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Das rumänische Temeswar ist europäische Kulturhauptstadt 2023. Ein gebürtiger Schwarzwälder navigiert die Stadt durch das Festjahr – und zurück auf die Landkarte der europäischen Kultur
„Oh, là là!“ – munter begrüßt Dominic Fritz (38) eine Gruppe deutscher Journalisten zu einem Hintergrundgespräch im Rathaus von Temeswar/Timișoara/Temesvár, neben ihm sitzen seine noch jüngeren Assistentinnen. Der gebürtige Schwarzwälder wurde 2020 zum Bürgermeister der westrumänischen Stadt gewählt und sorgte damit für Aufsehen auch jenseits der Landesgrenzen. Ein Deutscher wird Bürgermeister der drittgrößten Stadt Rumäniens? Klingt sonderbar, bildet in dem Land jedoch keine Ausnahme, wo Deutsche traditionell einen guten Ruf haben. Der amtierende Staatspräsident Klaus Johannis ist Siebenbürger Sachse, in zahlreichen Gemeinden stellt das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien den Bürgermeister.
Und so verwundert es nicht, dass Dominic Fritz nicht der erste deutschsprachige Bürgermeister von Temeswar ist, das zur Jahrhundertwende noch mehrheitlich deutschsprachig war und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum Königreich Ungarn gehörte.
Verliebt in das „Klein-Wien“ des Ostens
Anders als Johannis oder die früheren Bürgermeister von Temeswar ist Fritz jedoch nicht Mitglied der rumäniendeutschen Minderheit, sondern ein waschechter „Expat“, der sich Anfang der Nullerjahre als junger Freiwilligendienstleistender in dieses mitteleuropäisch anmutende „Klein-Wien“ verliebt hatte und knapp zwei Jahrzehnte später den endgültigen Absprung ins Banat wagte. Zuvor arbeitete er jahrelang bei der GIZ und leitete das Büro des früheren Bundespräsidenten Horst Köhler. Zur Bürgermeisterwahl 2020 trat er in den Farben der Reformpartei USR (Uniunea Salvați România/Union rettet Rumänien) an, eroberte auf Anhieb 13 von 27 Sitzen im Stadtrat und löste den vormaligen Bürgermeister der liberal-konservativen PNL-Partei (Partidul Național Liberal/Nationalliberale Partei), der auch Staatspräsident Johannis angehört, mit knapp 55 Prozent der Stimmen ab.
Was folgte, war ein kleines politisches Erdbeben in Bukarest und empörte Gesichter in der PNL, die das fortan von der USR regierte Temeswar als Konkurrenz wahrnahm. Auch vielen rumänischen Nationalisten war es nicht recht, dass ein Ausländer zum Bürgermeister gewählt wurde. Für seinen zweiten Vornamen „Samuel“ musste Fritz sogar antisemitische Verschwörungstheorien über sich ergehen lassen.
Tatsächlich war es aber nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung, der seine Missgunst über Fritz' Herkunft äußerte. Gerade im vielsprachigen Temeswar, in dem katholische, reformierte und orthodoxe Kirchen und mehrere Synagogen Seite an Seite stehen, in dem Rumänisch, Ungarisch, Deutsch und Serbisch gesprochen wird, überwog die Freude, dass es ein Deutscher ins Rathaus geschafft hatte. Und nicht zuletzt muss sich Temeswar in diesem Jahr von seiner schönsten Seite zeigen: 2023 ist es nämlich nach einer Corona-bedingten Verschiebung von zwei Jahren europäische Kulturhauptstadt, gemeinsam mit Eleusis in Griechenland und dem ungarischen Veszprém.
Aufwendige Stadtsanierung
Die zwei Jahre Aufschub scheinen Temeswar und Fritz jedoch gebraucht zu haben: Die Innenstadt wurde aufwendig renoviert. Viele Stimmen kritisieren, dass es dem Programm an einem durchdachten Konzept mangele und dass Fritz in diesem Hinblick schlechte Personalentscheidungen getroffen habe. Der Vorwurf reicht bis hin zur Naivität des jungen Bürgermeisters, der sich zu wenig mit dem rumänischen System auskenne.
Hinzu kommt der lange Schatten des siebenbürgischen Hermannstadt/Sibiu, das 2007 Kulturhauptstadt Europas war, so erfolgreich, dass es gern als Vorbild für andere Kulturhauptstädte zitiert wird. 2007 war zudem kein anderer als Klaus Johannis der Bürgermeister von Hermannstadt, der seinen weiteren politischen Aufstieg zum Staatspräsidenten auch seinen Errungenschaften jenes Jahres zu verdanken hat. Und als bedeutete dies nicht schon genügend Erfolgsdruck für Temeswar, kommt dazu noch das historische Konkurrenzverhältnis zwischen den rumäniendeutschen Minderheiten – Hermannstadt, die Hochburg der Siebenbürger Sachsen, auf der einen und Temeswar, das Zentrum der Banater Schwaben, auf der anderen Seite.
