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Ein Hauch von k.u.k.: Die Altstadt von Temeswar
Foto: MartinEin Hauch von k.u.k.: Die Altstadt von Temeswar

Reise

Ein Stück deutsches Lebensgefühl

Temeswar im Banat wird 2023 Kulturhauptstadt Europas. Anlass für einen Besuch im „Klein Wien“ des Ostens, in dem eine aktive deutsche Minderheit lebt und wo sogar ein Bürgermeister aus Deutschland regiert

Anne Martin
04.10.2022

Krähen flattern in einem mächtigen Schwarm hoch über den Bega-Kanal, fliegen hinüber zur orthodoxen Kirche, deren grüngold gekachelte Türme in der Abendsonne leuchten, und verteilen sich krächzend in den Rabatten des langgezogenen Freiheitsplatzes. Es geht gemächlich zu auf dem Pracht-Boulevard, der geradewegs zur Oper führt: An einem Stand verkaufen Nonnen ihre Heiligenbilder, einige Roma-Frauen lassen sich mit ausgebreiteten Röcken auf den Bänken nieder, die Straßencafés sind luftig besetzt.

Wenige Monate noch, dann wird sich die Stadt mit dem Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ schmücken, dann wird sich zeigen, ob das Ausland neugierig wird auf dieses architektonische Kleinod im Osten Europas, in dem die deutsche Minderheit der Banater Schwaben ihre Bräuche bis heute lebt und wo im deutschsprachigen Nikolaus-Lenau-Lyzeum gleich zwei spätere

Nobelpreisträger die Schulbank drückten.
Erste Station einer deutschen Pressedelegation ist beim deutschen Bürgermeister, im Rathaus gleich links. In der Ecke des Sitzungszimmers hängt die rumänische neben der EU-Fahne. Seit 2007 gehört Rumänien zur Europäischen Union, nur bezahlt wird immer noch in Lei statt in Euro. Dominic Fritz stürmt herein, als käme er gerade vom Joggen. Ein junger Mann im lässig geknöpften Jackett, gerade 38 Jahre alt, der die Bürde des Amtes betont locker trägt. Fritz stammt aus dem tiefsten Schwarzwald. Während seines freiwilligen Jahres verliebte er sich in die Stadt und stellte sich im Spätsommer 2020 für die 2016 gegründete „Union Rettet Rumänien“, eine Bürgerrechts- und EU-freundliche-Partei, zur Wahl. Über 50 Prozent wählten ihn. Ein Erfolg, der auch eine Bürde ist.

„Von einem Deutschen wird erwartet, dass nach kurzer Zeit alles so ist wie in Deutschland“, sagt Fritz. Dagegen steht ein System von Vetternwirtschaft und Korruption, das nicht so schnell reformiert werden kann, wie er möchte. „Meine Personalentscheidungen wurden aus formalen Gründen immer noch nicht umgesetzt.“

Schwierig ist auch das Verhältnis zum Staatspräsidenten Klaus Johannis, einem Siebenbürger Sachsen. Gelder wurden versprochen, geflossen ist noch nichts. „Manchmal komme ich mir vor, als seien mir hinter dem Rücken die Hände gebunden.“ Fritz' Gegner warten nur auf Fehler, das ist in Rumänien so wie anderswo auch. Im letzten Winter war die Stadt wegen Insolvenz des Stromversorgers drei Tage lahmgelegt – prompt wurde Fritz das Desaster angelastet. Motto: „Kaum ist ein deutscher Bürgermeister hier, müssen wir frieren wie ehemals im Kommunismus.“

Immerhin: Die Vorbereitungen für den großen Auftritt auf europäischer Bühne nehmen Fahrt auf. Fünf der im Kommunismus verrotteten Kinos werden gerade renoviert, in einem früheren Straßenbahndepot soll ein Kunstzentrum entstehen, im Kunstmuseum ist eine glanzvolle Ausstellung mit Skulpturen des rumänischen Bildhauers Constantin Brancusi geplant.

