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Europäische Union

Einheit, Gleichheit – Zwistigkeit

Immer wieder versucht die Europäische Union, in Grundsatzfragen ihren souveränen Mitgliedsstaaten Normen vorzugeben. Damit verstößt sie nicht nur gegen den Geist des Einigungsprojekts – sondern verschärft die Gräben in der Gemeinschaft

Eberhard Straub
12.12.2021

Die Europäische Union befindet sich in einer tiefen Sinnkrise. Neben der Frage, ob sich die Union zu einer Schuldenhaftungsgemeinschaft weiterentwickeln soll, und der Herausforderung der Massenmigration ist die EU zu einem Exerzierfeld jener „Wertegemeinschaftler“ geworden, die unter Stichworten wie „Anpassung“ oder „Harmonisierung“ eine möglichst weitgehende Normierung der Lebensverhältnisse anstreben. Brüsseler Funktionäre – und deutsche Politiker – verwechseln die EU dabei allzu gern mit Europa und setzen zudem diese Rechtsgemeinschaft souveräner und gleichberechtigter Staaten mit der „westlichen Wertegemeinschaft“ gleich, in der eine „Gleichheit der Lebensverhältnisse“ herrschen soll, die sich endlich in einer „europäischen Lebensweise“ vollendet.

Von Freiheiten zu Normen

Definierte sich die EU jahrzehntelang über die legendären „Vier Freiheiten“ – freier Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr – so betreiben ihre Protagonisten seit geraumer Zeit nicht nur die Vereinheitlichung ihrer Mitglieder, sondern auch deren Unterwerfung unter Brüsseler Vorgaben, gegebenenfalls sehr robust mit Sanktionen oder gar einem Regierungswechsel, sobald Widerspruch und Widerwillen laut werden. Staaten wie Polen und Ungarn werden wie EU-Protektorate behandelt, was sie weder sind noch sein wollen. Die Österreicher und zuletzt die Italiener werden nachdrücklich darauf hingewiesen, nicht im „europäischen Sinne“ gewählt zu haben, weshalb die EU angeblich eingreifen muss, damit ihr genehme Regierungen installiert werden können.

Souveräne Staaten in Europa werden nachdrücklich daran erinnert, sich einem Übersouverän unterordnen zu müssen, sobald sie den Verdacht „uneuropäischen“ Verhaltens bei straffen Wertegläubigen erregt haben, die – wie alle religiösen Eiferer – dauernd voller Misstrauen mit unzulänglicher Werteerziehung und Nachlässigkeit bei der Übung des wahren Glaubens rechnen.

Die Voraussetzung für eine erwünschte europäische Lebens- und Denkweise ist die vollständige Isonomie, die Rechtsgleichheit. Denn wer noch Rechte besitzt, sich ungleich, also frei verhalten zu dürfen, erweist sich als nicht systemkonform und gefährdet das „Projekt Europa“, das auf „Einheit“ und nicht auf Einigkeit beruht. Einheit, wenn nötig sehr robust hergestellt, nennt man heute Harmonisierung. Das Mittel dazu ist die Rechtsangleichung unter Berufung auf Werte, weil die EU über keine Verfassung verfügt, die sich ein europäisches Volk, ein europäischer Souverän, gegeben hätte.

Brüsseler Ansprüche

Doch die größte Gefahr für die Rechtsgemeinschaft ist die EU. Sie strebt entschlossen nach dem Einheitsstaat, der die Souveränität seiner Mitglieder und deren überlieferte Rechte einschränken oder gar aufheben will. Ein solches Streben bringt die Demokratie und den Rechtsstaat in Bedrängnis, die beide auf die Nation angewiesen sind, um in ihr die Staatsbürger in einen Verpflichtungszusammenhang zu bringen, der für jede konkrete Ordnung zwingend erforderlich ist.

Jeder Versuch in den Nationalstaaten, bestimmte öffentliche Angelegenheiten in ihrem eigenen übersichtlichen Raum besser verwalten zu können, wird in Brüssel argwöhnisch bis empört beobachtet, solche Absichten als unsolidarisch und uneuropäisch abwertend, stets unter dem Hinweis auf ganz unbestimmte Werte – mal „westliche“, mal „europäische“, vor allem aber „humanitäre“ – die als höhere Normen streng beachtet werden müssten.

