12.12.2024

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„Es gibt nur einen Weg für das Überleben der Ukraine“

Über die aktuelle Lage an den Fronten des Ukrainekriegs und die schwierige Erkenntnis, dass an einer politischen Lösung des Konfliktes kein Weg vorbeiführt

Im Gespräch mit General a.D. Harald Kujat
02.05.2024

In den vergangenen Wochen neigte sich das Geschehen im Ukrainekrieg deutlich zugunsten Russlands. Zwar gab es keinen Durchbruch an der Front, doch konnten die russischen Streitkräfte immer wieder einzelne kleinere Orte erobern. Was bedeutet diese Lage für den weiteren Verlauf des Krieges? Fragen an einen Experten, der diese Entwicklung seit geraumer Zeit kommen sah.

Herr Kujat, die Russen sind im Donbass kontinuierlich auf dem Vormarsch. Manche Kommentatoren sehen in den punktuellen Vorstößen Anzeichen für eine bevorstehende russische Großoffensive. Sie auch?
Lassen Sie mich zunächst mit einer Bemerkung zur grundsätzlichen Lage des Krieges beginnen. Nach der gescheiterten Offensive der ukrainischen Streitkräfte im letzten Jahr ist deren Lage sehr kritisch geworden. Die Ukrainer haben praktisch die Fähigkeit zu offensiven Operationen verloren und versuchen nun, in der strategischen Defensive ihre hohen personellen Verluste zu reduzieren und das Territorium, das noch unter ihrer Kontrolle ist, zu halten.

Die Russen wiederum haben im Grunde schon im vergangenen Oktober begonnen, entlang der über tausend Kilometer langen Front, die durch die Verluste der Ukraine zum Teil stark ausgedünnt ist, vereinzelt Vorstöße zu unternehmen. Sie haben also bewusst keine große Offensive gestartet und damit auch ihre eigenen Verluste niedrig gehalten.

Ich sehe bis jetzt auch keine Anzeichen für eine solche Offensive. Zum einen brauchen die Russen für das Erreichen ihrer Ziele – nämlich die vollständige Eroberung und Konsolidierung der am 30. September 2022 annektierten ukrainischen Verwaltungsgebiete – keine Großoffensive, weil sie diese auch mit kleinen Vorstößen erreichen können. Selbst wenn sie darüber hinaus noch Charkiw oder Odessa einnehmen wollten, würde dieses Vorgehen ausreichen. Hinzu kommt, dass die Russen zur Vorbereitung einer Großoffensive erhebliche Streitkräfte in Bereitstellungsräumen zusammenziehen und dafür auch zusätzliche Truppen heranführen müssten. Derartige Bemühungen wären – wie im Herbst 2021 – für die Vereinigten Staaten ohne Weiteres erkennbar, und sie würden diese sehr wahrscheinlich auch öffentlich machen.

Nicht ganz auszuschließen ist allerdings, dass die russischen Streitkräfte im zeitlichen Zusammenhang mit dem NATO-Gipfel Anfang Juni einen demonstrativen Vorstoß unternehmen werden.

Gleichwohl ist die Lage der Ukrainer prekär. Nun hat der US-Kongress nach monatelangen Debatten ein neues Finanzpaket in Höhe von 61 Milliarden Dollar freigegeben. Welchen Einfluss wird das auf den Verlauf des Krieges haben?
Die Ukrainer haben drei grundsätzliche Probleme, die sie selbst auch klar benennen. Das erste ist der Mangel an Munition. Im Ukrainekrieg wird vor allem sehr viel Artilleriemunition verbraucht, das ist vergleichbar mit dem Ersten Weltkrieg. Das zweite Problem ist der Mangel an Luftverteidigungssystemen. Die Ukrainer sind lediglich in der Lage, die Hauptstadt Kiew einigermaßen gegen Angriffe mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen zu verteidigen, andere Zentren wie Charkiw jedoch nicht. Das dritte Problem ist der Mangel an ausgebildeten Soldaten, der einerseits in den hohen Verlusten auf dem Schlachtfeld begründet liegt und andererseits darin, dass viele Männer im wehrfähigen Alter das Land verlassen haben.

Obwohl nur ein kleiner Teil der 61 Milliarden Dollar direkt für Munition und Waffensysteme eingesetzt wird, ist der Nutzen des US-Pakets in der Defensive zweifellos groß, falls das Material rechtzeitig eintrifft. Wie lange dieser Nutzen anhält, hängt jedoch von der Intensität der künftigen Kampfhandlungen ab. Allerdings können die 61 Milliarden den Ukrainern nicht die Verluste an kampffähigen Männern ausgleichen. Diese – und nicht die Waffen – sind in einem Krieg jedoch die entscheidende Ressource. Deshalb wird sich die strategische Lage der Ukraine nicht wesentlich verbessern.

Vor wenigen Tagen gab es einen Angriff des Iran auf Israel mit über 300 Drohnen und Marschflugkörpern, der aufgrund des israelischen „Iron Dome“ praktisch ins Leere ging. Daraufhin erklärte der ukrainische Präsident Selenskyj, dass auch sein Land ein solches Verteidigungssystem bräuchte.
Richtig. Hier muss allerdings mit Blick auf den Ukrainekrieg gesagt werden, dass die jüngsten russischen Angriffe auf ukrainische Elektrizitätswerke, Leitungen und so weiter eine Reaktion auf einen vorherigen Strategiewechsel der Ukrainer sind. Seit dem Scheitern ihrer Landoffensive im vergangenen Jahr sind die ukrainischen Streitkräfte dazu übergegangen, vor allem mit Drohnen Ziele in Russland anzugreifen. Damit wollen die Ukrainer den Russen zeigen, dass auch sie verwundbar sind, zum anderen wollen sie den westlichen Unterstützern demonstrieren, dass sie nach wie vor zu militärischen Handlungen fähig sind – was die Voraussetzung dafür ist, dass der Westen weiterhin bereit ist, die Ukraine zu unterstützen. Bei ihren Attacken haben die Ukrainer vor allem russische Raffinerien angegriffen, was dazu führte, dass die Versorgung mit Benzin spürbar Einbußen erlitt. Insofern sind die jüngsten russischen Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung eine Antwort auf die ukrainischen Attacken zuvor.