Dort reagiert man scheinbar dennoch gelassen auf Kritik und Druck. Man habe nicht vor, alle Baustellen rechtzeitig zum Beginn der Feierlichkeiten zu beenden, da die Renovierungsarbeiten vielmehr Teil langfristiger Investitionen ins Stadtbild und keine gleichsam kurzfristigen Disneyland-Inszenierungen seien. Wer darüber hinaus auf einen Besuch von Lady Gaga oder Justin Bieber hofft, wird auch enttäuscht werden. Die Veranstalter erteilten Mega-Events eine Absage und gedenken stattdessen, durch eine multipolare Herangehensweise mit der kleinteiligen Vernetzung vieler weniger bekannter Kulturschaffender die lokalen Gemeinden und Viertel in Temeswar zu stärken. Fritz spricht von einem „Wandel von unten“, den das Kulturhauptstadtjahr bringen solle – fraglich ist nur, wie sehr sich dafür internationale Touristen begeistern lassen können. Am Geld für das Programm fehlt es zumindest nicht, verkündet der Bürgermeister selbstbewusst, schließlich gehe es der Stadt auch dank des massiven Zustroms ausländischer Firmen wirtschaftlich prächtig.
Europas Osten ist keine „zweite Garnitur“
Dominic Fritz' Herzensanliegen scheint jedoch zu sein, das multikulturelle Leben und Erbe in Temeswar im Rahmen des Kulturhauptstadtjahrs nach außen zu tragen, Temeswar als europäische Stadt zurück auf das internationale Parkett zu holen. „Westeuropa sieht sich selbst als Nabel Europas“, holt Fritz aus, dabei seien die EU-Mitglieder im Osten keinesfalls „zweite Garnitur“. „Hier wird Europa geatmet, lange bevor es die EU gab“, sagt er mit Blick auf das jahrhundertelange Zusammenleben verschiedenster Nationalitäten in der Stadt. Seine neue Heimat sei sogar europäischer als das Schwarzwälder Dorf, in dem er aufgewachsen ist, bekräftigt der Bürgermeister mit einem Lächeln. Was kein Wunder ist, bei einer Stadt, in der etwa 15 Prozent einer Minderheit angehören, wobei die Ungarn mit etwa 15.000 die größte Gruppe stellen, gefolgt von den Serben und den Banater Schwaben mit rund 4.000 Angehörigen. Dazu kommen etliche Bulgaren, Slowaken, Juden, Italiener und zahlreiche andere Minderheiten, die dort mitunter seit Jahrhunderten leben.
Stolz ist Fritz auch auf die Tradition der Freiheit in der Stadt, in der am 16. Dezember 1989 die rumänische Revolution ihren Anfang nahm. Auslöser der Revolution war die Strafversetzung des ungarischen Pfarrers László Tőkés, die zu spontanen Demonstrationen vor seiner Kirche führte. Zunächst waren es vor allem Ungarn, die dort ihren Unmut über das kommunistische Regime zum Ausdruck brachten, doch sehr schnell stimmten die Rumänen, Serben und anderen Bewohner der Stadt in die Sprechchöre ein. Am nächsten Tag rollten Panzer durch Temeswar, die Armee schoss mit scharfer Munition auf die Demonstranten, doch die Proteste ebbten kaum ab. Wenige Tage später weitete sich die Revolution auf das ganze Land aus und führte zum Sturz des brutalen Diktators Nicolae Ceaușescu.
Die Geschichte von Temeswar sei so eine Geschichte, die ganz Europa inspirieren und den Blick Westeuropas auf den Osten wenden könne, meint Fritz. Dass Temeswar 1884 die erste Stadt Europas mit elektrischer Straßenbeleuchtung wurde, wissen jenseits der Stadtgrenzen wohl ebenso wenige, wie dass am Nikolaus-Lenau-Gymnasium sich die Wege der Nobelpreisträger Herta Müller und Stefan Hell kreuzten, beide gebürtige Rumäniendeutsche, die noch in Zeiten des Kommunismus nach Deutschland emigrierten. Im Stadtzentrum finden sich Jugendstiltempel, die man ebenso in Wien, Prag oder Budapest antreffen könnte, und das Deutsche Staatstheater Temeswar, das sich das Gebäude mit seinem ungarischen Pendant und der rumänischen Oper teilt, kann es in Qualität getrost mit Theatern verschiedener deutscher Großstädte aufnehmen.
Mehr als ein Ein-Jahres-Projekt
Auch ohne Kulturhauptstadtjahr ist Temeswar daher eine große Überraschung im sonst rufgeschädigten Rumänien. Dank des Titels könnte nicht nur die Stadt, sondern das ganze Land neue Flügel verleiht bekommen. Einige munkeln jedoch, dass das Scheitern des Kulturhauptstadtprojekts dagegen in Bukarest sogar erwünscht wäre. Würde Dominik Fritz die Erwartungen der Temeswarer enttäuschen, könnte die PNL bei den Lokalwahlen 2024 den Schwarzwälder aus dem Amt jagen. Dieser scheint von einem möglichen Scheitern des Kulturhauptstadtvorhaben aber wenig wissen zu wollen: „Für mich ist Temeswar dieses Jahr, nächstes Jahr, die nächsten 50 Jahre Kulturhauptstadt“.
• Martin Böhm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutsch-Ungarisches Institut für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium.
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