20.09.2025

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Flucht und Vertreibung

„Eine große Herzensangelegenheit“

Der gebürtige Westfale Julian Petzer setzt sich wissenschaftlich mit der Geschichte der deutschen Vertriebenen auseinander

Manuela Rosenthal-Kappi
10.08.2025

Der Historiker Julian Patzer hat sich in seiner jüngst als Buch erschienenen Bachelorarbeit mit dem Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen auseinandergesetzt. Es ist sein besonderes Verdienst, dass er im Gegensatz zu vielen anderen Menschen zu Wort kommen lässt, die zum Zeitpunkt der Flucht noch jung waren. Über seine Arbeit sprach der 25-Jährige mit PAZ-Redakteurin Manuela Rosenthal- Kappi.

Herr Patzer, Sie haben Ihre Bachelorarbeit zum Thema „Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen. Erlebnisse und Nachwirkungen von jungen Menschen auf dem Weg in den Westen“ geschrieben, die jetzt als Buch vorliegt. Wie entstand die Idee, sich wissenschaftlich mit diesem düsteren Kapitel der deutschen Geschichte zu befassen?
Als ich im Herbst 2019 an der Georg-August-Universität in Göttingen mein Studium begonnen habe, war mir schon innerlich klar, dass sich mal meine Bachelorarbeit mit Ostpreußen beschäftigen soll. Wie dies dann später genau aussehen sollte, plante ich zu diesem Zeitpunkt aber nicht. Für meine erste Hausarbeit habe ich mich mit der Stadtgründung von Königsberg im 13. Jahrhundert beschäftigt. Vor allem durch die Zeitzeugen in der Landsmannschaft Ostpreußen – Gruppe Holzminden – lag es für mich nahe, dass ich mich in meiner Bachelorarbeit mit Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen am Ende des Zweiten Weltkriegs beschäftigten wollte. Durch die langjährige Mitgliedschaft entstanden teils tiefe freundschaftliche Beziehungen zu den Ostpreußen. Auch unsere Tante Inge, unsere letzte Ostpreußin, wollte ich unbedingt zu ihren Erlebnissen befragen. Mir war es daher ganz wichtig, dass diese letzten Zeitzeugen eine Stimme bekommen und dass ihr Leben in Ostpreußen und ihre Schicksale, die sie durch den Krieg erleben mussten, nicht in Vergessenheit geraten. Somit war die Idee geboren, mit diesen Menschen Interviews zu führen.

Wie reagierten Ihr Professor bzw. Dozenten an der Uni auf das Thema Ihrer Arbeit? Haben Sie Unterstützung erfahrenoder gab es zuweilen auch Bedenken oder Ablehnung?
Meine Professoren waren nicht unbedingt begeistert von meinem Themenvorschlag, aber auch nicht abgeneigt. Sie verhielten sich meiner Euphorie und meinem Herzblut gegenüber relativ neutral. Ich schilderte ihnen meine Vorstellungen, wie ich ein solches Thema untersuchen möchte. Dass ich dafür Interviews führen wollte, stieß auf Zuspruch. Vorab wurde ich aber schon gewarnt, dass eine solche Forschung durch die Erhebung von Interviews bedeutend mehr Arbeit macht. Ich schreckte davor aber nicht zurück. Viel größer war mein Wunsch, diese Lebensgeschichten für die Nachwelt zu bewahren, als dass ich mich von dem viel größeren Zeitaufwand einschüchtern ließ. Natürlich gab es auch zwischen mir und den Professoren Meinungsverschiedenheiten und Anlaufschwierigkeiten, doch ich wollte meinem Kurs treu bleiben. Was aber nicht hieß, dass ich keine Tipps angenommen habe. Ich bin über den Austausch mit den Professoren sehr dankbar. Als meine Professoren dann meine Bachelorarbeit im Umfang von 194 DIN-A-4-Seiten, inklusive der transkribierten Interviews vorliegen hatten, waren sie von der Masse, glaube ich, erst einmal erschlagen. Meine Bachelorarbeit sprengte wirklich jeden üblichen Rahmen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Publikationen zum Thema Flucht und Vertreibung legen Sie in ihrer Arbeit den Fokus auf junge Menschen. Wie alt waren die von Ihnen Interviewten zum Zeitpunkt ihrer Flucht?
Die meisten Zeitzeugen, die man heute noch naturgemäß auffinden kann und die auch noch einiges erzählen können, sind in den 1930er Jahren geboren. Die 1920er Jahre sind leider kaum noch verfügbar und die Menschen, die zwischen 1940 und 1945 geboren wurden, sind meistens für authentische Erinnerungen zu jung. Ich möchte aber betonen, dass es manchmal auch sein kann, dass ein Kind, dass damals fünf Jahre während der Flucht gewesen ist, so stark eingebrannte Erinnerungen hat, dass es vielleicht mehr Aussagen tätigen kann, als ein Kind, das doppelt so alt gewesen ist. Erinnerung ist für mich daher auch immer eine Frage der Intensität der Erlebnisse. Meine interviewten Zeitzeugen sind zwischen 1930 und 1935 geboren. Sie sind alle zwischen Herbst 1944 und März 1945 aus ihrer Heimat geflohen. Einige von ihnen wurden aber auch bereits im Sommer 1944 evakuiert und sind vom Evakuierungsort weiter geflohen oder sogar nochmal kurzzeitig in den Heimatort zurückgekehrt.

