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„Ein Sturm im Pappbecher“

Mit einem Flugblatt aus der Schulzeit sollte Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger im Wahlkampf zu Fall gebracht werden. Die Affäre führt vor, wie der sogenannte Kampf gegen Rechts die deutsche Erinnerungskultur entwürdigt

Holger Fuß
07.09.2023

Es ist ein schauerliches Stück auf öffentlicher Bühne, das seit einigen Tagen zur Aufführung gelangt. Im Mittelpunkt steht der Chef der Freien Wähler, Bayerns Wirtschaftsminister und Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger, 52. Doch erzählt wird in dieser finsteren Posse vor allem über die emotionale Verfasstheit unseres Landes, über unsere politische Kultur, über unseren Umgang mit den Erinnerungen an die nationalsozialistischen Verbrechen sowie über unseren Hang zu Denunziation und Intrige.

Sechs Wochen vor der bayerischen Landtagswahl am 8. Oktober grub die „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“) aus der Schulzeit Hubert Aiwangers am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg ein Flugblatt aus. Wer das maschinengetippte Papier, das offenbar aus dem Jahr 1987 stammt, liest, den gruselt es spontan. In einem bizarren Duktus wurde darin ein fiktives Preisausschreiben ausgelobt, bei dem es einen „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ zu gewinnen gab oder einen „lebenslänglichen Aufenthalt im Massengrab“. Verfasser dieses Schund-Papiers, so die „SZ“, soll Hubert Aiwanger gewesen sein.

Beweisen kann es die Münchner Zeitung freilich nicht. Die „SZ“ erwähnt zwei Dutzend anonyme Zeugen, einstige Lehrer und Mitschüler, von denen einige behaupten, „Aiwanger sei als Urheber dieses anti-semitischen Pamphlets zur Verantwortung gezogen worden“. Der Disziplinarausschuss des Gymnasiums habe ihm „zur Strafe ein Referat über das ,Dritte Reich' aufgebrummt“. Hubert Aiwanger war damals 16 Jahre alt.

Die Absicht war von Beginn an klar
Ein Paukenschlag mitten im bayerischen Wahlkampf. Und ein vermeintlicher Knüller für die als linksliberal geltende Tageszeitung. Mit welcher Absicht die „SZ“ ihre Enthüllungsgeschichte lancierte, verkündete sie freimütig im Vorspann: „Seit Wochen steigen die Umfragewerte von Hubert Aiwanger. Aber jetzt ist da dieses Flugblatt, das er als Siebzehnjähriger (sic!) geschrieben haben soll, eine Hetzschrift, in der es um das ,Vergnügungsviertel Auschwitz' geht, um antisemitische Phantasien.“ Ganz klar: „Die Aiwanger-Welle rollte doch gerade so schön.“ Aber nun wollten die fünf „SZ“-Autoren diesen Liebling der Bierzelte im Steilflug abschießen wie eine Tontaube – mit einem holprigen Text voller Mutmaßungen, Andeutungen und Suggestionen. Denn die Erinnerungen namentlich nicht genannter Zeugen taugen bestenfalls für die Gerüchteküche, nicht aber für eine Beweisaufnahme.

So fiel das sorgsam ausbalancierte Kartenhaus der „SZ“ nach kurzer Zeit in sich zusammen, als sich Hubert Aiwangers ein Jahr älterer Bruder Helmut als Verfasser des Flugblatts präsentierte. Der war damals sitzen geblieben und ging mit Hubert in die 11. Klasse. Helmut, heute Büchsenmacher und Inhaber eines Waffengeschäfts, gab sich reumütig: Er habe mit dem Flugblatt weder Nazis verherrlichen, den Holocaust leugnen oder Hass und Gewalt schüren wollen. Er nannte das Schriftstück eine „stark überspitzte Form der Satire“, für das er sich heute schäme.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte die Angelegenheit erledigt sein können. „Ein Sturm im Pappbecher“, nannte Publizist Henryk M. Broder die Aufregung um das Flugblatt. Es war ein dümmlicher Bubenstreich, der Versuch einer sittlichen Grenzüberschreitung, mit der ein Halbwüchsiger im pubertären Hormongewitter seine juvenile Wut entlud. Nicht umsonst hat die Pubertät ihren schlechten Leumund, und die Betroffenen sind froh, wenn sie diese labile Reifungsphase hinter sich haben. Eine Narretei, 36 Jahre her, längst verjährt. Ein psychisch stabiles Land würde über solch ein Vorkommnis kurz die Nase rümpfen, aber nicht tagelang palavern.

