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Reanimation des „ersten Klassikers“ – Jan Philipp Reemtsma zieht mit seiner Wieland-Biographie die Summe seines Forscherlebens
Vom klassischen Weimarer Viergestirn haben Goethe und Schiller eine weltweite Ausstrahlung. Von den anderen beiden, dem gebürtigen Ostpreußen Herder und dem aus einem Dorf bei Biberach an der Riß stammenden Wieland, sind uns heutigen Zeitgenossen allenfalls die Namen geläufig. Ihre Werke aber nicht.
Einer, der zumindest im Fall von Wieland noch retten will, was zu retten ist, ist Jan Philipp Reemtsma. Seit Jahrzehnten bemüht sich der Literaturwissenschaftler, Mäzen und Institutsgründer, Wieland aus dem Sumpf des Vergessens zu ziehen. Mit der neuen Biographie „Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur“ macht er Werbung für den Autor, indem er ihn als großen schriftstellerischen Innovator und einen der Gründerväter neuzeitlicher Erzählkunst verkauft.
Reemtsmas Engagement für Wieland ist die Frucht einer fast schon obsessiven Beschäftigung mit dem Klassiker. Schon vor 30 Jahren schrieb er seine Doktorarbeit an der Universität Hamburg über Wielands „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“. Der noch dem sentimentalen Geschmack entsprechende Briefroman, der unter Wielands Werken keineswegs den ersten Platz einnimmt, nimmt in der Biographie gleichwohl den meisten Platz ein, noch vor Hauptwerken wie die „Geschichte des Agathon“ oder „Die Geschichte der Abderiten“, die eigentlich für die Neuerung des Romangenres stehen.
Abgesehen von dieser Marotte für den „Aristipp“ hat sich Reemtsma um Wieland enorm verdient gemacht. Der Spross der Hamburger Zigarettendynastie, der sich sein Millionenerbe auszahlen ließ und der 1996 Opfer eines spektakulären Entführungsfalls wurde, über den er sein Buch „Im Keller“ geschrieben hat, investiert sein Vermögen in seine Leidenschaft: Literatur und Soziologie. Das von ihm gegründete Hamburger Institut für Sozialforschung wurde in den 199oern mit den umstrittenen Wehrmachtsausstellungen schlagartig bekannt.
Weniger bekannt ist seine andere Institutsgründung: die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Diese hat bereits 1984 einen Reprint der noch von Wieland selbst besorgten „Sämmtlichen Werke“ in 15 Bänden herausgebracht. Reemtsma gab später weitere Werke in Einzelbänden heraus und ist außerdem an der historisch-kritischen Oßmannstedter Ausgabe der Werke Wielands beteiligt, die seit 2008 inklusive günstigerer Studienausgaben erscheint.
Stichwort Oßmannstedt: In dem kleinen Ort östlich von Weimar besaß Wieland ein nach ihm benanntes Gut, das zu DDR-Zeiten verfiel und erst durch Reemtsmas stets diskrete finanzielle Unterstützung in ein schmuckes Kleinod samt Museum und Forschungsstätte umgewandelt wurde.
Wenn also einer prädestiniert ist, über Wielands Leben und Werk zu schreiben, dann ist es sicher Reemtsma. Die Summe eines Forscherlebens steckt in seiner Wieland-Biographie, was aber nicht immer von Vorteil ist. Bei der Lektüre stellt sich oft der Eindruck ein, dass sich der Autor in Einzelheiten und Inhaltsangaben einzelner Werke verzettelt. Um die Schönheit der Wielandschen Sprache zu dokumentieren, zitiert er oft seitenweise aus dessen Werken, was gut ein Viertel der 700-seitigen Biographie ausmacht.
Statt sich auf die aktuelle Wieland-Forschung zu beziehen, führt Reemtsma als Gewährsmann für seine These von Wieland als modernem Literaten immer wieder seinen zweiten literarischen Säulenheiligen ins Feld: Arno Schmidt. Auch das Werk dieses Hamburger Nachkriegsautors hat Reemtsma noch zu dessen Lebzeiten gefördert. Die „Arno Schmidt Stiftung“ im niedersächsischen Heideort Bargfeld ist maßgeblich sein Werk. Im Personenregister der Wieland-Biographie finden sich dann auch gleich viele Einträge zu Schmidt wie etwa zu Schiller, Wielands Zeitgenossen und Nachbarn in Weimar. Man kann es mit dem Blick durch die Schmidt-Brille auch übertreiben.
Trotzdem gebührt dem 70-jährigen Biographen Respekt für diese Reanimation des „ersten Klassikers“, der noch vor Herder, Goethe und Schiller nach Weimar kam und dessen Werke als erste wieder in der Versenkung verschwunden sind. Reemtsma bringt eine einleuchtende, wenngleich nicht ganz neue Erklärung: Anders als Lessing, dem laut Reemtsma neben Wieland zweiten „Erfinder“ der modernen deutschen Literatur, Goethe und Schiller war Wieland weder Poet noch Dramatiker. Diese beiden Literaturformen waren beim Publikum des
18. Jahrhunderts die angesehensten. Reemtsma schreibt: „Er war kein Bühnenautor, und er war auch kein Lyriker, ging also schon deswegen dem Bildungsbürgertum verloren. Er war nicht auf der Premierenbühne und nicht im Lesebuch.“
Als Romanautor, Herausgeber der Zeitung „Der Teutsche Merkur“ sowie Übersetzer von Shakespeares Werken – mittels eines englisch-französischen Wörterbuchs, wie man bei Reemtsma lernt – und Ciceros „Sämtlichen Briefen“ bezeichnete sich Wieland damals schon als „Macher“. Er benutzte den heute modernen Begriff, da er sich als einen der ersten Prosaautoren sah, selbst den Shakespeareschen Blankvers übertrug er in Prosa.
Dass er damit Meilensteine wie die „Geschichte des Agathon“ geschaffen hat, dem noch vor Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ frühesten „Bildungsroman“, arbeitet Reemtsma sorgfältig heraus, versäumt aber zu betonen, dass gerade das klassische Bildungswissen den Romanen im Wege steht. Die antik-mythologische Kulisse, in denen Wielands Werke spielen, ist uns heutigen Lesern fremd geworden.
Reemtsmas Appell, mit seiner Biographie Wielands Werk „wieder lesen zu lernen, und damit den Sinn für die Wahrnehmung spezifischer Schönheiten zu gewinnen“, klingt so, als führe hier einer einen einsamen Kampf gegen Windmühlen und um Wielands literarische Auferstehung.
Jan Philipp Reemtsma: „Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur“, Verlag C. H. Beck, München 2023, gebunden, 704 Seiten, 38 Euro
Chris Benthe am 24.05.23, 14:58 Uhr
Reemtsma kann seine neuste Veröffentlichung ja verschenken, wenn es ihm darum geht, „wieder lesen zu lernen, und damit den Sinn für die Wahrnehmung spezifischer Schönheiten zu gewinnen“ - statt sein Buch 38 Euro kosten zu lassen. Er ist ja auch sonst sehr engagiert und nicht kleinlich, wenn es um "woke" Angelegenheiten geht. Ich verstehe dieses linke "Bildungsbürgertum" nicht, das einerseits an der Zerstörung jeglicher Traditionen und Identifikationen mitwirkt und dann wieder im Stuckzierrat vergangener Epochen schwelgt. Es ist die gleiche ignorante Mentalität wie bei den begüterten Staatsdienern, die in Stuckvillen hausen und in ihrer grenzenlosen Naivität nicht wissen, wofür das alles wirklich steht.