beispiel des Wilhelm Bubat in dem mitreißenden Roman „Irgendwo ist Prostken. Roman eines masurischen Lokführers“.

Immer hat Surminski seine eigene Perspektive, seine eigenen kleinen Helden, die mit dem Leser die historischen und politischen Ungeheuerlichkeiten erleben, die der Autor zu schildern weiß – besonders berührend auch bei der Suche nach dem Vater in dem Buch „Vaterland ohne Väter“ oder der Suche nach Möglichkeiten der Trauer in dem Band „Von den Kriegen“.

Vermächtnisse eines ungeheuren Verlustes
Dennoch sind Surminskis Bücher in einem hohen Maße politisch. Sie fordern den Leser, ohne ihn zu belehren, dazu auf, sich in echt Kantischem Sinne seines eigenen Verstandes zu bedienen und zu politischen und historischen Urteilen zu gelangen, deren humane Grundlagen in den Werken des ostpreußischen Autors überall zu finden sind. Surminski ist ein Anwalt des Menschen, sein Anliegen ist die Humanität.

Darum geht es auch in „Sommer vierundvierzig“, einer erschütternden Hommage an die ostpreußische Heimat und deren Hauptstadt Königsberg, zugleich ein bleibendes Vermächtnis dieses ungeheuren Verlustes. Sicher macht es einen großen Unterschied, ob dieses Werk ein älterer Mensch liest, einer, der all das kennt, wovon in dem Buch die Rede ist. Oder ob ein junger Mensch zu diesem Buch greift, der sich erst einmal auf einer Ostpreußenkarte kundig machen muss, um zu erkennen, in welchen heute russischen und litauischen Regionen die Geschichte spielt, die da erzählt wird. Auch wenn der Autor dieser Zeilen zur ersten Kategorie der Zeitzeugen zählt, so meint er doch, dass dieses Buch, wie eigentlich alle Bücher Surminskis, auch für junge Menschen geschrieben ist, wenn sie denn ein Interesse für diese einstmals so bekannte europäische Region, oder auch für andere Länder, wie Kanada oder die Vereinigten Staaten, über die der Autor geschrieben hat, mitbringen.

Die Exzesse der Kriege und die distanzierte Haltung der Landsleute
Der Roman „Sommer vierundvierzig“ erzählt im ersten Teil elf Tage im August 1944, im zweiten Teil ein ernüchterndes Wiedersehen der Nehrung nach einem halben Jahrhundert im Sommer 1994. Hauptperson ist der Soldat Hermann Kalweit, der vor 80 Jahren seinen Fronturlaub erlebt. Von Italien kommt er nach Königsberg, von dort geht er auf die Kurische Nehrung, und über Königsberg muss er zurück in den Krieg. Die goldenen Tage seines Urlaubs auf der Kurischen Nehrung sind die Begegnung und zarte Liebe mit Magdalena, einer rätselhaften jungen Frau, deren Identität im Dunkel bleibt und die in den Wirren des Krieges verschwindet.

Die erste Bombardierung Königsbergs dauert in der Nacht vom 26. auf Sonntag, den 27. August neuneinhalb Minuten. Die sonst verdunkelte Stadt leuchtet rot in der Nacht von Süden her, aber von der Nehrung aus erlebt man das Ereignis wie einen „Stummfilm“, weil der Bombenhagel aus dieser Entfernung nicht zu hören ist. Vom Zug aus erlebt Hermann die zweite Bombardierung Königsbergs vom 29. auf den 30. August von Maraunenhof aus. Nun bekommt das Inferno einen beängstigenden Ton. Der Held des Buches sieht das Feuermeer, die Rauchsäule bis zu den Sternen und erlebt die Wut und Verzweiflung der Bevölkerung, die für den Terrorcharakter der Bombardierungen nur Rachegedanken hegt. Hermann durchstreift die zerstörte Stadt und besucht ein letztes Mal die Münzstraße, die vollständig in Trümmern liegt: „Es kam ihm plötzlich so sinnlos vor, weiterzukämpfen, zu töten und Städte in Trümmerfelder zu verwandeln.“ Die Sinnlosigkeit des Krieges: Quintessenz eines Romans, der noch einmal so viele schöne Seiten Ostpreußens aufleuchten lässt.

„Irgendwo ist Prostken“, Surminskis vorletzter großer Roman, ist nicht nur ein Buch mit zahlreichen Details der deutschen Geschichte, sondern vor allem eine Auseinandersetzung mit den Unsäglichkeiten deutscher Zeitgeschichte. Es geht Surminski um:

· die Unmöglichkeit, die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu begreifen, in ihrem Kern zu verstehen, mit ihr „fertig“ zu werden;

· die Überforderung jedes nachdenklichen Menschen, die Exzesse der beiden Kriege, die Verbrechen an Frauen und Kindern, die distanzierte Haltung der Mehrheit der Deutschen zu ertragen;

· die Unfassbarkeit des gewaltsamen Verschwindens von Menschen, Heimat und Vaterland durch Ungeist, Verbrechen und Krieg.