Manche von ihnen kamen auch noch jahrelang in dänische Internierungslager. Demzufolge waren meine Zeitzeugen während der ganzen Erlebnisse, bis sie wieder im Westen sesshaft wurden, zwischen neun und achtzehn Jahre alt.

Konnten Sie Unterschiede zwischen den Erinnerungen von bei Kriegsende jungen Menschen im Vergleich zu den Erfahrungsberichten älterer Jahrgänge beobachten?
Natürlich, es gab ganz deutliche Unterschiede. Vorweg gesagt, konnte ich herausfinden, dass je älter ein Zeitzeuge damals war, desto bewusster waren ihm natürlich die ganzen Geschehnisse, eigentlich ganz logisch. Meine jüngste Zeitzeugin war meine Tante, Inge Teiwes aus Tilsit. Sie ist 1935 geboren und hat beispielsweise die Flucht ganz anders wahrgenommen als meine älteste Zeitzeugin Ingeborg Eggers aus Königsberg, die 1930 geboren ist. Allein die Gedanken der Menschen bei Fluchtbeginn waren unglaublich spannend auszuwerten. Für meine Tante Inge Teiwes war der Fluchtbeginn eher wie der Beginn eines „Abenteuers“. Sie wusste bei Fluchtbeginn also nicht wirklich, was auf sie zukam. Sie schien das Ganze am Anfang eher unbeschwert, teils vergnügt gesehen zu haben. Daraus spricht die kindliche Naivität. Die fünf Jahre ältere Ingeborg Eggers schilderte mir hingegen, wie fürchterlich der Fluchtbeginn für sie war. Sie spürte damals schon ganz genau, dass sie ihr geliebtes Königsberg nicht mehr wiedersehen würde. Ich könnte viele Beispiele aufzählen, in denen ich gemerkt habe, wie unterschiedlich die Erinnerungen zwischen meinen Zeitzeugen teilweise waren. Auch wenn zwischen meinen Zeitzeugen nur ein paar Jahre Unterschied lagen, konnten diese wenigen Jahre sehr entscheidend für die Wahrnehmung sein. Ganz anders war der Vergleich zwischen meinen Zeitzeugen und damals Erwachsenen, wie beispielsweise deren Eltern. In meiner Arbeit lag der Schwerpunkt zwar nicht im Vergleich von Zeitzeugenaussagen zwischen Erwachsenen und jungen Menschen, aber hin und wieder wurden auch diese Unterschiede offengelegt. Ich hatte bei der Forschung immer das Gefühl, dass die Eltern oder Familienangehörigen meiner Zeitzeugen ihren Kindern die teils grauenhaften Erlebnisse, so behütet wie es ging, gestalten wollten. Für die Erwachsenen, so schien es mir, wurden die Fluchterlebnisse teils zu Zerreißproben. Die meisten Erwachsenen wussten schon ganz genau, was dort alles passierte und was da auf sie zukommen würde. Den Kindern und Jugendlichen war diese Tragweite wahrscheinlich nicht immer ganz bewusst. Es gab natürlich auch Erwachsene, die das alles bewusst nicht wahrhaben wollten.

