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Kurz entschlossen und ohne auf Widerstand zu stoßen, ernannte sich Miguel Primo de Rivera vor 100 Jahren in Barcelona zum Diktator. Der Pragmatiker setzte im ideologisch zerrissenen Spanien auf eine ideologiefreie Sachpolitik
Schon vor dem Ersten Weltkrieg schwand allmählich in Spanien das ohnehin nie besonders große Vertrauen in die Politiker. Während des Ersten Weltkriegs wurde trotz der spanischen Neutralität aus der Politikerverdrossenheit eine umfassende Systemkrise. Die ideologischen Rechtfertigungen der westlichen Alliierten und der Mittelmächte lösten einen immer heftiger werdenden Kulturkampf aus, an dem sich sofort die Spanier leidenschaftlich beteiligten. Sie verschärften voller polemischem Eifer ihre inneren Gegensätze und verloren dabei ihre längst verkümmerte Bereitschaft, sich untereinander zu verständigen.
Das Einzige, was sie noch verband, war die Übereinstimmung: So kann es nicht weiter gehen. Das meinte auch General Miguel Primo de Rivera y Orbaneja, Marqués de Estella. Vor 100 Jahren, am 13. September 1923, ernannte er sich kurz entschlossen in Barcelona, ohne auf Widerstand zu stoßen, zum Diktator. Die Regierung machte keine Anstalten, sich gegen diese spontane Machtergreifung zu wehren, und König Alfons XIII., von den Politikern und Parteien allein gelassen, unterwarf sich der normativen Kraft des Faktischen und billigte die Diktatur, die in der spanischen Verfassung gar nicht vorgesehen war.
Verbreitete Politikerverdrossenheit
Er hatte im Mai 1921 in einer Rede in Córdoba deutlich zu erkennen gegeben, darüber enttäuscht zu sein, dass Regierungen und Parlamentarier, beschäftigt mit ihren kleinlichen Interessen und Intrigen, nichts voranbrächten, was allen, also dem Allgemeinwohl, nützen könne. Der König wagte sich weit vor, drückte aber nur eine allgemeine Stimmung aus. Eine breite Mehrheit war längst davon überzeugt, dass die Politiker in einer ganz eigenen Welt lebten und jede Beziehung zum „authentischen Spanien“, zur Wirklichkeit, verloren hätten. Primo de Rivera fand deshalb – abgesehen von den in ihre Spielchen verwickelten Parteipolitikern – hoffnungsvolle Zustimmung, weil er sein ungeduldiges Eingreifen in das öffentliche Leben damit rechtfertigte, Spanien endlich von der krankmachenden, nur Unheil stiftenden Politik und deren eigennützigen Nutznießern, den Politikern, zu befreien. Er verfügte über kein Programm. Seine Devise war: Erst leben, dann philosophieren. Die Politiker und deren Orientierungshelfer in der Presse und an den Universitäten würden nur Theorien ersinnen und mit Hypothesen gegen Hypothesen kämpfen ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit und die konkreten Sorgen und Erwartungen der Spanier.
Umstrittene Monarchie und Kirche
Der Soldat und Aristokrat war ein Mann der Mitte und des Mittelmaßes. In Monarchie, Vaterland und Religion erkannte er die drei großen, Herzen und Willen bewegenden Kräfte, die Ordnung und Sicherheit ermöglichten. Nichts war allerdings Spaniern so fragwürdig geworden wie diese Dreieinigkeit. Die Legitimität der Monarchie bestritten die Karlisten, die sich nicht mit der Änderung der Erbfolge abfinden wollten, die Ferdinand VII. 1830 festlegte zugunsten seiner Tochter Isabella. Er enterbte damit den rechtmäßigen Thronfolger, seinen Bruder Carlos. Deswegen gab es mehrere Bürgerkriege, in denen sich bestätigte, dass das Königtum keine selbstständige, wegen einer langen Geschichte der Diskussion entrückte Macht ist, sondern auf Übereinkünften beruht, die je nach den Umständen modifiziert werden können. Die Krone hatte ihr Ansehen und ihre Autorität eingebüßt.
