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Ohne Eltern, ohne Heimat, ohne Perspektive: Ostpreußische Wolfskinder nach dem Zweiten Weltkrieg
Foto: privatOhne Eltern, ohne Heimat, ohne Perspektive: Ostpreußische Wolfskinder nach dem Zweiten Weltkrieg

Zeitgeschichte

Eine mahnende Katastrophe

Unter den Opfern des Zweiten Weltkriegs hatten die „Wolfskinder“ ein besonders hartes Leid zu tragen. Ohne Eltern, ohne Heimat und ohne Orientierung zogen die ostpreußischen Hungerkinder nach dem Kriege durch die Lande. Fast alle litten Hunger, viele starben. Diejenigen, die überlebten, fanden nach langer Odyssee in Litauen ein neues Zuhause

Christopher Spatz
24.12.2021

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es im nördlichen Ostpreußen zu einer kaum beachteten humanitären Katastrophe. Durch Gewalt, Seuchen, schlechte Wohnverhältnisse, ungewöhnlich strenge Kälte und Unterernährung starben mehr als 100.000 deutsche Zivilisten. Die Übriggebliebenen waren oft Kinder. Ohne Eltern, ohne Familie, ohne ein Zuhause waren sie ganz auf sich allein gestellt. Manche kamen in sowjetische Heime, andere flohen ins Nachbarland Litauen. Lange Zeit nahm die Welt vom Dasein dieser Mädchen und Jungen keine Notiz. Erst vor etwa dreißig Jahren wurde die Öffentlichkeit auf ihre Schicksale aufmerksam. Es begann ein ideelles und politisches Ringen um die Anerkennung ihrer Geschichten.

Fluchtpunkt Litauen

Im Winter und Frühjahr 1947, auf dem Höhepunkt der ostpreußischen Hungersnot, machten sich Kinder, die noch die Kraft dazu hatten, auf den Weg nach Litauen. Wie ein Lauffeuer ging in jenen Wochen die Kunde durch ihre Reihen, dass man im Nachbarland Bauern finden konnte, die deutschen Kindern zu essen gaben. Diese Vorstellung wirkte elektrisierend.

Die neue innerostpreußische Grenze im Süden war bewacht und undurchlässig, da sie zur Außengrenze der Sowjetunion gehörte. Die Chancen standen höher, die Grenze nach Norden und Osten zu überwinden. Tausende Mädchen und Jungen fuhren als blinde Passagiere mit Güter- oder Personenzügen oder hofften auf Mitnahmegelegenheiten per Lkw. Ungeachtet des Wetters und der Jahreszeit hockten sie sich auf Puffer, Trittbretter und Dächer, setzten sich in offene Waggons oder versteckten sich inmitten der Ladung. Wenn es keine Zwischenfälle gab, erreichten sie über Tilsit das Memelland und den Nordwesten Litauens, über Insterburg den Großraum Kaunas und den Süden des Landes. Dabei legten sie Strecken von bis zu 250 Kilometern zurück. Sie bettelten anschließend meist in einem Radius von 15 oder 20 Kilometern um eine Bahnstation.

Wer in Ostpreußen noch Angehörige besaß, kehrte nach einigen Tagen mit Kartoffeln, Brot, Mehl und Eiern zurück, um Mütter oder kleine Geschwister zu versorgen. Dabei blieben Gefahren gegenwärtig, die selbst durch Scharfblick und Achtsamkeit nicht gebannt werden konnten. Beim Aufspringen rutschten Kinder ab und gerieten unter anfahrende Züge. Bei tiefen Minusgraden blieb ihre Haut am Metall kleben. Steif gefroren vor Kälte oder unaufmerksam vor Müdigkeit, konnten sie während der Fahrt zwischen den Waggons auf die Schienen fallen. Hinzu kam die völlige Unwägbarkeit des Verhaltens Erwachsener. Manchmal halfen ihnen diese, manchmal wurden die Kinder von ihnen geflissentlich übersehen, manchmal aus jeder Bahnhofsnähe gejagt oder Opfer sadistischer Handlungen. Viele Kinder blieben deshalb irgendwann in Litauen. Das Unterwegssein zwischen Ostpreußen und Litauen war auf die Dauer zu strapaziös. Ihr Selbsterhaltungstrieb siegte.

Während sie den Grenzübertritt in ein fremdes Land häufig gemeinsam meisterten, folgte im Anschluss schnell die Trennung von der eigenen Gruppe. Denn die Gemeinschaft von Schicksalsgefährten brachte in Litauen keine Vorteile mehr. Im Gegenteil, sie bedeutete eine Verringerung der eigenen Überlebenschancen. Die Litauer fürchteten, sich mit ihrem Einsatz für deutsche Kinder des verdeckten Widerstands gegenüber den sowjetischen Machthabern verdächtig zu machen. Mädchen und Jungen, die von einer litauischen Familie dauerhaft aufgenommen werden wollten, mussten deshalb ihre deutsche Herkunft verschleiern, einen neuen Namen annehmen und in eine neue Sprache und Identität hineinwachsen.