Bericht eines Russlanddeportierten

Außerdem träumt Fritz von einem Revolutionspfad, der die Stationen der Freiheitsbewegung nachzeichnen soll. „Es ist uns leider noch nicht gelungen, als Revolutionsstadt sichtbar zu werden.“ Der Bürgermeister gibt sich optimistisch, das ist sein Job: „Hier hat Europa gelebt und geatmet, lange bevor es die EU gab. Ich habe den Ehrgeiz, den Blick Westeuropas auf Osteuropa zu ändern.“

Weiter geht es, durch ein Zentrum, in dem der Blick an frisch renovierten Fassaden im Sezessions-Stil hängenbleibt, an rot und zartgrün getönten Jugendstil-Ornamenten, an einer Pestsäule mit der Figur des heiligen Nepomuk. Italienische, österreichische und ungarische Architekten und Bildhauer hinterließen in Temeswar ihre Spuren. Nur das Revolutionsmuseum, versteckt in einem Hinterhof gelegen, hat von dem Verschönerungwillen bisher noch nicht profitiert. Als Geschenk der Bundesrepublik steht eine Stele der Berliner Mauer mit bunten Graffiti vor der Tür.

Ähnlich wie in der DDR entzündete sich der Umsturz auch in Rumänien im Umfeld der Kirche. Ein regimekritischer Pfarrer aus Temeswar sollte strafversetzt werden und weigerte sich. Erst versammelten sich einige Unterstützer, dann immer mehr, bis es im ganzen Land zu blutigen Aufständen kam. Im Dezember 1989 wurde der Diktator Ceaușescu gestürzt, vor der Oper in Temeswar feierten die Revolutionäre ein freies Rumänien. An der Hauswand gegenüber sieht man immer noch zahlreiche Einschusslöcher.

Weiter zum Müller-Guttenbrunn-Haus, einem sozialen Zentrum in Temeswar. Ignaz Bernhard Fischer, Vorsitzender des Vereins der ehemaligen Russlanddeportierten, wartet schon. 96 Jahre ist er alt, die hellblauen Augen verschwinden in einem Kranz aus Falten, aber wenn er seine Geschichte erzählt, dann steht er kerzengerade mit gestrafftem Rücken da.

Fischer berichtet, wie die Sowjets ihn mit 19 Jahren in einem Priesterseminar aufgriffen und in die Ukraine deportierten, wie er half, eine Aluminiumfabrik wieder aufzubauen, wie er mit den anderen in einem Zelt schlafen musste und als einzige Nahrung Kohlsuppe zu essen bekam – mit wenig Kohl. Und wie es ihm gelang, ein paar Scheite Holz zu sammeln, unterm Zaun durchzuschieben und an die Russen zu verkaufen. „Ich konnte mir selber helfen“, sagt der alte Mann.

Fischer erzählt seine Geschichte, solange er noch kann. Und zeigt uns im Foyer das große Gemälde von Stefan Jäger, das die Ankunft der Banater Schwaben vor rund 300 Jahren wie ein Bilderbuchmotiv darstellt. Bauern in bunten Trachten, die Frauen mit bestickten Kopftüchern, fromm und fleißig. Die Eingewanderten legten das Sumpfland trocken, drückten Samen in den Boden und fristeten ein karges Leben. Erst Generationen später keimte ein wenig Wohlstand. „Den ersten der Tod, den zweiten die Not, den dritten das Brot.“

Die Krähen steigen wieder hoch, es ist Zeit, zu Abend zu essen. Im Keller des „Miorita“ flackern Kerzen, Balkan Pop beschallt den Raum, und dann wird aufgetragen, dass sich die Tische unter den rot karierten Decken biegen – zunächst die Vorspeise, bestehend aus Wurst und grob geschnittener Gurke. Danach der Hauptgang, eine Schlachtplatte, überquellend aus Kotelett, Würsten, Schweinshaxe, halb versteckt unter den dampfenden Fleischbergen einige Krautwickel, ein paar Polentakleckse als Beilage. Dazu ein frisch gezapftes Bier der Eigenmarke Timisoreana. Mag das Land sich nach Europa strecken – die Küche ist deftig, so als ginge es morgens noch immer mit dem Leiterwagen hinaus auf die Felder.

Zwei Nobelpreisträger

Wie beschaulich es ist, mal wieder mit der Straßenbahn zu fahren. Türkis gestrichen, rattert die Tram mit der ersten Besuchergruppe durch die angrenzenden Stadtviertel. Die Elisabethstadt ist das Feine-Leute-Viertel, die Josefstadt eher bürgerlich, in der kreativen Fabrikstadt will der Bürgermeister sein Vorzeigeprojekt, ein umgewidmetes Straßenbahndepot, eröffnen. Wollte man einen Geräuschteppich von Temeswar ausbreiten, dann gehörte neben dem Schreien der Krähen auch die ratternde Straßenbahn dazu.