Aber egal ob jung oder alt, jeder Mensch hatte natürlich seine individuellen Erinnerungen.

Sie selbst arbeiten in der Ortsgruppe Holzminden der Landsmannschaft Ostpreußen mit. Seit wann sind Sie dort aktiv und was hat Sie dazu bewogen, Mitglied zu werden?
Ich bin in unserer „kleinen ostpreußischen Familie“, so nennen wir die Gruppe, seit 2018 festes Mitglied. Ich habe damals bei der Onlinezeitung in unserer Region gearbeitet und habe dadurch die Ortsgruppe in Holzminden kennengelernt. Ich war neugierig, die Gruppe damals kennenzulernen, also rief ich bei der ersten Vorsitzenden Renate Bohn an. Diese lud mich zum nächsten Treffen ein und so bin ich seit jeher der Gruppe treu. Ich habe mich damals bewusst der Gruppe aufgrund meiner großen Liebe und des Interesses an Ostpreußen angeschlossen. Nicht zuletzt auch wegen meiner familiären Beziehungen zum Deutschen Osten. Die Treffen unserer Gruppe sind wirklich etwas sehr Besonderes für mich. Es hat für mich immer eine sehr gemütliche, geborgene Atmosphäre. Die Gemeinschaft ist wirklich sehr gut, und dort pflegen wir auch noch die ostpreußischen Traditionen.

Ich habe der Gruppe und ihren Mitgliedern sehr viel zu verdanken, ohne sie und die Zeitzeugen hätte ich nie die Bachelorarbeit schreiben können. Ich möchte an dieser Stelle auch Frau Renate Bohn danken, die mir während der Forschung immer ein offenes Ohr geschenkt hat. Sie hat mich auch bei meiner Bachelorarbeit und nicht zuletzt bei der Vermarktung meines Buches unterstützt.

Wie kann man generell Menschen Ihres Alters für das Thema „Flucht und Vertreibung“ sensibilisieren? Vielleicht auch dann, wenn sie nicht familiär geprägt sind?
Ich glaube, dass das Grundproblem einfach an der Unkenntnis und nicht im Interesse für das Thema liegt. Natürlich ist Flucht und Vertreibung ein sehr ernsthaftes und teilweise schwer verdauliches Thema, womit sich nicht jeder in meiner Altersgruppe beschäftigen möchte. Ich denke aber, dass über diesen Teil unserer Geschichte viele Menschen gar nicht mehr viel wissen, was da zum Beispiel genau passiert ist, weil es ihnen niemand vermittelt hat. Für mich liegt der Vermittlungsfehler auch besonders bei den Schulen. Der Zweite Weltkrieg mit seinen Verbrechen und dessen Folgen wird, meiner Meinung nach, zu einseitig betrachtet. Ich finde es sehr wichtig und richtig, dass die Gräueltaten der Deutschen, die diesen fürchterlichen Krieg angefangen haben, nicht vergessen werden und auch stets daran durch unterschiedlichste Weise erinnert wird. Doch der Krieg und seine Folgen müssen vielseitiger betrachtet werden, damit auch andere prägende Erlebnisse und Kriegsschauplätze nicht aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden, beziehungsweise wieder überhaupt einen Platz finden. Bestes Beispiel ist der grauenhafte Untergang des Schiffes ,Wilhelm Gustloff', das am Ende des Krieges Tausende Flüchtlinge gen Westen transportieren sollte.

