30.04.2024

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Grünkohl-Saison

Ein vitaminreiches Winteressen

Das Arme-Leute-Essen wird salonfähig – Eine Expedition durchs Ammerland bei Oldenburg, das als Hochburg des Grünkohls gilt

Anne Martin
16.01.2024

Flach ist das Land zwischen Oldenburg und Bad Zwischenahn, mit weiten Feldern, verklinkerten Häusern und Vorgärten mit schnurgeraden Beeten. Sehr übersichtlich ist es, wäre da nicht das Gold der Region, dieser grün gekrauste Kohl, der jetzt die Speisekarten regiert und nur eine Frage offenlässt: Mit welcher Wurst schmeckt er am besten? Wobei die Antwort hier im Nordwesten klar ist: Pinkel gehört in den Kohl, gut gefüllt mit Schweinefleisch, Speck, Zwiebeln, Salz, Pfeffer und Hafergrütze. Gern begleitet von Kassler und Schweinebacke, dazu Brat- oder Salzkartoffeln, ganz nach Geschmack. Danach einen Korn. Und natürlich ist der Trinkspruch auf Platt, das Glas schon in der Hand: „Ick seh di!“. Antwort: „Dat freit mi! (Das freut mich) Prost!“

Soll doch der Wind über die abgeernteten Felder pfeifen, soll der Dauerregen die Straßen von Oldenburg überfluten – überall da, wo der Kohl auf den Tisch kommt, ist es warm. Kein Wunder, dass die gemütliche Stadt an der Hunte ihr Traditionsgemüse in kühnen Abwandlungen in die Schaufenster stellt, angefangen in der Brauerei „Ols“, wo der Chef mit lautem Knall den Kronkorken von einer Flasche schnippt. „Der grüne Anton“ wird über den Tresen geschoben, so benannt nach dem Grafen Anton Günther, der einst im gelben Schloss residierte. Es schmeckt würzig herb, eine feine Ingredienz von Grünkohl ist nur zu ahnen, der Braumeister nickt. Wie genau der Kohl ins Bier kommt? Betriebsgeheimnis!

Und weiter geht es über den Wochenmarkt, wo das kälteresistente Wintergemüse in allen Auslagen liegt und eigens fürs Foto fein verpackte Pralinen mitten hinein in die Strünke gebettet werden. Es handelt sich um Grünkohlpralinen, kein Witz. Eine zarte grüne Schicht zwischen der Schokoladenumhüllung ist der Beweis. Die Leckerei schmeckt köstlich und glücklicherweise überhaupt nicht nach Kohl. Danach geht es zu den „Buddeljungs“, die in ihrem mit unzähligen Flaschen bestückten kleinen Laden tief in die Regale greifen: Bitte sehr, hier kommt ein köstlicher Cocktail, basierend auf Grünkohl-Gin. Die Rezepte sind natürlich wieder streng geheim, der Geschmack – sollte man ein zweites und drittes Glas verkosten – friesisch herb, und der Grünkohl ist nur als Hauch von Bitterkeit zu spüren.

Zwei Meter hohe „Friesische Palme“
In der nahegelegenen Universität unternimmt Christoph Hahn vergleichende Studien des in Europa und Nordamerika verbreiteten Gemüses. Er ist wohl der einzige Biologe in Deutschland, der über Grünkohl promoviert hat. Seine Erkenntnisse haben längst die Hochglanz-Magazine erreicht, wo Grünkohl als „Super-Nahrung“ gehandelt wird, weil er mindestens so viel Vitamin C enthält wie Orangen. Außerdem enthalten sind Calcium, Eisen, krebsvorbeugende Senfölglycoside, Lutein gegen Makula-Degeneration sowie eine Aminosäure zur Herstellung von Serotonin, dem Gute-Laune-Hormon. Damit die Inhaltsstoffe wirken, sollte man ihn allerdings eher als Salat genießen oder als kaltes Mixgetränk.

Und weiter geht es durch die Region am Tor zu Ostfriesland mit einem Stopp in Rhauderfehn, wo das Land besonders platt und weit ist, wären da nicht die Felder mit hochaufschießenden Grünkohl-Stängeln mit wilden Blattkronen. Mittendrin steht Reinhard Lühring, der sich vor vielen Jahren aufgemacht hat, alte Sorten zu retten. Er hat bei den Bauern am Gartenzaun gelehnt und geplaudert, an Türen geklopft, gesammelt und vermehrt. Die Friesische Palme, die bis zu zwei Meter hoch wächst, ist sein ganzer Stolz.