Zwei marmorne Plaketten im Foyer des Nikolaus-Lenau-Lyzeums erinnern an die berühmten Absolventen: Herta Müller erhielt 2009 den Nobelpreis für Literatur, Stefan Hell 2014 den für Chemie. Über 1600 Schüler lernen hier, verteilt auf vier Standorte. Bei einer Aufnahmeprüfung muss der zukünftige Lenau-Schüler belegen, dass er auf Deutsch wenigsten grüßen kann. Wobei in dieser 300.000 Einwohner zählenden Vielvölkerstadt, in der Rumänen, Deutsche, Ungarn, Serben und Roma zusammenleben, auch das österreichische „Grüß Gott“ gern gehört wird.

Wer auf Bildung hält, schickt sein Kind auf eine deutschsprachige Schule, Deutsch gilt in Rumänien als Eintrittskarte in die berufliche Karriere. Ob im Lenau-Lyzeum ein besonderes pädagogischen Konzept verfolgt wird? Da lächelt die Schulleiterin Elena Wolf, streicht die rosa Bluse glatt und gönnt sich einen Hauch von Stolz: „Unsere Schüler stellen Fragen. Und sie haben eine eigene Meinung.“ Was dringend gebraucht wird, sind deutschsprachige Lehrer, die allerdings bereit sein müssen, mit einem niedrigen Salär auszukommen.

Erst jetzt fällt auf, dass alle Gesprächspartner auf dieser Reise fließend deutsch sprechen, österreichisch und böhmisch gefärbt. „Paradeiser“ nennen sie hier die Tomaten, „Kasten“ ist ein Schrank. Deutsch wird hochgehalten, auch in der Redaktion der „Banater Zeitung“, wo die Redakteure aus einem einzigen Redaktionsraum mit wackeligen Stühlen heraus über alte Traditionen wie Kirchweihfeste berichten und schulterzuckend vermerken, dass längst auch die jungen Rumänen in Banater Trachten tanzen.

Und was ist mit der Zukunft der deutschen Minderheit, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in einem gewaltigen Exodus gen Deutschland auswanderte? „Die suchst du auf dem Friedhof“, knurrt der Korrektor leise. Weniger als 40.000 Rumäniendeutsche sind es wohl noch, die im Lande leben. Die Zukunft der deutschen Sprache dagegen scheint gesichert.
Auch Lucian Varsandan, Chef des „Deutschen Staatstheaters Temeswar“, ist Lenau-Absolvent und erläutert uns seine Bühne in fließendem Deutsch. Zuerst ein Blick auf die Probebühne, wo junge Schauspieler Sprechtraining erhalten: „Ich schnarche schrecklich schön. Nein, Du schnarchst schrecklich schön“, deklamieren sie mit heiligem Ernst. 145 Plätze hat sein Theater, ein weiterer Spielort ist versprochen, der Spielplan reicht vom „Dschungelbuch“ bis zu Tschechows „Die Möwe“. Wie alle Theater muss auch er sich um sein durch Corona verschrecktes Publikum mühen. Seit wenigen Monaten läuft neben den rumänischen Untertiteln ein Band mit der englischen Übersetzung.

Ganz große Oper

Auf große Gesten setzt Operndirektor Christian Rudik, ein ausgebildeter Bariton. Mit wehendem Schal eilt er voran, zeigt den prächtigen Zuschauerraum, definiert das Repertoire („Das Haus eignet sich optimal für Mozart-Opern“) und verrät seinen Traum: ein Eröffnungs-Konzert mit dem Tenor Jonas Kaufmann. Die Träume in Temeswar fliegen hoch.

Zum Schluss noch ein Blick in die städtische Synagoge, wo sich die Gemeinde im Gedenken an die aus Temeswar stammenden Opfer des Olympia-Attentats von 1972 versammelt hat. In der ersten Reihe sitzt schon Bürgermeister Fritz, die Kippa auf dem Kopf. Der Opernintendant eilt mit wehendem Schal hinzu – man kennt sich in dieser Stadt. Auch der deutsche Chef von „Continental“, der für seine Mitarbeiter im Gewerbegebiet ein modernes Bürohaus hinstellen ließ, duzt den Bürgermeister.
Wenige Monate noch, dann ist der prächtige Dom mit seinen barocken Altären nach der Restaurierung sicher wieder eröffnet, das Kunsthaus mit seiner Brancusi-Ausstellung auch, dann sind Oper und alle drei Staatstheater in vollem Betrieb, dann will Temeswar leuchten. Hinaus nach Europa, gern auch in die Welt.

• Reiseinformationen (auf Deutsch):
www.temeswar.info.  Kulturhauptstadt 2023
www.timisoara2023.eu


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