Durch dessen Untergang fanden zirka 9000 Menschen, die Opferzahlen variieren, den qualvollen Tod in der eisigen Ostsee. Heutzutage wird diese Menschheitstragödie kaum noch erwähnt, schon gar nicht im Geschichtsunterricht. Hingegen wird der Untergang der ,Titanic' im Jahr 1912, bei dem zirka 1500 Opfer zu beklagen waren, ein Bruchteil der ,Gustloff'- Opfer, fast schon mystifiziert. Ich möchte diesen verheerenden Untergang der ,Titanic' damit nicht schmälern, nur man muss sich mal die Relationen vor Augen halten. Während meiner gesamten Schulzeit wurde das Thema rund um Flucht und Vertreibung im Prinzip so gut wie unbeachtet gelassen. Ich würde mir daher wünschen, dass besonders an Schulen schon die Kinder für dieses Thema sensibilisiert werden. So mancher Schüler wird dann vielleicht merken, dass seine Familie sogar auch aus dem Osten geflohen ist, und so wird wieder ein Bewusstsein für den ehemaligen Deutschen Osten geschaffen. Auch Menschen ohne familiären Bezug könnten Interesse dafür bekommen, wenn man sie richtig aufklärt und ihnen die reiche Kultur des Ostens näherbringt. In erster Linie muss man Geschichte viel lebhafter und spannender vermitteln, um sie greifbarer zu machen.Geschichte lebt nicht nur von bloßen Zahlen und Fakten, sondern von Neugier und Nahbarkeit für die Themen.

Planen Sie, auch weiterhin über die Geschichte der deutschen Vertriebenen zu forschen und zu publizieren?
Für die Zukunft schließe ich nichts aus. Mir ist die Geschichte des Deutschen Ostens mit all seinen Facetten eine große Herzensangelegenheit. Mein Interessenschwerpunkt liegt nicht nur bei Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen, sondern auch bei der gesamten Kultur und Vielfalt der ehemaligen Ostgebiete. Mir ist es einfach wichtig, dass die Erinnerung an diese Gebiete auch bei zukünftigen Generationen nicht in Vergessenheit gerät. Ich bin stolz auf meine Wurzeln, die größtenteils in Pommern, Schlesien, der Provinz Posen oder eben in Ostpreußen liegen. Dabei ist mir ein versöhnliches Verhältnis dazu und ein gutes Miteinander zu Polen, Litauen und Russland sehr wichtig. Leider wird die allgemeine Weltlage aber immer schwieriger. Ich habe in Zukunft eigentlich nicht unbedingt vor, in die Lehre oder Forschung schwerpunktmäßig zu gehen. Für mein berufliches Leben würde ich gerne journalistisch tätig werden, wie beispielsweise beim Rundfunk oder bei anderen Medieninstitutionen. Man wird sehen, was die Zukunft bringt. Ich könnte mir aber trotzdem vorstellen, irgendwann mal wieder eine Forschungsarbeit zu publizieren.


Kontakt Das Buch kann über folgende Wege bestellt werden: Per E-Mail: patzer. julian@web.de , telefonisch unter (05532) 2167 oder über den Verlag unter der E-Mail-Adresse strueber@fabuloso.de 


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Kommentare

Heike Boot-Müller am 03.09.25, 08:34 Uhr

Ein tolles Projekt, herzlichen Glückwunsch.
1953 wurde ich in Wanne-Eickel geboren.
Mutter war Flüchtling aus Ostpreußen, Halbbruder war 14 Jahre alt und hatte seinen Vater in Stalingrad verloren, Vater war Niederländer der deutscher Soldat war.
Eine enorme Familiengeschichte hat mich immer begleitet. Mutter verstarb 2019 kurz vor ihrem 100sten Geburtstag. Sie hat endlos von Ostpreußen und der Flucht erzählt, ich habe vieles aufgeschrieben. Mein Bruder redet überhaupt nicht von der Zeit, er hat alles ausgeblendet.
Ich habe mich immer wieder gefragt warum wir im Schulunterricht überhaupt nichts gehört haben über diese so traumatische Zeit vieler unserer Familien.
Wie gut dass,sie sich damit beschäftigen. Es hat uns, die Nachkriegskinder, sehr beeinflusst und geformt
Herzlichen Dank aus Holland

David L am 11.08.25, 21:35 Uhr

Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer guten Arbeit, junger Mann.

David
Australien

Kersti Wolnow am 11.08.25, 06:32 Uhr

Es ist ein deutsches Phänomen, die eigenen Opfer herunterzurechnen, ihnen keine Erinnerungsstätte zu geben und sich und den Generationen danach jetzt schon bis zum 5. Glied das Haupt mit Asche zu besudeln.

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