Ein bleibendes Lebensthema
Arno Surminski wird mit dem Thema des historischen Wahnsinns, der Gewalt und des Krieges nicht fertig. Es ist und bleibt sein
Lebensthema. In dem Antikriegsroman „Der lange Weg“ stellt er das Thema des Russlandfeldzugs Napoleons von 1812/13 in die historische Distanz und erlaubt dem Leser eine die eigene Existenz nicht berührende, beobachtende Sicht.

In „Irgendwo ist Prostken“ wird diese Distanz aufgehoben: Der Geschichtsverlauf vom Ersten Weltkrieg über die Weimarer Zeit, den Sieg der braunen Bewegung und den Antisemitismus bis zum Zweiten Weltkrieg, dem Hauptteil des Buches mit allen Schrecken und Verbrechen bis zum Niedergang, geht den Leser unmittelbar etwas an – je weiter die Geschichte vorrückt, umso mehr.

Die Personalisierung dieser Geschichte in dem Erleben und Handeln des Lokführers Wilhelm Bubat rückt die eigene Haltung mehr und mehr ins Zentrum: Der Leser kann nicht neutral bleiben, er wird zur Positionierung veranlasst. Wer Wilhelm Bubat für seine Entscheidungen oder Nichtentscheidungen, für seine Neutralität oder sein Wegducken kritisiert, muss sagen, wie er selbst wohl in dessen Situation gehandelt, geredet, gedacht hätte. So ist Prostken nicht irgendwo, sondern überall.

Der Leser lernt von Surminskis Lokführer in den 101 Kapiteln des Buches viel über drei Jahrzehnte deutsche Geschichte und über die Entwicklung des Schienenverkehrs in dieser Zeit. Zudem lenkt der Autor den Blick kontinuierlich auf deutsche Landschaften, die heute, gerade im 34. Jahr der deutschen Einheit längst der deutschen Geschichtsvergessenheit anheimgefallen sind: vor allem Ostpreußen mit seiner weiten Schönheit, aber auch der „polnische Korridor“ in den 1920er und 1930er Jahren, Oberschlesien und die von den Nationalsozialisten geschändeten Regionen Litauens, Weißrusslands, der Ukraine und Polens.

Motive eines großen Erzählers
Wer Arno Surminski und seine Bücher kennt, weiß, dass sich hinter seinem oft trockenen und sachlichen Erzählstil des Berichts, der Schilderung, der lakonischen, manchmal ironischen Kommentierung, der distanzierten Betrachtung immer auch eine erkennbar betroffene Anteilnahme verbirgt, die seine Bücher und insbesondere dieses Buch seines Lokführers auszeichnet. Ein großes Buch eines großen Autors!

Surminski erzählt von Kriegen, um für den Frieden zu werben; er berichtet von Vertreibungen, um sich für die Heimat einzusetzen. Er schildert Verbrechen, nicht um Rache zu schüren, sondern um zukünftigen Verbrechen entgegenzutreten. Hier ist er der Königsbergerin Käthe Kollwitz verwandt in ihrem Aufruf „Nie wieder Krieg!“

Surminskis Blick liegt immer wach und kritisch auf dem Weltgeschehen und auf den dafür Verantwortlichen. Sein literarisches Anliegen gilt solidarisch den Betroffenen, den Leidenden, den Opfern. Davon erzählen auch seine letzten Bücher „Als der Krieg zu Ende ging“ und „Als die Stadt brannte“. Sein Anliegen ist geprägt von einem tiefen ethisch-literarischen Humanismus. Seine Haltung macht Arno Surminski exemplarisch in unserer heutigen deutschen Literaturlandschaft.

Für Ostpreußen ist Surminski zum Leuchtturm einer Humanität geworden, die zu erhalten sein Vermächtnis für die kommenden Generationen ist.

Arno Surminski ist, gemeinsam mit seiner Frau Traute, ein langes Leben beschieden. Er hat es genutzt und seine ständig wachsende Leserschaft mit einem Schatz literarischer Kostbarkeiten beschenkt, die das Weltbürgertum Ostpreußens im Sinne Immanuel Kants verkörpern. Der Königsberger Weltweise, der das Grundgesetz des „Ewigen Friedens“ 1795 geschrieben hat, wurde vor 300 Jahren geboren, Arno Surminski vollendet am 20. August 2024 sein 90. Lebensjahr. Dem Jubilar und seiner Traute gebühren die höchsten Ehren und alle guten Wünsche für Gesundheit und weitere Jahre einer nicht endenden Schaffenskraft.

Klaus Weigelt ist Vorsitzender der Stadtgemeinschaft Königsberg sowie Begründer und Stellvertretender Vorsitzender der
Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft.


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Kommentare

Chris Benthe am 23.08.24, 14:57 Uhr

Ich verneige mich vor diesem großen Autor. Danke für die Würdigung.

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