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Sicherheitspolitik

Ein Ruf zu mehr Realismus von höchster Stelle

In einem Interview hinterfragt der Generalinspekteur der Bundeswehr gängige Erzählungen zum Ukrainekrieg – und bewegt damit die internationalen Gemüter

Bodo Bost
21.09.2022

Eberhard Zorn hat der Ukraine auch nach deren erfolgreicher Offensive bei Charkiw keine großen Erfolgsaussichten im Kampf gegen Russland prognostiziert. Russland verfüge noch über freie Kapazitäten, um eine zweite Front im Krieg gegen Deutschlands NATO-Verbündete zu eröffnen, und die Bundesrepublik habe der Ukraine bereits jede erdenkliche militärische Hilfe geleistet, sagte der Generalinspekteur der Bundeswehr in einem Interview mit dem Magazin „Focus“.

Diese Aussagen haben eine internationale Lawine der Kritik ausgelöst. Der ehemalige Befehlshaber der US-amerikanischen Streitkräfte in Europa, General a.D. Ben Hodges, nannte die Aussagen des Bundeswehrchefs eine „erschütternd schlechte“ Analyse der Fähigkeiten der russischen Armee, die leider einen Großteil des Denkens der deutschen „Elite“ widerspiegele. Dabei setzte er Elite bewusst in Anführungszeichen.

„Obwohl 60 Prozent der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine eingesetzt werden, verfügt Russland noch über freie Kapazitäten vor allem in der Luftwaffe und Marine“, so Zorn. „Wenn Putin eine Generalmobilmachung anordnet, hat er keinen Personalmangel mehr“, so der deutsche Generalinspekteur weiter. Ein Entlastungsangriff Putins könnte in der Nähe von Königsberg, an der Ostsee oder an der finnischen Grenze stattfinden.

„Finnland allein könnte die derzeitigen russischen konventionellen Streitkräfte vernichten, (...) Litauen/Polen würden Königsberg in einer Woche erwürgen“, twitterte und konterte Hodges. Tatsächlich hatte Finnland zu Beginn des Winterkriegs von 1939/40 ohne ausländische Unterstützung einem Angriff der Roten Armee monatelang standgehalten, ehe es im Friedensvertrag von Moskau erhebliche territoriale Zugeständnisse machen, vor allem große Teile Kareliens abtreten musste.

Zweifel an „Gegenoffensive“

In demselben Interview sagte Zorn, er sei „vorsichtig“, den ukrainischen Vorstoß als Gegenoffensive zu bezeichnen, denn die ukrainischen Gegenangriffe „können dazu dienen, Gebiete oder eingedrungene Sektoren der Front zurückzuerobern, aber nicht, Russland auf breiter Front zurückzuschlagen“. Er bezweifelte auch, dass die Ukraine in der Lage sein würde, eine Gegenoffensive aufrechtzuerhalten, da es dem Land an Personal mangeln könnte. Die ukrainische Armee agiere zwar „klug, bietet selten eine Breitseite und führt souverän und sehr beweglich die Operationen“. Noch vor zwei Wochen habe er geglaubt, dass der gesamte Donbass in sechs Monaten in russischer Hand sein werde. „Heute sage ich: Das werden sie nicht schaffen.“ Aber ob die Ukrainer wirklich die Kraft für eine umfassende Gegenoffensive hätten, bezweifelt der ranghöchste Soldat der Bundeswehr: „Sie bräuchten eine Überlegenheit von mindestens 3 zu 1“.

Zorn erklärte auch, dass Deutschland bereits alle möglichen Waffen an die Ukraine übergeben habe und hoffe, sie zurückzubekommen, da sie zur Abschreckung benötigt würden. „Alles, was wir gegeben haben, werden wir zurückbekommen müssen (...) Wir brauchen die richtigen Kräfte für eine wirksame Abschreckung. Unsere Partner erwarten das von uns“, so der General gegenüber „Focus“.

Deutschland wird zunehmend von der NATO-Führungsmacht USA schleppende Lieferung von Militärhilfe an die Ukraine vorgeworfen, obwohl Bundeskanzler Olaf Scholz versprochen hat, dass moderne Luftabwehrsysteme an die Ukrainer geliefert würden. Von denen könnten zwei jedoch erst Ende dieses Jahres und zwei weitere im nächsten Jahr eintreffen.

Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) erklärte gegenüber „The Telegraph“, dass die Äußerungen des deutschen Generals „ein Versuch waren, Deutschlands eigene Ängste zu beruhigen“. „Die Sozialdemokraten wollen nicht“ mehr Waffen „liefern und ziehen jetzt alle Register“, so der Analyst. Rob Lee, ein Forscher in der Abteilung für Kriegsstudien am King's College London, nannte die Behauptungen des deutschen Generals „bizarr“.


