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Gertrud Lerbs-Bernecker

Eine Künstlerin mit tragischem Schicksal

Vor 60 Jahren erhielt die Graphikerin den Kulturpreis der Landsmannschaft Ostpreußen in der Kategorie Bildende Kunst

Jörn Barfod
15.09.2023

In dem etwa 600 Einwohner zählenden Dorf Rogehnen [Rogajny], im Kreis Preußisch Holland, nicht weit von Elbing [Elbląg] gelegen, wurde Gertrud Lerbs am 5. März 1902 als Tochter des Postbeamten Gottlieb Lerbs und seiner Frau Anna geboren. Zusammen mit ihrem drei Jahre jüngeren Bruder Paul lebte sie die ersten sieben Jahre in dem Dorf in kleinbürgerlichen, wohlgeordneten Verhältnissen. Ihre Liebe zur Natur und die Freude an Pflanzen könnten schon hier angelegt worden sein.

1909 wurde der Vater nach Königsberg versetzt, und die Familie zog in ein großes viergeschossiges Mietshaus mitten in der Altstadt, an der Altroßgärter Kirchenstraße. Das wird ein großer Einschnitt im Leben gewesen sein. Später besuchte Lerbs die Mittelschule, wo ihr großes künstlerisches Talent im Zeichnen auffiel. Dies veranlasste die Eltern, sie gleich nach Abschluss der Schule zur Königsberger Kunst- und Gewerkschule gehen zu lassen, 1917, und ein Jahr später dann bereits zur Kunstakademie. Dies wird für die Eltern sicher kein üblicher Weg für eine Tochter gewesen sein. Dass er dennoch begonnen wurde, zumal in den letzten entbehrungsreichen Jahren des Ersten Weltkriegs, zeigt, wie sehr die Begabung von Lerbs beeindruckt haben muss.

Der bestimmende Lehrer an der Kunstakademie wurde für Lerbs der Graphiker Heinrich Wolff (1875–1940). Von hier aus bestimmte sich ihr weiterer künstlerischer Weg. Sie blieb acht Jahre lang an der Akademie, später als Wolffs Meisterschülerin mit eigenem Atelier, als erste und einzige Frau, der dieses Privileg zukam an der Königsberger Kunstakademie. Sie warf sich intensiv in das Studium, wie sie in ihren Erinnerungen später anmerkte: „Ich war immer sehr in meiner Arbeit aufgegangen und hatte auch so viel Erfolg damit gehabt, dass die Freude daran viel Platz in meinem Leben einnahm.“ Ihr Interesse galt anscheinend ganz der Graphik, anderes ist nirgends überliefert.

Das Dunkle verließ sie nie
Schon 1919 konnte sie in der Jahresausstellung des Königsberger Kunstvereins vier Lithographien zeigen: zwei Szenen aus dem Märchen „Gevatter Tod“, ein Blatt „Nachtstück“ und eine Arbeit „Feierabend“. Im frühen Werk sind Märchenszenen häufig. Wolff stellte auch als Schüleraufgaben in seiner Klasse gern entsprechende Aufgaben, welche die Phantasie anregen konnten. Aber es wird an den Themen der ausgestellten Blätter die düstere Seite der Motivik bei Lerbs deutlich. Eine auf einer Eisenbahnschiene balancierende weibliche Person wird vom Tod geführt in einer öden Landschaft. Eine weibliche Gestalt mit überstrecktem Körper und hochgereckten Armen steht vor einem Zug riesiger ganz verhüllter, überlängter Gestalten, die einem Weg an zwei Telegrafenstangen entlang ziehen. Diese Motive aus dem Jahr 1919 stehen für eine Vorstellungswelt bei Lerbs, die sich durch ihr ganzes Werk zieht, soweit es heute noch bekannt ist. Die meisten Arbeiten sind Lithographien, die in erster Linie zeichnerisch gemacht sind. Dabei erkennt man den Zeichenstrich ihres Lehrers Wolff oft gut.