Umstrittene nationale Identität
Aber auch über das Vaterland und die Nation wurde erbittert unter Spaniern gestritten. Sie waren sich völlig uneins über ihre Geschichte, die vor allem Liberale und anschließend Republikaner, Sozialisten und Anarchisten als einen jahrhundertelangen Sonderweg verurteilten, der Spanien von Europa und dem Westen entfernt habe. Die Schuld an dieser fatalen Entwicklung gaben sie dem Hause Österreich, das seit der Herrschaft Karls V. als spanischer König mit deutschem Bürokratismus, Absolutismus und Militarismus sämtliche Freiheitsrechte erstickt habe. Alle Spanier beschäftigten sich gereizt mit Vergangenheitsbewältigung und verbanden ihre jeweiligen politischen Ideen mit Geschichtspolitik, die nahezu das gesamte historische Erbe fragwürdig machte. Darüber geriet auch die Religion ins Zwielicht, weil sich die Kirche angeblich von den habsburgischen Königen für rein politische Zwecke missbrauchen ließ und die ursprünglich großherzigen Spanier fanatisiert habe. Deshalb sei jede geistige Freiheit verloren gegangen und jede Regung wissenschaftlicher Unabhängigkeit schon im Keim unterdrückt worden.
Sehnsucht nach dem Erneuerer
Kurzum, die Spanier konnten sich nicht zu einer normalen, europäischen Nation bilden. Während dieser heftigen Auseinandersetzungen geriet ein europäisches Phänomen, nämlich der Staat, aus dem Blickfeld. Man stritt über Volk und Vaterland, über Monarchie, Republik, Kirche, über mögliche Willensgemeinschaften, aber misstraute dem Staat und staatlichen Institutionen. Viele Systemkritiker erwarteten unruhig den energischen Mann, der mit chirurgischen Eingriffen Spanien von sämtlichen Gebrechen heile und es in Stand setze, sich zu erneuern und zu verjüngen. Regeneration war die Formel, die alle gebrauchten, wobei jede Gruppe etwas ganz anderes darunter verstand. Primo de Rivera wurde von vielen als dieser ersehnte Retter und Arzt begrüßt, gerade weil er nicht mit Konzepten und Programmen für ein neues Spanien warb. Das Bürgertum hatte einst der enttäuschte Liberale Donoso Cortes als „diskutierende Klasse“ charakterisiert, die alles in Gespräch auflöst und nichts entscheidet.
Primo de Rivera fand, dass der Worte und Spekulationen seit Jahrzehnten genug gewechselt worden seien und gehandelt werden müsse, um die Grundlagen für ein lebendiges Spanien zu legen, das zu neuer Regsamkeit aufgeweckt und erzogen werden müsse. Ausgerechnet dieser Praktiker leitete eine alle Schulen und Bildungsanstalten erfassende und sehr erfolgreiche Bildungspolitik ein. Er suchte einen dritten Weg zwischen dem westlich-kapitalistischen und dem sozialistischen oder kommunistischen Materialismus. Er richtete Korporationen ein, in denen Arbeiter und Unternehmer gleichberechtigt kooperieren sollten. Berufsgenossenschaften galten ihm und seinen Ratgebern als das probate Mittel, den entfesselten Egoismus einzuhegen und durch einen Gemeinschaftsgeist zu überwinden, der auch im öffentlichen Leben dazu verhelfen könne, darüber Einigkeit zu erzielen, was im Sinne des Gemeinwohls unternommen werden müsse. Der Herkunft nach ein Liberaler, scheute er dennoch nicht vor einer Interventionspolitik auf allen Gebieten zurück, dem Staat mehr vertrauend als dem freien Spiel der Kräfte. Den liberalen Parlamentarismus wollte er überwinden, indem nicht Parteigenossen regierten, sondern Praktiker, Vertreter der Berufsgenossenschaften und Stände, mit der Regierung zusammenarbeiteten, um das voranzubringen, was in altspanischem Sinne „alle angeht“.
