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Mit der Lupe gesucht: Wer Genealogie betreibt, muss Einträge in alten Kirchenbüchern entziffern können
paMit der Lupe gesucht: Wer Genealogie betreibt, muss Einträge in alten Kirchenbüchern entziffern können

Abenteuer Ahnenforschung

Eine illustre Familie

Ein Lump und ein ehrbarer Komponist – Wer Genealogie betreibt, lernt vielschichtige Seiten seiner Vorfahren kennen

Bettina Müller
23.02.2021

Ehrfürchtig stehe ich vor der kleinen Dorfkirche von Sabel, einem Ortsteil von Burg Stargard in der Nähe von Neubrandenburg. Meine Reise auf den Spuren meiner Ahnen hat mich auch an diesen Ort gebracht. Die Tür der in frischem Gelb angestrichenen Kirche ist verschlossen. Ich blicke durch das Fenster in das dunkle Innere und stelle mir vor, wie ein Vorfahrenpaar vor sieben Generationen – in der Ahnenforschung auch als fünffache Urgroßeltern bezeichnet – dort vor dem Pastor stand, um sich ewige Treue zu schwören. Doch einer der beiden hat den Schwur gebrochen.

Am Anfang des 19. Jahrhunderts lernte der Pächter Georg Heinrich Wollmer aus Berlin im Neubrandenburger Gasthaus von Jonathan Benjamin Sponholz dessen Tochter Johanna Wilhelmine kennen. 1802 heiratete Wollmer die „Demoiselle Sponholz“ in Sabel. Es muss eine einsame Zeremonie gewesen sein, denn die Namen von Trauzeugen sucht man im Kirchenbuch vergeblich. Irgendetwas hat somit nicht gestimmt, die Braut war vielleicht bereits schwanger und wohl auf einen Mann von zweifelhaftem Charakter hereingefallen.

Das schwarze Schaf in der Familie
Der „ehrbare“ Pächter erwies sich dann tatsächlich als Lump, der Frau und Kinder aufgrund seiner chronischen Spielsucht im Stich lassen sollte. Unbeirrt suchte er erst das Abenteuer, dann das Weite und wurde sogar steckbrieflich gesucht. Die leidgeprüfte Johanna war seit dem Verschwinden ihres Mannes mit ihren Kindern alleine auf sich gestellt und musste 1827 für deren Erziehung sogar den mecklenburgischen Großherzog anbetteln, zwei Jahre zuvor war Wollmer an Schwindsucht gestorben: „Eine arme Witwe, und Mutter unserer Kinder, von denen einige noch der Erziehung bedürfen, drückt mich der Mangel an Mitteln, sie zu brauchbaren Menschen zu bilden.“

Sohn Carl studierte zu dieser Zeit an der Universität zu Rostock Theologie, was ihn jedoch nicht daran hinderte, nach einem Duell auch den Karzer seiner Universität von innen kennenzulernen.

Wie der Vater so der Sohn? 1832 arbeitete er zunächst noch in der Nähe von Plau als Erzieher, geriet dort dann aber auch auf Abwege: 1833 wurde seine uneheliche Tochter Minna geboren. Der kränkliche Carl Wollmer trat dann noch eine Stelle als Hilfsprediger in Friedland an, wo er „von Ostern 1835 bis zu Rudolphis [Pastor von St. Marien] Tode u. danach noch das Gnadenjahr hindurch in der hies. Marienkirche“ predigte, wie es später in seinem Eintrag im Sterbebuch heißen sollte. Am 4. Oktober 1847 starb er qualvoll an einer Gichterkrankung.

