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Politik

Eine neue Grundwertecharta macht noch keine neue Partei

Die CDU will die inhaltliche Entkernung der Ära Merkel beenden. Die ersten Schritte zeigen, dass sie nur schwer von ihrer langjährigen „Königin“ loskommt

Birgit Kelle
10.06.2022

Zeige mir dein Parteiprogramm, und ich sage dir, wer du bist. Wenn es so einfach wäre, könnte der Traum von CDU-Vize Carsten Linnemann tatsächlich wahr werden, dass die Wiedererkennbarkeit seiner Partei in der Nach-Merkel-Ära von jedem Mitglied, „wenn es nachts um drei geweckt wird“, mit drei klaren Punkten quasi schlafwandelnd zitiert werden kann.

Gerade haben die Christdemokraten eine neue „Grundwertecharta“ ihrer Partei vorgestellt, die als eine Art Präambel für das neu zu erarbeitende Parteiprogramm stehen soll. Bis Ende 2024 werden nun weitere elf Fachkommissionen thematisch an den Details arbeiten, die Mitglieder eingebunden, Parteitage streiten - und es soll ganz viel debattiert werden.

In dem Papier fehlt es nicht an Ambitionen und Visionen einer wertegebundenen und weltoffenen, konservativen, sozialen und liberalen Politik basierend auf dem christlichen Menschenbild. Man betont das Konservative, das Liberale, mehrfach die individuelle Verantwortung des Einzelnen und das Subsidiaritätsprinzip. Man will Volkspartei sein, der Zersplitterung der Gesellschaft entgegenwirken, die Leistung des Individuums schätzen und gleichzeitig Verantwortung für den Nächsten und die Schöpfung zeigen. Amen.

Ausgestreckte Arme statt Raute

Parteichef Friedrich Merz spricht von einem richtungsweisenden Schritt, Linnemann von einer brennenden, fesselnden, mutigen Erzählung und Generalsekretär Mario Czaja bemüht nach „der Phase der Raute, die 16 gute Jahre für Deutschland waren“ nun eine „Phase der ausgestreckten Arme“. Niemand traut sich auszusprechen, dass der Hauptgrund für die Notwendigkeit eines Neuanfangs in der totalen inhaltlichen Entkernung der Partei liegt, die diese „Raute“ wie eine Schneise der Verwüstung in die Partei geschlagen hat. Selbst nach dem Tod der Königin will immer noch keiner Königsmörder sein. Zumal ja – mit wenigen Ausnahmen wie Merz – vielerorts immer noch dieselben Akteure an den Rudern der Partei stehen, die 16 Jahre lang etliche Gelegenheiten versäumten, realpolitisch genau jenes Profil umzusetzen, nach dem man jetzt händeringend sucht.

Ob die CDU tatsächlich wieder zu einer ernstzunehmenden konservativ-liberalen Regierungskraft mutiert, hängt jedoch kaum von den wohlformulierten Sätzen eines Parteiprogrammes ab. Das liegt weniger am richtigen oder falschen Inhalt, denn am Personal: Was nutzt das hübscheste Papier, wenn das, was dort steht, für die tatsächliche Politik der Partei keine Relevanz hat? Was helfen Statuten, wenn die mühsam in auserwählten Gremien ausgehandelten Zeilen anschließend von niemandem offensiv vertreten werden und im Parlament dem Pragmatismus des Alltages oder dem potentiellen Koalitionspartner zum Opfer fallen?

An einer Stelle greift die Charta das Problem als Vorsatz auf: Man wolle scheinbar Gegensätzliches verbinden, „Werteorientierung und Realpolitik“. Dass man zur Erarbeitung dieser CDU-Charta nicht nur renommierte Politologen wie Andreas Rödder oder die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder beauftragte, sondern etwa mit Ralf Fücks auch ein langjähriges Mitglied der Grünen und ehemaligen Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung, muss doch wenigstens irritieren. Nahezu unverhohlen wird hier Schwarz-Grün in die Grammatik der Partei gezeichnet.

Erste Enttäuschungen

Ob zudem die Aufforderung an die Partei, sich am Prozess zu beteiligen, mehr sein wird als ein einlullendes Beschäftigungsprogramm für frustrierte Basismitglieder, wie damals die „Zuhör-Tour“ von Annegret Kramp-Karrenbauer, wird sich noch zeigen. Oder erinnert sich noch jemand an die Ergebnisse oder auch nur einen Satz der drei Zukunftskommissionen der damaligen CDU-Stellvertreter Laschet, Klöckner und Strobl im Jahr 2015? Ich tue es auch nur deswegen, weil ich Teil dieses monatelangen, aufwendigen Prozesses war und ein wirklich ansehnliches familienpolitisches Programm mit ausgehandelt habe. Danach wurden alle Formulierungen beim Parteitag in Karlsruhe verabschiedet, um seither in einer digitalen Schublade des Konrad-Adenauer-Hauses zu verstauben.

Während nun Professor Rödder referiert, man gehe im christlichen Menschenbild von der individuellen Person und nicht von einer Gruppenzugehörigkeit aus, weil genau das die CDU von rechts, aber auch von links unterscheide, und damit sowohl sozialistischer Gleichmacherei aber auch den Ambitionen der grassierenden Identitätspolitik eine Absage erteilt, wurde nahezu zeitgleich im Parteivorstand noch eiligst das Ziel der „Gleichberechtigung“ der Frau in eine „tatsächliche Gleichstellung der Frau“ umformuliert, um den Weg in eine Frauenquote nicht zu verbauen. Damit geht die CDU nicht nur mit jenen linken gesellschaftlichen Kräften konform, die Geburtsmerkmale neuerdings vor individuelle Leistung stellen, sondern schießt sogar über das Verfassungsziel des Grundgesetzes hinaus, das in Artikel 3 (2) lediglich von der „tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung“ spricht.

Es heißt, CDU-Ministerinnen wie Karin Prien und Ina Scharrenbach hätten mit Ablehnung gedroht, woraufhin Merz, der zum Start ein einstimmiges Votum als Positivsignal haben wollte, inhaltlich einknickte. Empörung zeigte nicht nur Kristina Schröder. Die Wertekommission, der sie angehört habe, hätte sich mit klarer Mehrheit gegen den Begriff Gleichstellung ausgesprochen, denn Gleichberechtigung wolle Chancengleichheit am Start, Gleichstellung eine Gleichmacherei am Ziel.

Doch wie will die CDU politische Unterscheidbarkeit und Standhaftigkeit beweisen, wenn so ein Papier wie diese Charta nicht einmal den Weg aus der Fachkommission bis zur Pressekonferenz übersteht, ohne vorher im Parteivorstand noch einmal sprachlich frisiert zu werden und das auch noch in einem entscheidenden, inhaltlichen Punkt?


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Kommentare

sitra achra am 10.06.22, 17:27 Uhr

Leider sind die meisten Mitglieder der CDU noch von der geistigen und moralischen Diversion der unter der Maske der Jovialität agierenden Stasitante infiziert, und es wird lange dauern, bis sie sich auf sicherem ethischen Terrain wieder neu sortiert haben werden. Zu wünschen wäre es ihnen.

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