Doch die Deutschen wollen sich empören, sie können gar nicht anders. Nichts ist der eigenen Seelenreinigung zuträglicher, als sich über einen Skandal zu ereifern, der irgendetwas zu tun hat mit Nazis oder Antisemitismus. Das wusste schon der Aphoristiker Johannes Gross (1932–1999): „Je länger das Dritte Reich tot ist, umso stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.“ Angesichts mancher dieser jetzt so gratismutigen Demokratieverteidiger drängt sich unwillkürlich die Vorstellung auf, wie stolz sie wohl vor 90 Jahren das Hakenkreuzabzeichen getragen hätten, und wie sie mit demselben besserwisserischen Furor heute wie damals auf den Wogen des Zeitgeists gesurft und dem System gedient hätten.

Doppelte Bewertungsstandards
In den sozialen Medien formierten sich in Windeseile die üblichen Gesinnungswächter mit ihrem abrufbereiten Bescheidwissen. Der sozialdemokratische Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin, unter Kanzler Schröder Kulturstaatsminister, postete frühzeitig: „MP Söder sollte Aiwanger als Minister und damit als Stv MP entlassen ... Dem Land täte das gut.“ Dabei räumt er durchaus ein, der Flugblatt-Text sei „nicht explizit antisemitisch“. CDU-Mann Ruprecht Polenz twitterte: „Kein Wort des Bedauerns gegenüber Jüdinnen und Juden in Deutschland. Keine Entschuldigung gegenüber den Angehörigen von Opfern des Nationalsozialismus. Weder von Helmut noch von Hubert Aiwanger.“ Was Polenz allerdings nicht daran hinderte, den jüdischen Historiker Michael Wolffsohn digital anzuschnauzen: „Was ist nur in Sie gefahren, diesem Flugblatt zu bescheinigen, nicht antisemitisch zu sein.“

Wolffsohn war Aiwanger schon am Tag nach der „SZ“-Veröffentlichung in einem „Bild“-Gastkommentar zur Seite gesprungen und hatte dem Flugblatt attestiert, nicht antisemitisch zu sein, aber menschenverachtend: „Merke: Nicht jeder Dreck ist zugleich antisemitisch.“ Zugleich beklagte Wolffsohn die doppelten Bewertungsstandards der „hysterischen Aiwanger-Kritiker“. Während sie ihren konservativen Gegnern „jugendliche Dummheiten“ oder „Straftaten lebenslänglich vorwerfen und noch Jahrzehnte später Konsequenzen fordern“, drücken sie bei linken Gesinnungsgenossen beide Augen zu. Joschka Fischer hat mit 25 Jahren Polizisten verprügelt? „Vergeben und vergessen.“ SPD-Politikerin Sawsan Chebli twitterte: „Als Schüler verfasste Aiwanger ein antisemitisches Flugblatt, das alles überschreitet, was man für möglich gehalten hat.“ Dabei war Chebli in ihrer Jugend selbst eine bekennende Judenhasserin. Wolffsohn: „Entlarvend ist das.“

Ein eigenartiger Gouvernantensound ist zum Dauersummton im Lande geworden. Gerade jene, die unsere Gesellschaft hartnäckig liberalisieren wollen und nichts dabei finden, dass zum Christopher Street Day turnusmäßig die Sachbearbeiter dieser Republik in ihre Fetisch-Garderobe schlüpfen und frivol durch die Straßen ziehen, achten penibel auf die Einhaltung politisch korrekter Etikette. Stets mit dabei ist der Demokratiefacharbeiter und „Monitor“-Chef Georg Restle, der im Netz schäumte: „Mich kotzt diese ,Jugendsünde'-Fraktion an, die weit ins bürgerliche Lager reicht.“

