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Der 680. Jahrestag der Gründung des Gotteshauses fällt in Zeiten politischer Spannungen und Kriegsangst
Das Ausfüllen der Zeit durch planmäßig fortschreitende Beschäftigungen, die einen großen beabsichtigten Zweck zur Folge haben, ist das einzige sichere Mittel, seines Lebens froh ... zu werden.“ (Immanuel Kant [1724-1804], aus dem Nachlass).
Es war ein „großer beabsichtigter Zweck“, als eine kleine Gruppe von Russen und Deutschen 1992 beschloss, die Ordenskirche in Heiligenwalde [Uschakowo] aus dem 14. Jahrhundert zu renovieren. Die Kirche hatte den Krieg überstanden und war in sowjetischer Zeit als Getreidelager genutzt worden. Dadurch „überlebte“ das Gebäude. Von dem damaligen Schulleiter von Heiligenwalde, Georg Gawrilowitsch Artemjew, ging der Plan aus, die Kirche zu renovieren. Die Schule, ein zweistöckiges Gebäude aus dem Jahre 1936, war der Mittelpunkt des dörflichen und gesellschaftlichen Lebens in Heiligenwalde und sollte noch große Bedeutung bekommen. Da der Direktor Germanist und Deutschlehrer war, konnte er die Verbindung zwischen den deutschen und den russischen Heiligenwaldern herstellen und alles organisieren. Ihm verdankt Heiligenwalde alles.
Der „große beabsichtigte Zweck“ fand nicht immer und überall Beifall – im Gegenteil. Die „Enthusiasten“, die „Träumer“, die „Verrückten“ erfuhren viel Kritik und standen harte Kämpfe durch. Aber nun wurde im Mai 2024 das 680. Jubiläum der Kirche gefeiert. Es war die zweite große Jubiläumsfeier seit der Perestroika. 1994 feierten Russen und Deutsche das 650. Jubiläum „ihrer“ Kirche, ein halbes Jahrhundert nach dem 600. Jubiläum 1944 – in einer völlig veränderten Welt. Aber das Schicksal sorgte für Traditionen. 1944 hatten zwei Vettern aus der Pastorenfamilie Walsdorff den Festgottesdienst gehalten – und 1994 waren es wieder zwei Vettern aus dieser Familie. Alles war ein Provisorium, nur das Dach des Turmes war 1994 restauriert worden, aber tief bewegte Menschen füllten die Kirche. Das Jubiläumsfest bewirkte eine Sensation. Der evangelische Gottesdienst schaffte es ins deutsche und ins russische Fernsehen, und wenig später stand die Kirche auf der „Liste denkmalgeschützter Gebäude“.
Dreißig Jahre sind inzwischen vergangen. In Heiligenwalde ist eine neue Generation herangewachsen. Von der großen Schar Deutscher und Russen, die 1994 „wie Geschwister feierte“, wie es ein Heiligenwalder damals schrieb, sind nur noch wenige am Leben. Auch Georg Artemjew verstarb 2006 viel zu früh und ließ seine Mitstreiter mit großen Aufgaben, aber tapfer und mutig zurück.
Im Jahr 2010 übernahm die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) das Gotteshaus, die Schule und das Territorium. Längst war aus dem Getreidelager ein Baudenkmal, ein Kleinod geworden. Die romanische Hallenkirche mit dem Original-Ziegeldach „Mönch und Nonne“ hat einen Turm, an dem ein Stück Fachwerk auffällt. An den Fenstern konnte das alte Gitter erhalten und aufgearbeitet werden. Innen sind ein hölzernes Tonnengewölbe und ein Sternengewölbe im Chorraum sehenswert. Die Sakristeitür, der Taufstein und das Weihwasserbecken haben die Jahrhunderte überdauert – heute sind es die begehrtesten Foto-Objekte.
Unter der Leitung des Baumeisters Viktor Michailowitsch Staruschkin hatten die russischen Heiligenwalder ihre Kirche in Eigenarbeit ausgebaut, die schon bald zu einem Touristen-Magneten wurde. Die Übernahme durch die ROK verlief friedlich in allgemeinem Einverständnis und sollte zum Segen für viele Menschen werden. Die ROK renovierte die Schule und richtete dort ein soziales Zentrum ein, in dem Frauen und Familien ein halbes Jahr kostenlos leben können und Hilfe für den weiteren Lebensweg erfahren. Außerdem werden Familienfreizeiten und Projekte für die Jugend angeboten. Alles untersteht der Eparchie in Königsberg.
Die Kirche ist dem Heiligen Nikolaus geweiht, zu dessen Ehren zweimal im Jahr, im Mai und im Dezember, ein
großer Gottesdienst mit anschließendem „Prasdnik“, Festessen und Unterhaltung, gefeiert wird. Das soziale Zentrum erinnert an den Heiligen Uschakow, einen Admiral unter Katharina der Großen.
Dem Heiligen Nikolaus geweiht
Mai 2024 – wieder hatte sich die Welt verändert. Kriegsangst und Sorgen überschatteten das 680. Jubiläum in Heiligenwalde – aber die Kirche stand und leuchtete den zahlreichen Besuchern entgegen.