Versuch eines dritten Wegs
Er regierte ab 1925 mit Experten. Die sachliche Politik von Fachmännern begriff er als Mittel, die Unsachlichkeit der Politik zu beenden. Spanische Offiziere dachten in der Regel nicht so sehr an die mit vielen Gemütswerten erfüllten großen Ordnungsvorstellungen wie Volk und Vaterland, sondern verstanden sich als Staatsorgan, berechtigt, immer zu intervenieren, sobald der Staat aus dem Gleichgewicht geriet. Insgesamt erreichte er viel. Vor allem gelang es ihm, mit seiner Wirtschafts- und Wohlfahrtspolitik im Mittelstand eine neue selbstbewusste Kraft für sich zu gewinnen, die sich den alten Eliten und alten Parteien entzog und sich in der 1925 von ihm eingerichteten Patriotischen Union um ihn und seine Fachleute scharte. Die Vertreter des alten Systems verwarfen die Diktatur und den Diktator, nicht zuletzt seit er versuchte, die Verfassung und den Parlamentarismus umzugestalten. Sie opponierten vorsichtig, abgekapselt in einer inneren Emigration. Gefährlich wurde in einem ideologisch hoch gerüsteten Land die Armut an Ideen, auf die Primo de Rivera so stolz war. Es war eine diffuse öffentliche Meinung, die während der Debatten um eine Verfassungsreform ihren Unmut immer lauter bekundete. Zum ersten Mal in der europäischen Geschichte spielten dabei Unruhen der Studenten eine wichtige Rolle.
Experten statt Ideologen
1930 resignierte Primo de Rivera. Der Staat, den er vorübergehend stabilisiert hatte, geriet in völlige Auflösung, zerrieben zwischen Rechts und Links, die sich jetzt als große Blöcke zusammenschlossen, unter sich gar nicht einig, doch bereit, die anderen unspanischer Umtriebe zu verdächtigen. Primo de Rivera hatte vom Staat gesprochen, aber willkürlich regiert und damit verhindert, dass sich ein Staatsbewusstsein bildete. Für die Republikaner war die Republik – seit dem Frühjahr 1931 unter wirren Umständen eingerichtet – kein Ziel, sondern ein Mittel, zur wahren, also zur revolutionären Republik oder zum Sozialismus zu gelangen. In der kämpferischen Republik war für Vernunftrepublikaner kein Platz mehr. Sie wurden zu Opportunisten erklärt. Vor ihnen müsse sie sich schützen. Der Kampf gegen rechts wurde zur demokratischen Pflicht erhoben, was auch meinte, eine rechte Mehrheit daran zu hindern, die Regierung zu übernehmen. Die Republikaner hatten darauf verzichtet, einen Republikanismus zu bilden, der im republikanischen Staat einen freien Kampfplatz für verschiedene Meinungen und Richtungen anerkannte.
Resignation im Todesjahr
Sie starrten auf Moskau und Rom, bald auch auf Berlin, und verquickten den Auflösungsprozess jeder staatlichen Ordnung mit dem antifaschistischen Einsatz, der den Triumpf des Faschismus unterbinden müsse. Die Republikaner sahen in den Rechten und Monarchisten Faschisten, die ihrerseits der Republik vorwarfen, eine faschistische Veranstaltung zu sein. Unaufhaltsam taumelten die Spanier ab 1934 dem Bürgerkrieg entgegen. Wenn alles eine Frage des Faschismus sein sollte, dann müsse die Regierung bekennen, sich im Kriegszustand mit dem Faschismus zu befinden, wenn sie entdecke, dass Kräfte am Werk seien, Errungenschaften der „demokratischen Republik“ wieder aufzuheben. Das verkündete der Ministerpräsident Casares Quiroga am 16. Mai 1936. Acht Wochen später brach der Bürgerkrieg aus, stilisiert zum großen Gefecht der Faschisten und Antifaschisten, in dem es nicht so sehr um Spanien gehe, sondern um die freie Welt und deren höchste Güter. Die Opfer waren Spanier, die jede gemeinsame Vorstellung von Volk, Vaterland und Nation verloren hatten.