Der Hass auf Aiwanger
Es hätte so schön sein können. Hubert Aiwanger hatte im Juni bei der Heizungs-Demo in Erding mit seiner Rede den Hass seiner Gegner im Sturm erobert: „Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss.“ Die „SZ“ damals dazu: „,Schweigende Mehrheit', Trump-Sound. ,Demokratie zurückholen', AfD-Sound.“ Und jetzt, kurz vor der Wahl, mit einem uralten Flugblatt aus der Staatsregierung katapultiert, damit Söder bei der nächsten Regierungsbildung die Grünen ins Kabinett holen müsste. Ein schwüler Sommernachtstraum für jeden CSU-Verächter.

Doch dann war plötzlich alles ganz anders. Als Urheber des Flugblatts war auf einmal Aiwanger-Bruder Helmut geständig, der mit dem Pamphlet damals „offen linksradikale Lehrer“ ärgern wollte, die sich bei ihm, dem Landwirtssohn, mit Aussagen wie „Bauern sind blöd“ und „Tierhaltung ist Tierquälerei“ unbeliebt gemacht hatten. War das Flugblatt am Ende eine Art Protest in anarchischer Punk-Manier gegen die Geringschätzung, die den Bauernbuben vom Aiwanger-Hof aus dem Studienrats-Milieu entgegenwehte?

Ins Rollen brachte den Flugblatt-Skandal offenbar Aiwangers früherer Deutschlehrer Franz Graf, der bei der SPD aktiv war und seinerzeit mit im Disziplinarausschuss über Hubert Aiwanger richtete, weil in dessen Schultasche ein Exemplar des Flugblatts gefunden wurde. Helmut Aiwanger vermutet heute, sein Bruder könnte das Papier an sich genommen haben, um die weitere Verbreitung zu verhindern, und wurde dabei erwischt. Verraten mochte Hubert seinen Bruder damals nicht und nahm die Strafe auf sich. Lehrer Graf kassierte das Flugblatt ein, ging später damit hausieren und sammelte Material gegen den nun politisch aktiven Hubert Aiwanger.

Immer wieder versuchte der Lehrer, das Flugblatt bei Journalisten unterzubringen. Es heißt, auch der „Spiegel“ habe eine Veröffentlichung geprüft, aber dann doch abgewunken. Zu wenig Substanz, zu wenig Beweiskraft, um den Chef der Freien Wähler politisch zu erledigen. Am Ende entschied sich die „SZ“ für die Enthüllungsstory.

Die Leichen im Keller der „SZ“
Ausgerechnet die „Süddeutsche Zeitung“, die sich zwar als ein Leuchtturm des linksliberalen, kritischen Journalismus versteht, aber in ihren ersten Jahren nach 1945 von schlimmsten Altnazis geleitet und geprägt wurde. Mitverleger Franz Joseph Schöningh organisierte ab 1941 im polnischen Tarnopol als stellvertretender Kreishauptmann den Holocaust mit. Hermann Proebst, „SZ“-Chefredakteur von 1960 bis 1970, war von 1938 an Agent des „Amtes Abwehr“ im Oberkommando der Wehrmacht und leitete als Herausgeber zwei NS-Blätter mit rassistischer Propaganda. Wilhelm Emanuel Süskind, Vater des Bestsellerautoren Patrick Süskind („Das Parfum“) und später hochgelobter Politik-Reporter der „SZ“, war bis 1945 ein linientreuer Journalist, der für den NS-Kriegsverbrecher Hans Frank schwärmte.

Noch 2015 wurde in der „SZ“ die Vergangenheit bei der Waffen-SS des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass mit Milde quittiert: „Dass Günter Grass als Jugendlicher in der Waffen-SS war“, so heißt es dort, „ist keine unverzeihliche Sünde. Es diskreditiert den Mann auch nicht, weder den politisch engagierten Demokraten noch den Schriftsteller.“ Grass war 17, als er sich 1944 zur SS-Panzerdivision „Frundsberg“ freiwillig meldete. Bis zum Kriegsende, sagte Grass später öffentlich, habe er an den „Endsieg“ geglaubt.