Längst gilt er in der Region als Grünkohl-Papst, neulich sogar angesteuert von Pharmavertretern, die aus den Inhaltsstoffen des Grünkohls ein Medikament gegen Alterserblindung gewinnen wollten. Sein Augenmerk liegt auf etwas anderem: „Ich will, dass er schmeckt und dass man ihn isst!“

Lühring weiß genau, dass man neue Grünkohl-Samen in sehr großem Abstand pflanzen muss, weil wie sich sonst zu schnell mit anderen Pflanzen kreuzen. Er weiß, dass es zehn bis 15 Jahre bis zur stabilen Saatenlinie dauert. Und er setzt sich dafür ein, dass der Grünkohl vielseitiger verwendet wird, anstatt immer nur mit fettigen Beilagen und lange gedünstet.

Wer dem 54-Jährigen zusieht, wie er durch sein Feld mit den Kohlriesen streift, hier und da ein krauses Blatt abzupft, in der Hand zerkrümelt und mit geschlossenen Augen ein Stück kostet, der denkt unversehens an ein Feinschmecker-Lokal und weniger an rustikale Gasthöfe mit Wolkenstores und beschlagenen Scheiben. Sein Lieblingsrezept ist ein Grünkohlsalat mit Möhrenscheiben, dazu gegrillter Schafskäse. Auch von Grün­kohlbrot und Grünkohlpfannkuchen schwärmt der Sorten-Sammler, während er die Tür zur Sortenkammer aufschließt. Möchte noch jemand ein Päckchen mit kostbaren Samen mitnehmen?

Nachgefragt: Was hat es mit der These auf sich, Grünkohl brauche Frost, um richtig gut zu schmecken? Das sei ein Ammenmärchen, wie so vieles, was ungeprüft von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Was stimmt, ist: Bei Kälte wird der Stoffwechsel der Pflanze heruntergefahren, Zucker reichert sich an, Bitterstoffe werden abgebaut. Dazu brauche es aber keinen Frost, das klappt auch schon bei sechs oder sieben Grad.

Im Vertrauen verrät er: Was derzeit in den Tiefkühltruhen der Supermärkte lagert, wurde oft schon im warmen August geerntet. „Grünkohl kann man das ganze Jahr hindurch essen, erst Gründonnerstag ist Schluss!“
Auf zum Kurort des Landstrichs, nach Bad Zwischenahn, am Zwischenahner Meer gelegen, einem früheren Salzstock. Die Stadtväter hatten eine geniale Idee, als sie in der Nähe des Seeufers ein Heimatmuseum mit reetgedeckten alten Häusern und einer Mühle errichten ließen. Im Bauernhaus räuchern doch tatsächlich über offenem Feuer die begehrten Ammerländer Schinken, mindestens hundert, manchmal noch mehr. Und im Spieker, dem zweigeschossigen Gasthaus, das früher traditionell neben der Metzgerei stand, laufen Kellner in Tracht die steile Treppe zum oberen Gastboden hinauf und hinab. Auf der Speisekarte steht neben Aal und Sülze natürlich Grünkohl.

Wer will, kann hier am Ort Grünkohltouren buchen, mit dem Bollerwagen losziehen, ausgerüstet mit kleinen Bembeln und Korn, und der Freude darauf, was nach der Tour kommt. Zusammenrücken am Gasttisch nämlich, Grünkohl auf dem Teller, dazu fettige Wurst, auf jeden Fall Bier und Schnaps. Wo Grünkohl auf den Tisch kommt, rücken die Menschen zusammen. Das war schon immer so, das soll auch so bleiben. Also doch: Das ideale Winteressen, denn der Winter ist lang.


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Kommentare

Kersti Wolnow am 16.01.24, 11:47 Uhr

Schon lange warte ich auf eine Trendwende zum Eigenen. Ich hatte ab den 90ern das Verschwinden der Würstchenbuden in Hamburg mit Sorge beobachtet und die Ausbreitung von Ketten mit Industriekost. Dem allgemeinen Zentralismus verweigere ich die Gefolgschaft, denn das ist Einöde, keine Vielfalt. Den meisten Menschen fällt aber in der künstlich geschaffenen Hast des Alltags nichts mehr auf und nehmen das, was die Konzerne auf den Markt schmeißen, willig an. Da man ihnen die Zeit raubt, bereiten sie auch nichts mehr selber zu und kaufen Fertiges, was sie krank macht.
Ich kannte Grünkohlgerichte bis 1989 nicht, hatte sie dann bei Betriebsessen vorgesetzt bekommen, was gar nicht schmeckte, selbst im Restaurant, bis ich anfing, beim Bauern Grünkohl zu kaufen, ihn zu zupfen und Fleisch vom Metzger aus dem Dorf dazuzugeben. Kein Vergleich. Danke für die Anregung, am WE gibts Grünkohl. Den Bauern gibt es nicht mehr, aber EDEKA verkauft noch losen Grünkohl aus der Region. Den Bauernprotest unterstütze ich mental, weil uns ihr Protest uns alle angeht. Keine Bauern=keine Auswahl für uns!!!!

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