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Nach einer Reise auf die Kurische Nehrung – Johannes Thienemann gründete die berühmte Vogelbeobachtungsstation
Die Vogelkunde (Ornithologie) konnte sich im 19. Jahrhundert als wissenschaftliche Disziplin etablieren. Zu ihren wichtigsten frühen Vertretern gehörte der aus Thüringen stammende Johannes Thienemann, der 1896 die Kurische Nehrung bereiste. Dort erlebte er einen „Vogelzug so gewaltig, wie er bisher noch nie in Deutschland beobachtet worden war“. Denn über dem schmalen Landstrich zwischen Memel und dem Samland bündeln sich etliche Flugrouten von Zugvögeln, die offene Wasserflächen meiden – an manchen Tagen ziehen bis zu zwei Millionen Vögel über die Nehrung hinweg. Deshalb initiierte Thienemann auf Anregung des Agrarzoologen Georg Rörig die Gründung einer „ornithologisch-biologischen Beobachtungsstation“ in Rossitten, welche zum 1. Januar 1901 ihre Arbeit aufnahm.
Diese ostpreußische Vogelwarte stand bis 1929 unter der Leitung von Thienemann und hatte folgende Aufgaben: Beobachtung des Vogelzuges und der Lebensweise der Vögel im Allgemeinen, Abschätzung des wirtschaftlichen Wertes der einzelnen Vogelarten, Verbesserung des Vogelschutzes, Aufbau einer Sammlung präparierter Vögel, Bereitstellung von Untersuchungsmaterial für deutsche Forschungsinstitute und Verbreitung von populärwissenschaftlichen Informationen über das heimatliche Vogelleben.
Aufgrund ihrer vielen Verpflichtungen erhielt die Vogelwarte Außenstellen im Ulmenhorst sechs Kilometer südlich von Rossitten und am Drausensee bei Elbing. Letztere entstand unter der Ägide von Ernst Schüz, dem zuerst nur faktischen und später dann auch offiziellen Nachfolger von Thienemann. Schüz machte sich besonders um die Weiterentwicklung der Methode der Beringung von Vögeln verdient, welche bereits seit 1903 in Rossitten zur Anwendung kam. Deren Zweck bestand darin, in großem Maßstab Erkenntnisse über die Vogelzugrouten und Überwinterungsgebiete sowie auch die Lebensumstände der Tiere und deren Todesursachen zu erhalten. Insgesamt erhielten in Rossitten bis 1944 etwa eine Million Vögel einen mit Nummer und Jahreszahl versehenen Metallring um den Fuß.
Wegen des hohen Wertes ihrer Tätigkeit wurde die Vogelwarte Rossitten 1923 in das Netzwerk der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften eingegliedert. Daraus resultierte auch der ständige Kontakt zur zoologischen Elite der damaligen Zeit und zum Lehrkörper der Albertus-Universität in Königsberg. Außerdem gaben Schüz und dessen Mitarbeiter ab 1930 in Gemeinschaft mit der Deutschen Ornithologischen Gesellschaft und Hugo Weigold von der Vogelwarte Helgoland die Zeitschrift „Der Vogelzug“ heraus. Dem folgte 1931 die Veröffentlichung des „Atlas des Vogelzugs nach den Beringungsergebnissen bei paläarktischen Vögeln“ von Schüz und Weigold. Im gleichen Jahr entstand ein Museum zur Information der immer zahlreicher werdenden Besucher in Rossitten – oftmals kamen pro Saison bis zu 25.000 Neugierige.
Eine weitere Aufwertung der Vogelwarte auf der Kurischen Nehrung brachte das Reichsnaturschutzgesetz von 1937 mit sich. Denn dieses verfügte, dass es nur noch drei solcher Einrichtungen geben sollte, nämlich die Vogelwarten in Rossitten sowie auf den Inseln Helgoland und Hiddensee. Unter der Leitung von Schüz, der 1936 zum wissenschaftlichen Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft avancierte, wurden nun neben der Vogelzugforschung auch Populationsstudien und verhaltensbiologische Untersuchungen durchgeführt. Die letzteren dienten unter anderem dem Zweck, hinter das Geheimnis der Orientierung der Zugvögel zu kommen.
Thienemann starb im April 1938 und musste daher nicht mehr miterleben, wie die Vogelwarte in Rossitten im Oktober 1944 aufgegeben und das wissenschaftliche Material nach Westen evakuiert wurde. Nach Kriegsende sammelte Schüz dieses dann mühsam in den verschiedenen Auslagerungsorten wieder ein und begann mit der Suche nach einem neuen Domizil für seine Forschungseinrichtung. Das fand er schließlich 1946 in Möggingen bei Radolfzell am Bodensee im Wasserschloss von Nikolaus Freiherr von und zu Bodman. Der war selbst ein erfahrener Ornithologe und hatte lange Zeit mit den Kollegen in Rossitten kooperiert. Die nunmehrige Vogelwarte Radolfzell gehörte ab 1959 nacheinander zum Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie, Max-Planck-Institut für Ornithologie (ab 2004) und Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie (seit Mai 2019).
Und auch im seit 1945 sowjetisch besetzten Rossitten, das 1947 in „Rybatschij“ umbenannt wurde, gab es einen Neuanfang: Dort entstand 1956 auf Initiative des Biologen Lew Belopolskij von der Universität Königsberg, der gerade aus einem stalinistischen Straflager kam, die neue „Biologische Station Rybatschij“, zu der sich später noch die elf Kilometer weiter südlich liegende Außenstation Fringilla mit ihren riesigen Netzen gesellte. Hier fingen und beringten sowjetische beziehungsweise russische Ornithologen allein bis zum Jahre 2000 insgesamt 2.253.393 Zugvögel von 196 Arten – nicht zuletzt auch finanziert durch großzügige Spenden aus der Bundesrepublik.