Dabei tun sich vorzugsweise deutsche Politiker und Intellektuelle hervor, die gern die eifrigen Oberlehrer und Erzieher zu einem europäischen Bewusstsein geben. Sie beteuern mit wachsender Leidenschaft, die europäischen Nationen und die mit ihnen verbundenen Kulturen sowie nicht zuletzt deren Beharren auf Souveränität hätten sich als schädlich erwiesen und damit erledigt. Auf alle Herausforderungen des Zusammenlebens kennen die Verfechter einer „engeren Union“ – übrigens ohne nähere Erläuterung – als frohe Botschaft nur eine Antwort: Europa.

Verkümmerte Wurzeln

Europa muss man lieben. Das forderte einst Jean-Claude Juncker. Aus Liebe zu Europa soll man aber auch den Russen misstrauen, einem großen europäischen Volk, ohne das jeder Begriff von Europa unvollständig und unzulänglich ist. Die EU, die sich ununterbrochen als Friedensgemeinschaft feiert, die keine Feinde kennt, sieht in Russland einen unberechenbaren, irrationalen Nachbarn, der möglichst fern von Europa gehalten werden muss, um ihm erst dann aufmerksam zu begegnen, wenn er „europareif“ geworden ist, also verwestlicht und bereit, auf seine Souveränität zu verzichten.

Die Europäische Gemeinschaft entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Gemeinschaft von Nationalstaaten, die ihre besonderen gemeinsamen Interessen mit vereinten Kräften, „viribus unitis“, wahrnehmen wollten, wie die Devise eines übernationalen europäischen Reiches, Österreich-Ungarn, einst lautete. Wenn es jedoch keine selbstständigen Kräfte mehr geben darf und alle „Europäer“ sich dadurch auszeichnen, untereinander unverwechselbar zu sein und alles beflissen zu vergessen, was sie einst zu jeweils ganz besonderen Europäern gemacht hatte, dann kann es gar keine europäische Gemeinschaft in Vielfalt mehr geben, an die in festtäglichen Reden erinnert wird.

Selbst die Sowjetunion verhielt sich gegenüber ihren Mitgliedern biegsamer: die gleiche Ideologie in jeweils eigenwilliger, nationaler Form. Beim Zusammenbruch des Reiches überlebten die Nationen, und ausgerechnet die unnationalen und antinationalen „Europäer“ begeistern sich heute im antirussischen und westlich-ideologischen Eifer für recht wirre und deshalb besonders leidenschaftliche Nationalismen in den Räumen des ehemaligen Russischen Reiches. Doch kann einer ein überzeugender Europäer werden, der wie der deutsche Nationenverächter stolz auf sich hinweist, wie beispielhaft er sich von der eigenen Geschichte, einer lästigen und belästigenden Vergangenheit, „befreit“ habe und aufdringlich jedem anderen das Recht abstreitet, an Eigenwilligkeiten und Besonderheiten festzuhalten?

Gerade die Deutschen lebten über ein Jahrtausend in einem Reich verschiedenster Stämme, Völker und Staaten, in dem der Kaiser, aber auch die Fürsten und Stände stets dazu angehalten wurden, nicht die jeweiligen Freiheiten, Rechte und Lebensweisen zu verletzen oder gar miteinander in Übereinstimmung zu bringen. In Österreich-Ungarn lebten diese Traditionen fort. Es ist die letzte überzeugende Ordnungsmacht in Europa gewesen. Es war Concordia, Eintracht in den großen Angelegenheiten, die Einigkeit bewirkte. Im „Lied der Deutschen“ wird aufgezählt, was einen Staatenbund beisammenhält: „Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand.“

Lehren der alten Reiche

Auch das Deutsche Reich als Nationalstaat schob nach 1871 die Einzelstaaten nicht beiseite. Alle Fürsten zusammen hatten mit dem Präsidium des Bundes, dem preußischen König, Anteil an der deutschen Souveränität. Die einzelnen Bundestaaten wetteiferten untereinander, sich wechselseitig in Kunst und Wissenschaften oder Städtebau zu übertreffen. Goethes Devise: „Alles eine ist ein vieles“ bestätigte die bunte Vielfalt sich allseits regenden Lebens, das Europäer von überall her anzog. Deutschland war mitten in Europa damals viel europäischer als heute. Die gebildeten Deutschen beherrschten mehrere Sprachen, reisten viel, um ihre Nachbarn kennenzulernen sowie deren Kunst und Lebenskunst; beglückt, sich andere Welten aneignen zu können, die ihnen eine historisch vertiefte Vorstellung vom gemeinsamen Europa gaben.