Im Dorf herrschte Hochbetrieb. Staruschkin hatte sich vorgenommen, die Kirche zum Jubiläum außen und innen zu weißen. Die Innenarbeiten gingen planmäßig voran, mit den Außenarbeiten wurde es eng, weil das Wetter nicht immer mitspielte. Viktor, übrigens auch der Starost (Älteste) des Dorfes, feierte auch ein Jubiläum: Genau dreißig Jahre arbeitete er an der Kirche, „mit goldenen Händen“, wie Artemjew einmal sagte, unermüdlich und mit wachsendem Sachverstand. Nur Feiern ist nicht sein Ding. Am Vorabend des großen Festtages, am 21. Mai, schuftete er bis zur Dunkelheit und besprach mit den Helferinnen und mit Vater Jewgenij, dem für Heiligenwalde zuständigen Popen, das Programm des großen Tages, das schließlich anders verlaufen sollte als geplant.
Heiligenwalde ist ein Runddorf. Eine heute asphaltierte Straße umschließt den Ortskern mit der Kirche und der Schule. Am 22. Mai war diese Straße lückenlos mit parkenden Autos bedeckt. Die Parkplätze an der Schule waren schon am Vorabend von der Catering-Firma belegt worden. Die Parkplätze auf dem Terrain der Kirche mussten für die Geistlichkeit freigehalten werden – und dann waren auch noch Touristengruppen angekündigt, denn die Kirche gehört in mehrere Besichtigungs-Routen und verzeichnet jährlich Hunderte von Besuchern. Für die Verantwortlichen war der 22. Mai daher zunächst beunruhigend.
Bitte um Frieden
Um neun Uhr begann der Festgottesdienst. Der Patriarch Wladika Serafim hatte es sich nicht nehmen lassen, diesen Gottesdienst zu halten, obwohl der Tag für ihn noch viele weitere Verpflichtungen bereithielt. Ein Chor gestaltete die musikalische Umrahmung, und es traf das Herz der dicht gedrängten Menschen, als für alle gebetet wurde, die jemals in diesem Ort gelebt und diese Kirche besucht haben. Das Dankesgebet für alle, die sich für die Kirche einsetzen, wurde mit der Bitte um Frieden verbunden. Der „Krug“, also der Umzug um die Kirche, stand noch im Zeichen des Osterfestes, das in der Orthodoxie gerade mal eine Woche zurücklag.
Erste religiöse Trauerfeier seit Kriegsende
Unmittelbar nach dem Gottesdienst traf die Touristengruppe ein. Staruschkin, überall gleichzeitig, „versorgte“ diese Gäste, in diesem Fall mit einem fundierten Vortrag über die Kirche und ihre Geschichte. Man stand ein wenig unter Zeitdruck, denn in Heiligenwalde sollte an diesem Tag ein weiteres historisches Ereignis stattfinden: die erste religiöse Trauerfeier seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein Gemeindemitglied aus Waldau [Nisowje] war verstorben und hatte den Wunsch geäußert, in der Kirche von Heiligenwalde gesegnet zu werden. Auch diese Zeremonie übernahm Wladika Serafim. Die große Trauergemeinde traf schon ein, als die Touristen sich still entfernten. Sie alle werden diesen Besuch in Erinnerung behalten.
Inzwischen hatte in der Schule und auf dem Schulhof der „Prasdnik“ begonnen. Man stärkte sich in der früheren Turnhalle, die Versammlungs- und Festsaal geworden ist und auch früher vielfache Funktionen hatte. Draußen saßen die Gäste in der warmen Sonne, denn das Wetter spielte mit. Vater Jewgenij, der „Batjuschka“ (Väterchen), legte dar, welche Aktivitäten von der Kirche und von dem sozialen Zentrum ausgegangen sind und weiterhin ausgehen werden. Eine Ausstellung dokumentierte die Gottesdienste, die Feste und Freizeiten sowie die blühende Jugendarbeit. Es gibt Stellen für Helfer und Praktikanten. Für den Segen Gottes wurde gedankt.
Ausklang des Tages mit Konzert und gemeinsamem Essen
Nach der Trauerfeier in der Kirche begann der „fröhliche“ Teil des Tages, ein Konzert auf dem Hof und anschließend ein gemeinsames Mittagessen in der Schule oder besser: im Sozialen Zentrum. Es gab Urkunden und Geschenke für die Mitarbeiter, vor allem für das Ehepaar Staruschkin, und für die Helfer und Praktikantinnen. Die Gedanken der „alten Heiligenwalder“, ob russische oder deutsche, gingen dreißig Jahre zurück. Wer hätte sich damals eine solche Entwicklung vorstellen können? Artemjews Wunsch, die Kirche in den „Goldenen Ring“ um Königsberg einzufügen, war doppelt und dreifach in Erfüllung gegangen. Es muss inzwischen Millionen von Fotos von der Kirche geben. Der Wunsch der Heiligenwalder nach einem Gotteshaus in Heiligenwalde war auch in Erfüllung gegangen, aber nicht, wie erst gehofft, für die evangelische Konfession. Doch es passt zur Geschichte Preußens, wo jeder nach seiner Façon selig werden konnte und für alle Platz war.
Kaum jemand aber hätte 1994 geahnt, dass Heiligenwalde ein zentraler Ort der sozialen Hilfe werden würde, ein besonderer Segen für viele Hilfsbedürftige. Das war wohl ein Zusatz-Geschenk des Heiligen Nikolaus – und es ist im Sinne von Artemjew.