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Kommentare

B. Restli-Towsk am 02.10.22, 09:23 Uhr

Herr Zorn liegt mit seiner realistischen Einschätzung der Lage im Russisch-Ukrainischen Krieg vollkommen richtig, und sollte sich von den Anwürfen ausländischer Elite-Spezialisten nicht beeindrucken lassen! Insbesondere wenn man bedenkt, daß Deutschland, bzw. das was jetzt noch davon übrig ist, ja bereits mehrere Versuche die Ukraine zu befreien hinter sich gebracht hat, welche maßgeblich aufgrund des Eingreifens der USA gescheitert sind! Angesichts dessen und der grünäugigen Naivität großer Teile der deutschen Politik, die offensichtlich glaubt, daß diesmal ja alles ganz anders werden wird, stellt sich einem dann doch die bange Frage wie groß unser Land denn jetzt eigentlich noch werden soll!

Ralf Pöhling am 21.09.22, 21:35 Uhr

Zorn hat vollkommen recht und offenbart in der Tat gesunden Realismus. In Deutschland haben wir eine Jahrhunderte währende militärische Tradition und sehr viel praktische Erfahrung, aus der Zorn schöpft. Die Russen haben derzeit etwa eine Million aktive Soldaten, zwischen 2 und 2,5 Millionen (die Zahlen variieren) Reservisten und immer noch das größte Atomwaffenpotential der Welt, noch vor den USA. Wenn da US General a.D. Hodges nun meint, selbst die Finnen mit ihren nur 23.000 aktiven Soldaten könnten mal eben die Russen besiegen, ist das nicht nur völlig unsachlich, es offenbart wohl eher, wer hier wirklich die "Elite" ist. Entweder weiß Hodges nicht, wovon er redet, oder er will Europa in einen Krieg mit den Russen treiben und verheizen.
Wir befinden uns nicht mehr im Jahr 1939, wo die Russen noch von Material und Organisation massiv unterlegen waren und deswegen die Finnen nicht erobern konnten. Man muss zudem bedenken: Die Russen haben es bereits ab 1942 geschafft, die damals stärkste Armee der Welt, die deutsche Wehrmacht, erfolgreich aus ihrem eigenen Territorium bis ins deutsche Kernland zurückzuschlagen, danach sogar Berlin einzunehmen und mehr als ein Drittel unseres Landes über Jahrzehnte zu besetzen. Selbst Hitler und der deutsche Generalstab haben damals nicht glauben wollen, wie schnell die Russen in kürzester Zeit Unmengen an überlegenen(!) Panzern und Soldaten aus dem Boden gestampft haben. Und das hat uns letztlich den Sieg und unsere Freiheit gekostet. Russland ist gewaltig groß, ist deshalb niemals zu besetzen und hat zudem enorme Ressourcen. Wer das einfach ignoriert, ist mit Sicherheit kein militärischer Stratege oder er spielt falsch. In dem Zusammenhang ist es schon auffällig, dass es gerade die Amerikaner sind, die uns andauernd zu Waffenlieferungen in die Ukraine nötigen wollen. Wenn wir keine Waffen mehr haben, weil wir sie komplett an die Ukraine abgegeben haben, könnten die Russen uns erst recht überrennen. Aber vielleicht ist es ja genau das, was die Amerikaner bezwecken. Ich werde langsam skeptisch, auf welcher Seite die Amerikaner wirklich stehen. Oder ist es vielleicht doch nur mangelnder Realismus? Die Bilanz der amerikanischen Streitkräfte bzgl. gewonnener Kriege ist unter dem Strich nicht besonders gut. Stichworte sind hier u.A. Korea, Vietnam, Irak und zuletzt Afghanistan. Wirklich gewonnen haben die Amerikaner da nirgendwo.

Michael Holz am 21.09.22, 20:09 Uhr

"Zorn erklärte auch, dass Deutschland bereits alle möglichen Waffen an die Ukraine übergeben habe und hoffe, sie zurückzubekommen, da sie zur Abschreckung benötigt würden. "
Sicherlich, der ausgebrannte Schrott könnte in irgendeinem Stahlwerk in Deutschland eingeschmolzen, das Material an eine Waffenschmiede abgegeben und wieder daraus dann nun ein Leopard "3" gebaut werden - wenn - es denn noch solche Betriebe gibt, die Habeck noch nicht platt gemacht hat. Herr Zorn ich lach mich schlapp!

Gustav Leser am 21.09.22, 14:00 Uhr

Bei den Bundeswehroffizieren macht sich Realismus breit

Das heißt, sie sind in der Lage,
den Rat von Ex-Vert.-Staatssekretär Willly Wimmer umzusetzen:

"Den Gegner, der uns hier ins Haus gestellt werden soll,
durchwinken bis an den Ärmelkanal,
damit sich die Probleme regeln."

Der Krieg ist wohl unvermeidlich.
Aber wir können den Schaden für Deutschland minimieren.

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