Diese „Welt von Gestern“ ist längst untergangen. Wie hilflos reagieren die EU-Technokraten auf den Islam als Religion und auf Muslime als Bürger mit Glaubensvorstellungen, die ihnen vollkommen suspekt sind, weil sie sich nicht mit „der Aufklärung“ und den „europäischen Werten“ vertragen. Unermüdlich wird an einem „Euro-Islam“ gebastelt, um Einfluss auf Moscheen und die religiöse Unterweisung in den Predigten zu gewinnen. Völlig geschichtsvergessen, haben die Deutschen gar keine Erinnerung mehr daran, dass der „Kanzelparagraph“, am 12. Dezember 1871 als Gesetz erlassen, um die Katholiken kontrollieren und dem Einfluss eines ausländischen Souveräns entziehen zu können (siehe Seite 10), selbst laue Gläubige damals wieder in die Kirchen führte. Im Ergebnis kam es nicht zur erstrebten katholischen Variante des liberalen Kulturprotestantismus, sondern zu einem erstaunlichen Aufschwung nun wirklich katholischer Kunst und Wissenschaftlichkeit, der bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts andauerte.

Johann Wolfgang von Goethe, wahrlich kein Feind der Aufklärung, zeigte mit seinem „West-östlichen Divan“, wie man sich frei und dankbar in fremde Welten zu versetzen vermag, um sich diese vertraut zu machen und aus dieser Bemühung höchsten Gewinn für sich und seine „guten Deutschen“ zu ziehen. Unter uns leben mittlerweile Millionen von Muslimen, es werden Integrations- und Assimilationspläne entworfen, die danach streben, in eine Religion hinein, die von der Glaubensfreiheit rechtlich geschützt ist, mal dreist, mal ungeschickt zu intervenieren in der Hoffnung, dass den Gläubigen allmählich ihr Glauben abhandenkommt wie den Christen und dieser im allgemeinen Säkularismus verschwindet.

Die Rechte der europäischen Nationen

Auch die Nationen sollen sich integrieren in ein Projekt Europa, das Einförmigkeit erzwingen will, obwohl in den Verträgen auf die Völker in Europa und die Vielfalt aufgrund unserer Geschichte und Kultur verwiesen wird. Ein anderer, unduldsamer Kulturkampf gilt jenen, die an der souveränen Nation und an ihrer Lebenart, also an ihrer Identität, unbedingt festhalten wollen. Diese sogenannten Populisten werden wie in der Französischen Revolution als Verschwörer, Dunkelmänner und Feinde der Demokratie diffamiert und disqualifiziert. Wer sich nicht in die Maßnahmen des Brüsseler „Wohlfahrtsausschusses“ unserer Tage fügt, „destabilisiert Europa“, wie es heißt. Aus der freien öffentlichen Rede ist eine tugendhafte Verkündigung geworden, wie unter Robespierre, dem wehrhaften Gleichschalter. Es waren Jahre des Schreckens, bis das radikaldemokratische Werte- und Terrorsystem des revolutionären Frankreichs scheiterte und Napoléon es durch einen Rechtsstaat ersetzte.

In der EU sind es gerade die „Souveränisten“ in Frankreich, Spanien und Italien, in Ungarn, Tschechien und Polen, die an die Rechte der europäischen Nationen erinnern und den Schutz, den die Nationalstaaten gewähren, gerade gegenüber jenen Wertsetzern, denen eine durch Bürgerrechte begrenzte Regierung als ineffizient missfällt, die deshalb möglichst in vage umschriebener „Governance“, der Lenkung und dem planmäßigen Management der Experten aufgehen soll.

Das vereinte Europa wurde als Rechtsgemeinschaft souveräner Staaten begründet. Das will und soll es bleiben. Denn das Recht schützt vor fremden Übergriffen – aus anderen Ländern ebenso wie aus Brüssel.

• Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehören unter anderem „Zur Tyrannei der Werte“ (2010) und „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (2014, beide Klett-Cotta).
www.eberhard-straub.de


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Kommentare

sitra achra am 17.12.21, 19:37 Uhr

Wenn man diesen perversen Jakobinismus dieser im Grunde genommen uneuropäischen selbsternannten Pseudoelite vernimmt, wird man automatisch zum Kommunitaristen. Auf derartig versiffte Strukturen im nationalen und supranationalen Gewand hat man absolut keinen Bock mehr!
Ihr Schlusswort, Herr Straub, in Gottes Ohr!

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