Heimkehr in ein fremdes Land

Viele der überlebenden Hungerkinder wurden trotz ihrer schnellen Anpassung an die neuen Verhältnisse repatriiert. 1947 und 1948 brachte die Rote Armee fast alle überlebenden Deutschen aus Nordostpreußen Richtung Westen. Tausende der Mädchen und Jungen, die bis dahin zwischen Ostpreußen und Litauen gependelt waren, gelangten bereits mit diesen Transporten nach Mitteldeutschland in die sowjetische Besatzungszone.

Eine spezielle Rückführungsaktion für nach Litauen geflohene Deutsche gingen die sowjetischen Behörden im Mai 1951 an. Sie brachten weitere 3500 Ostpreußen aus dem Baltikum in die DDR. Nach dem Tod Stalins meldeten sich viele der inzwischen verschollen geglaubten Ostpreußenkinder bei den deutschen Botschaften oder dem Suchdienst des Roten Kreuzes. Bis in die 70er Jahre ließ die Sowjetunion mehrere Hundert von ihnen zu ihren Restfamilien in die DDR und die Bundesrepublik ausreisen.
Die letzte Gruppe von „Rückkehrern“ bildeten mehrere hundert Landsleute, die sich erst 1991 nach der litauischen Unabhängigkeit aus der Deckung wagten. Sie besaßen keine Papiere mehr, die ihre eigentliche Herkunft bezeugten. Die deutschen Behörden agierten abwartend. Nach zähem Ringen erhielten die Betroffenen als Aussiedler die deutsche Staatsbürgerschaft und siedelten in die Bundesrepublik über (siehe auch das nebenstehende Interview).

Einen Kreis von Frauen und Männern gibt es, der bis heute in Litauen lebt. Die meisten von ihnen haben sich in der Interessenvereinigung „Edelweiß“ organisiert. Durch Krankheit und Todesfälle nimmt die Anzahl der Vereinsmitglieder allerdings rapide ab, aktuell sind es noch um die 30 Personen.

Unerhörte Geschichten

In der Hochphase des Kalten Kriegs waren die Betroffenen damit beschäftigt, ihre Bildungslücken wettzumachen, eine eigene Familie zu gründen und beruflich aufzuschließen. Ihr Blick war nach vorne gerichtet, die Vergangenheit schien zu ruhen.

Schnitten sie im mittleren Lebensalter ihre Nachkriegserlebnisse zum ersten Mal vorsichtig an, mussten sie außerhalb der Familie mit Unverständnis rechnen. Diese Feststellung gilt ab den 70er Jahren für beide deutsche Teilstaaten. Auch in der Bundesrepublik ließen sich die ostpreußischen Nachkriegsschicksale vom Gegenüber nicht mehr zufriedenstellend in eine gesamtgesellschaftlich anerkannte Opfererzählung einordnen. Um überhaupt erzählbar zu werden, wären die Erinnerungen an das Hungersterben in Ostpreußen jedoch auf allgemeine Akzeptanz angewiesen gewesen. Wer es in dieser Atmosphäre wagte, dennoch über seine Hunger- und Todeserfahrungen zu sprechen, hatte zumeist Gleichgültigkeit oder Ablehnung zu erwarten.

Wendezeit auch für die Ostpreußen

Der Fall der Berliner Mauer, die litauische Unabhängigkeit, die plötzliche Zugänglichkeit der Erinnerungsorte in Nordostpreußen und das entstehende mediale Interesse – diese Entwicklungen haben seit 1989/1991 dazu geführt, dass das Schicksal der ostpreußischen Mädchen und Jungen bekannt geworden ist. Wesentlichen Anteil daran hatte nicht zuletzt der „Wolfskinder“-Begriff, der seit Beginn der 90er Jahre auf die einstigen ostpreußischen Hungerkinder immer häufiger Anwendung fand.
Der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Freiherr v. Stetten war einer von wenigen Politikern, die sich fortan für die Interessen dieser Schicksalsgruppe einsetzten. Im Fokus standen vor allem die „Edelweiß-Wolfskinder“ in Litauen, die neben materieller Hilfe auch Unterstützung bei ihrer schwierigen Identitätsfeststellung und der Erlangung deutscher Papiere benötigten. Neben v. Stetten erfuhren die Betroffenen auch Hilfe von zahllosen ostpreußischen Landsleuten, die Versorgungstransporte organisierten, ihnen Briefe und Urkunden übersetzten und für sie in der Bundesrepublik Archivbesuche und Behördengänge übernahmen.

Heutige Situation

Die Schicksale der ostpreußischen Wolfskinder sind inzwischen gut erforscht. Wissenschaft, Literatur, Oper und Film haben sich ihrer speziell in Deutschland und in Litauen angenommen. Es gibt eine Reihe von Büchern und mehrere Wanderausstellungen, die über das Thema informieren. Derzeit wird an Fernsehproduktionen gearbeitet, die die Nachkriegszeit in Europa sowie das Verhältnis von Kindheit und Krieg untersuchen. Dass in beide Vorhaben die Biographien der ostpreußischen Kinder eingebunden werden sollen, ist eine gute Entwicklung.