Und heute feuert die „SZ“ aus allen Rohren gegen ein geschmackloses Flugblatt aus der Feder eines unreifen Schuljungen. Es ist eine Schmutzkampagne, die sich der Opfer der historischen Nationalsozialisten zu Wahlkampfzwecken bedient. Nicht das alberne Flugblatt selbst, sondern die skrupellose Instrumentalisierung der NS-Opfer beschädigt die Würde unserer Erinnerungskultur.

Denn niemand weiß, wie viele Exemplare von dem Papier damals im Umlauf waren. Nachweisbar ist nur noch ein Exemplar. Zu weltweiter Aufmerksamkeit brachte es das Machwerk erst 36 Jahre später durch die Veröffentlichung in der „Süddeutschen Zeitung“.

Holger Fuß ist freier Autor und schreibt für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften über Politik, Wissenschaft, Kultur und Zeitgeschehen. 2019 erschien „Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei“ (FinanzBuch Verlag).
www.m-vg.de


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Kommentare

Nils Pellnat am 17.09.23, 02:34 Uhr

Es ist Wahlkampf in Bayern und gewisse Parteien sehen ihre Felle davon schwimmen, also muss man mit schmutzigen Mitteln versuchen den Gegner zu diskreditieren. Und wenn man ihn anhand seiner aktuellen Politik nicht fassen kann, dann scheuen sich gewisse Parteien auch nicht alte Jugendsünden auszugraben und ihn damit zu verleugnen, denn wie sich ja heraus gestellt hat war es ja der Bruder und Hubert Aiwanger hat nur versucht die weitere Verbreitung zu verhindern. Aber solche Feinheiten und die Tatsache, das Herr Aiwanger seinen Bruder geschützt und nicht verraten hat, das hat man bei der SZ leider vergessen zu erwähnen und ein Lehrer der dreißig Jahre lang wartet und immer wieder versucht seine Geschichte wie Sauerbier an die Medien zu lanzieren, wobei die meisten abgelehnt haben, mit der Begründung zu dürftig und schon zu lange her, da sieht man ja welch Geisteskind dieser Mensch ist! Ich kann nur hoffen das der aufgeklärte Wähler in Bayern sieht, was das für ein Schmarrn ist und dann am Tag der Wahl sich daran erinnert. Denn wer im Vorfeld mit seinen Gegnern so umspringt und Schmutz verbreitet, was macht der erst mit dem Wähler wenn er an der Macht ist? Ich denke doch das wir schon genug Leute in der Politik haben, die mit Deutschland nichts anzufangen wissen und Vaterlandsliebe zum kotzen finden, da braucht es nicht noch mehr von solchen.

Dr. Dr. Hans-Joachim Kucharski am 11.09.23, 08:07 Uhr

Es ist wieder mal nachhaltig und umfangreich zu sehen, wie Aiwangers Jugendsünde und eine vermutliche Beteiligung von Scholz am Cum-Ex-Skandal unterschiedlich behandelt werden. Zu ersterer habe ich gefühlt fünfzig Sendungen und Zeitungsartikel (ohne SZ und Spiegel) gesehen, und die Untersuchung zu letzterer ist zur Friedhofsstille verkommen – nichts mehr ist davon zu hören. Zudem wird ein Verhalten in der Jugendzeit vor 35 Jahren mit einem viel späteren im Amte verglichen. Und was hilft es Aiwanger, sich auf Erinnerungslücken in seiner längst vergangenen Jugendzeit zu berufen, wenn man nur Scholz solche abnimmt und offenbar nur er hinsichtlich weiterer Nachprüfungen davonkommt?
Ist das etwa nicht ausschließlich parteitaktisch zu erklären? Und was können wir daraus, spätestens jetzt, lernen? So funktioniert Politik.

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