Sein Bruder Heinrich Jonathan war derweil in Charlottenburg ansässig geworden, wo der „Mehl- und Vorkosthändler“ 1833 in der Luisenkirche Henriette Emilie Rungenhagen geheiratet hatte. Der eher seltene Familienname „Rungenhagen“, den bundesweit zirka 150 Personen tragen, ist im Berliner Raum vor allem durch den Komponisten und Direktor der Berliner Singakademie, Carl Friedrich Rungenhagen (1778–1851), bekannt. Tatsächlich zeigte es sich anhand der einschlägigen Kirchenbücher, dass Henriette die Großnichte zweiten Grades des Musikers war, dessen Vorfahren aus Liebenberg im heutigen brandenburgischen Kreis Oberhavel stammen. Henriette verlor ihren Vater Ernst Philipp, als sie gerade vier Jahre alt war.

Ein Weib mit furchtbarem Charakter
Der 1779 in Liebenberg geborene Urenkel von Johann Heinrich Rungenhagen war im zivilen Leben „herrschaftlicher Kunstgärtner“, wo genau er als solcher wirkte, verraten die Quellen nicht. 1813 starb er als Landsturmmann – mittlerweile war der Freiheitskrieg gegen Napoleon ausgebrochen – im Alter von nur 42 Jahren im Berliner Lazarett am Weidendamm an Typhus. Lange Jahre hing die Gedenktafel, auf der man auch seinen Namen lesen konnte, für die Gefallenen der Freiheitskriege der Luisengemeinde in der Kirche, bis der Zweite Weltkrieg sie in Schutt und Asche legte.

Ernst Philipp hinterließ drei Kinder und eine wohl eher unbeliebte Angetraute. Zwei Jahre nach Ernst Philipps Tod heiratete seine Witwe erneut und veranlasste den Pastor zu diesem wenig herzlichen Eintrag im Kirchenbuch, dessen Fragment allein schon sehr aufschlussreich ist: „...ein tüchtiges arbeitsammes aber böse ausgeschrienes Weib; wegen sein furchtbaren Charakter [??]“.

Das Gesamtbild aus den vielfältigen Quellen über die Familie Rungenhagen lässt den Schluss zu, dass sie eigentlich wenig abenteuerlustig war. Auswanderer gibt es bei ihnen so gut wie gar nicht, und die zahlreichen historischen Namensnachweise konzentrieren sich sehr auffällig auf das Gebiet Berlin und nördliches Brandenburg.
Ein Urahn aus Königsberg
Der erste Rungenhagen in Liebenberg, Johann Heinrich Rungenhagen (1692–1772) – der Großvater des Komponisten und mein genealogisch gesehen achtfacher Urgroßvater –, trat dort um 1715 in Erscheinung. Er kam aus Berlin, wo sein um 1635 wohl in Königsberg in der Neumark geborener Vater Peter bereits Schneider mit Bürgerrecht gewesen war. In Liebenberg trat er seine erste Stelle als Schulmeister und Schneider an und genoss so auch den Respekt seiner adeligen Brotherren.

Bei den Taufen seiner Kinder gaben sie sich in der Regel die Klinke in die Hand. Am 16. März 1736 erschienen zum Beispiel gleich vier Vertreter des ursprünglich klevischen Adelsgeschlechts von Hertefeld in der Liebenberger Kirche, als Johanns Tochter Wilhelmine getauft wurde. 1652 hatte Jobst Gerhard von Hertefeld in der Gegend Land erworben und das sumpfige Gebiet mit Hilfe von holländischen Siedlern, Profis im Trockenlegen von feuchten Böden, urbar gemacht. Etliche Rungenhagens wirkten im Laufe der Zeit als Schullehrer in dem Ortsteil „Klevesche Häuser“, den man als Reminiszenz an die Pionierleistung der von Hertefelds so benannte.

Zurück in Berlin wartet Carl Friedrich Rungenhagen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof noch auf Verwandten-Besuch. Dennoch schaut sein Profil auf dem strahlend weißen Gipsrelief etwas streng aus. „Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“, heißt es auf seinem Grabstein. So hat Carl Friedrich mir noch einen wohlgemeinten Rat mit auf den Weg gegeben, und zwar, dass man die begrenzte Zeit des irdischen Daseins gut nutzen sollte.


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