Die Vertreter der Erlebnisgeneration werden altersbedingt weniger. Noch ist es möglich, Zeitzeugen über ihre Nachkriegserlebnisse in Ostpreußen zu befragen. Kinder, Enkel und Urenkel sollten davon Gebrauch machen. Wenn eines Tages niemand mehr da ist, der aus eigenem Erleben erzählen kann, werden wir allein auf die bis dahin dokumentierten Geschichten angewiesen sein.

Im Zuge der Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter durch die Bundesrepublik Deutschland konnten bis Ende 2017 auch Wolfskinder und Waisenhauskinder einen Antrag auf eine Anerkennungsleistung von 2500 Euro stellen. Wer die Kraft dazu aufgebracht hat, hält heute zumeist einen Anerkennungsbescheid in Händen. Mit diesen Bescheiden hat der deutsche Staat das Leid der ostpreußischen Mädchen und Jungen über 70 Jahre nach Kriegsende offiziell anerkannt.

Die Schicksale der Wolfskinder berühren menschliche Urängste vom Verlassen-Sein und Sich-Verlieren, zeugen von Abhängigkeit und Gewalt, von Mut, Instinkt und Tapferkeit sowie vom Faktor Zufall, der den seidenen Lebensfaden durchschneiden kann. Die Fülle dieser zeitlosen Themen wird uns weiterhin beschäftigen.

• Dr. Christopher Spatz ist Leiter des Verbindungsbüros zur Niedersächsischen Landesbeauftragten für Heimatvertriebene, Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler. 2016 erschien „Nur der Himmel blieb derselbe. Ostpreußens Hungerkinder erzählen vom Überleben“ (Ellert & Richter).


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Kommentare

sitra achra am 30.12.21, 14:25 Uhr

Ich kann Herrn Osrig nur zustimmen. Ich las in Schukows Memoiren, dass er und andere Generäle im Frühjahr Stalin dringend gebeten haben, den Angriff auf Deutschland loszutreten. Stalin, der Zauderer, lehnte diese Aufforderung allerdings ab.
Bei dem Angriff Deutschlands auf die UdSSR handelte es sich hundertprozentig um einen Präventivkrieg.
Der Sieger diktiert allerdings immer die Geschichtsschreibung. Wir wissen es besser.

Chris Benthe am 28.12.21, 11:21 Uhr

Mich bewegt das unmenschliche Schicksal dieser armen, unschuldigen Kinder bis heute. Sie haben es verdient, nicht vergessen zu werden. Mein Herz ist mit ihnen.

Mats Osrig am 27.12.21, 17:54 Uhr

Ein sich überschätzendes Deutschland?
Ich darf daran erinnern, dass die Sowjetunion damals massive Angriffsvorbereitungen getroffen hat, um eine lange geplante Offensive gegen Mittel- und Westeuropa zu führen. Schon zu einem Zeitpunkt, wo nur eine Hand voll Sicherungsdivisionen der Wehrmacht in Polen standen, hatte die Rote Armee ein Mehrfaches an Truppen in Bereitstellung, und baute diese Angriffsstreitmacht stetig aus!
Im Frühjahr 1941 konnte die aufmarschierte Sowjetarmee bis ins zweite Treffen sehr genau aufgeklärt werden, und es war völlig unzweifelhaft, dass es sich nicht um Manöver, sondern um einen offensiven Aufmarsch handelte, der absehbar in wenigen Monaten abgeschlossen werden würde.
Selbstüberschätzung? Wohl kaum, denn abzuwarten hieße, die gewaltige Streitmacht der Roten Armee los schlagen zu lassen mit dem wahrscheinlichen Ergebnis, dass sie bis an den Rhein und darüber hinaus marschiert wäre.
Dem mit Sicherheit kommenden Angriff der Sowjetunion durch eine eigene Offensive entgegen zu treten, hätte hingegen eine Chance bedeutet, den drohenden Untergang abzuwenden. Für diese Option hat sich die damalige Führung dann bekanntlich entschieden.

Die Umstände und Gründe, die zum "Unternehmen Barbarossa" geführt haben, sind übrigens in mehreren guten Büchern zu studieren, von ausgewiesenen Fachleuten geschrieben. Beispielhaft sei hier auf die Werke von Herrn Walter Post, Bernd Schwipper, Joachim Hoffmann und Stefan Scheil hingewiesen.

Henry Bleckert am 25.12.21, 23:47 Uhr

Ein sich überschätzendes Deutschland griff 1941 auch die damalige Sowjetunion an. Ein riesiges Land, welches auch nach einer erfolgten Einnahme der Hauptstadt immer noch zu ungefähr neun Zehnteln unbesetzt gewesen wäre.

Bloß gut, dass das heutige Deutschland von Realisten regiert wird: Sind ganz offensichtlich umfassend gebildet und haben aus den Lehren der Geschichte gelernt ...

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