Unter allen druckgrafischen Techniken, die Lerbs bei Wolff lernen konnte – wobei sie in ihm einen der besten Lehrer überhaupt hatte –, wählte sie sich als Spezialität den Kupferstich aus. Das war damals schon recht ungewöhnlich und erregte Aufmerksamkeit. Auch bei den Stichen gestaltete sie oft Märchenszenen, so schon 1922 ein zauberhaftes Däumelinchen, aber auch schon düstere Geistergeschichten und Sagen von Zwergen, welche die Menschen plagen, oder dem Topich, der in masurischen Seen Menschen unter Wasser zieht. Ganz eigenständig ist ihre Phantasie der „Wanderdüne“, ein Kupferstich von 1931, der durch das preußische Kultusministerium ausgezeichnet wurde. „Die Schrecken der ,Wanderdüne' versinnlicht sie durch einen den Sandberg herniederjagenden Frauenkopf, vor dessen unentrinnbarem Gespensterblick sich Baum, Tier und Mensch, gleich wehrlos, gleich demütig, neigen und beugen“, so der Kunsthistoriker und Journalist Ludwig Goldstein im „Königsberger Tageblatt“ vom 22. Mai 1932.

1926 beendete Lerbs ihre Studienzeit an der Königsberger Kunstakademie und arbeitete fortan selbstständig. Zuerst bei den Eltern wohnend zog sie 1930 in eine gemeinsame Wohnung in Königsberg mit dem Maler Kurt Bernecker, den sie 1923 auf der Akademie kennengelernt hatte und 1930 heiratete. Etwas später zogen sie in ein Gartenhaus im Außenbezirk der Stadt (Amalienau), wo die Künstlerin wieder ganz naturnah wohnen konnte. Sie hatte viele Aufträge und Ausstellungen.

1935 füllte eine große Ausstellung sieben Säle im Königsberger Schloss mit ihren Grafiken. Man kann nur ahnen, wie viel von ihrem Schaffen verloren gegangen ist. Jedenfalls waren diese Jahre bis zum Kriegsbeginn 1939 wohl die glücklichsten im Leben der Künstlerin, wie sie später selbst schrieb: „Diese Jahre waren nichts als Glücksjahre, berufliche Erfolge drängten sich um uns, wie auch Freunde und Vergnügen. Unser Wirkungsbereich und unsere Einsicht wurden immer größer. Wir stellten etwas dar. Wir waren jemand, den man selbstverständlich achtete.“

Und doch verließ sie das Dunkle nicht. Eine ihrer berühmtesten Arbeiten ist die 1937 entstandene Lithographie „Abschied vom ostpreußischen Bauernhof“, eine Winterszene. Vorn umarmen sich zwei ältere Frauen, ein Mädchen geht mit einem Paket unter dem Arm, ein Mann macht einen Pferdeschlitten zur Abfahrt bereit. Diese Szene wurde später als Vorahnung der Flucht aus Ostpreußen, die ja in der Tat im Winter geschah, gedeutet. Lerbs schrieb in einem Brief im Oktober 1944: „Ich habe viele Jahre hintereinander, als noch gar kein Krieg war, immer nachts geträumt, wir müssten unser Haus und unsere Heimat verlassen. Immer konnte ich von diesem Traum schwer wieder wach werden. Ich wachte mit strömenden Tränen auf ...“ Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten hatte sie Angst vor einem Krieg. „Ich selber war noch so jung und mitten im Erfolg, und es ging mir so gut ... Aber wenn ich anfing nachzudenken, packte mich immer die Angst.“

Erkrankung an Multipler Sklerose
Im Frühjahr 1939 machte sich die Multiple Sklerose (MS) bei Lerbs zum ersten Mal bemerkbar. „Das war kurz vor dem Kriege, als ich gelegentlich merkte, dass ich nicht mehr so gesund war wie früher.“ Die Ärzte waren ratlos. Zunächst konnte mit Erholungsphasen die körperliche Schwäche kuriert werden, aber die Entwicklung ging schleichend voran.

Seit den ersten Bombenangriffen auf Königsberg nach dem Kriegsbeginn mit Russland verließ sie die Angst eigentlich nicht mehr ganz. Die Krankheit nahm unter den Bedingungen des Krieges ihren Lauf, 1943 musste Lerbs eine Haushalshilfe haben. Es entspricht ihrer Bedeutung als Künstlerin, die sie damals schon hatte, dass man ihr die Professur für freie Grafik an der Königsberger Kunstakademie 1943, nach dem Weggang von Wilhelm Heise (1892–1965), anbot. Aufgrund ihrer fortgeschrittenen MS konnte sie das Angebot aber nicht mehr annehmen.

Unterbrochen von Krankheitsschüben arbeitete sie jedoch weiter. Ergreifend ist eine der letzten in Königsberg entstandenen Lithographien von 1944: „Rufende in der Stadt“. Eine helle Frauengestalt, sicher eine Art Selbstdarstellung der Künstlerin, drängt sich zwischen zwei dunkel gekleideten Menschen in der ihrer Laufrichtung entgegengesetzten Richtung durch. Dahinter sieht man ein städtisches Straßenbild mit vielen Menschen auf den Bürgersteigen. Als ob sie als einzige vor der Gefahr fliehen wollte, die alle anderen nicht wahrzunehmen scheinen.

Kriegsende und Flüchtlingselend
Nach einem Kuraufenthalt in Schlesien kehrte Lerbs in das inzwischen schwer zerbombte Königsberg zurück und wurde von ihrem Mann gedrängt, die Stadt Richtung Westen zu verlassen. Im Oktober fuhr sie schließlich zu ihrer Freundin Hertha Drahl, die aus ihrem Haus in Hamburg schon seit Längerem wegen der Bombenangriffe in ein Dorf bei Lüneburg ausgewichen war. Hier in Brietlingen erlebte sie das Kriegsende und auch das Flüchtlingselend, als sie aus dem Haus in eine Feldscheune ausweichen müssen.
Mit der Darstellung der Flüchtlinge in der Scheune beginnt der letzte Abschnitt im Schaffen von Getrud Lerbs. Sie schildet das Flüchtlingsschicksal und die brutalen Zustände im Elend der ersten Nachkriegszeit. Sie schrieb im September 1945: „Jetzt stehen innerlich vor mir die Flüchtlingsströme aus dem Osten, die ich nicht gesehen habe, von deren unendlichem Leid aber der Rundfunk spricht.“

Ihr Ehemann, der zuletzt noch zum Volkssturm eingezogen worden war, konnte sich retten. Mit ihm zusammen begann Lerbs unter den Bedingungen der Wohnungsnot und der schlechten Versorgung in Lüneburg noch einmal ein künstlerisch wirkendes Leben. Allerdings war die fortgeschrittene MS immer wieder ein großes Hemmnis.

Es gelang Lerbs aber wieder, Ausstellungen zu beschicken und publizistische Aufmerksamkeit zu erlangen. Die einzige größere Veröffentlichung über sie, eine Mappe mit 18 Wiedergaben von ihren Lithographien, erschien 1948. Illustrationsaufträge von Zeitungen und Arbeiten für die Hamburger Kunstliebhabervereinigung der „Griffelkunst“ beschäftigten sie und gaben auch wirtschaftliche Unterstützung. Bernecker begann eine private Kunstschule, wie sie sie in Königsberg auch einige Jahre geführt hatten.

Hatte Lerbs 1946 sogar noch einige Kupferstiche neu schaffen können, so machte sich ihre Krankheit später auch in den Händen bemerkbar. Der Krieg hatte ihr nur einige Druckplatten und eine Mappe mit Drucken, die sie auf ihre Flucht aus Königsberg mitgenommen hatte, übriggelassen. Es kam aber wieder ein eindrucksvolles Werk zustande. Mit enormer darstellerischer Kraft drückt sie in einem Kupferstich von 1946 das unendliche Leid einer hinknieenden Mutter aus, die einen Aufschrei gen Himmel sendet und ihre beiden toten kleinen Kinder vor sich fasst, während man im Hintergrund eine flüchtende Menschengruppe mit einem schweren Handkarren sieht.

„Der Weg ist noch nicht zu Ende“ heißt eine 1947 entstandene Lithographie, die einen langen, sich durch eine zerstörte Landschaft schlängelnden Zug von elenden menschlichen Gestalten zeigt. An der Spitze des Zuges hält eine Frau eine andere, strauchelnde an den Händen. Ende der 1950er Jahre musste die Künstlerin ihr Schaffen krankheitsbedingt aufgeben. 1963 wurde sie von der Landsmannschaft Ostpreußen mit dem Kulturpreis geehrt.

Ihre letzten Jahre verbrachte Lerbs, an Händen und Füßen fast gelähmt, in einem Lüneburger Heim. Sie starb am 6. Mai 1968.


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