Richtig ist jedoch: Wenn die Ukrainer in der Lage wären, diese Angriffe abzuwehren, sodass diese wie in Israel ins Leere laufen würden, hätten sie einen enormen strategischen Vorteil. Allerdings haben die Israelis für den Aufbau ihres „Iron Domes“ und insbesondere des Arrow 3-Systems Jahre gebraucht, und für ein Land von der Größe der Ukraine wäre der Aufwand noch einmal ungleich höher. Deshalb sind die Ukrainer auf schnelle Hilfe durch vorhandene westliche Systeme angewiesen, weshalb Deutschland ja auch ein weiteres Patriot-System zur Verfügung stellt. Deutschland hat sich auch bemüht, Partner zur Lieferung von Luftverteidigungssystemen zu bewegen, doch war dies bislang erfolglos.

Wie viele Patriot-Systeme bräuchte die Ukraine denn für eine effektive Verteidigung?
Man unterscheidet hier die Objektverteidigung, beispielsweise von Städten oder strategisch wichtigen Objekten von der Raumverteidigung, in der Regel des Territoriums eines Landes oder mehrerer Länder.

Bei der enormen Größe der Ukraine und den extrem langen Grenzen mit Russland und Weißrussland ist die zweite Variante in diesem Fall kurzfristig nicht zu leisten. Also kann die Ukraine nur die Hauptstadt schützen und vielleicht noch einige Metropolen wie Charkiw und Odessa sowie möglicherweise auch noch ein paar strategisch wichtige Objekte im Raum Lemberg, wo das westliche Material angeliefert und an die ukrainischen Truppen verteilt wird. Die Ukrainer haben erklärt, dass sie sieben weitere Batterien bräuchten, das sind jeweils zwei Feuereinheiten, um einen Minimalschutz zu erreichen. Aber wie gesagt, haben bis jetzt nur die Deutschen eine Batterie zugesagt.

Vor einigen Tagen ist der Bundeskanzler nach China gereist. Es gab vorab Spekulationen darüber, dass Scholz dabei auch versuchen könnte, China zu bewegen, auf Russland einzuwirken. Noch vor Kurzem wurde jeder Gedanke an eine politische Lösung wie ein Verrat am Verteidigungskampf der Ukrainer gewertet. Zeigen die Scholz-Reise und ihre Begleitumstände, dass sich bei uns allmählich die Erkenntnis durchsetzt, dass an einer politischen Lösung kein Weg vorbeiführt?
Ich hatte mit den Professoren Peter Brandt und Hajo Funke sowie dem Diplomaten Michael von der Schulenburg zum China-Besuch des Kanzlers eine Erklärung veröffentlicht, die in der „Weltwoche“ erschienen ist. Darin haben wir die Reise als „ein erfreuliches Zeichen der Dialogbereitschaft“ gewürdigt und noch einmal betont, dass, wenn man wirklich etwas für die Ukraine tun wolle, es dringend zu ernsthaften Verhandlungen kommen müsse.

Es ist auch nicht richtig, wie immer wieder behauptet wird, dass die Russen gar nicht verhandeln wollten, denn sie haben ja bereits zu Beginn des Krieges mit den Ukrainern verhandelt. Allerdings hat sich seitdem die Lage verändert. Zum einen haben beide Seiten hohe Hürden für die Aufnahme von Gesprächen aufgebaut, zum anderen hat der Krieg inzwischen eine Entwicklung sehr zugunsten der Russen genommen, was natürlich deren Bereitschaft zu Verhandlungen nicht unbedingt fördert. Und so schließt sich mit jedem Tag, an dem die militärische Lage für die Russen positiver wird, das Fenster für Verhandlungen ein bisschen weiter – bis zu dem Punkt, an dem es zu einer totalen militärischen Niederlage der Ukraine kommen könnte, wodurch die Russen dann als Sieger die politischen Folgen diktieren könnten.

Das war auch der Beweggrund für unsere Erklärung. Wir hatten gehofft, dass der Bundeskanzler den chinesischen Vorstoß von vor einem Jahr aufnimmt und Peking in dieser Initiative unterstützt. Zumal kurz vor dem Kanzler-Besuch die Chinesen einen Diplomaten nach Moskau, Kiew, Berlin und in andere Hauptstädte geschickt hatten, um zu prüfen, wie groß die Bereitschaft ist, diese Initiative zu unterstützen. Dieser Diplomat erklärte hinterher, er sei von dem Ergebnis seiner Gespräche nicht enttäuscht, was in der Diplomatensprache bedeutet, dass es nicht schlecht gelaufen ist.

Ich halte den chinesischen Ansatz derzeit für den einzig realistischen Weg, und zwar deshalb, weil die Chinesen die „Wiederaufnahme der Friedensgespräche“ vorschlagen – das ist der vierte Punkt in ihrem insgesamt ausgewogenen, rationalen Zwölf-Punkte-Papier –, was bedeutet, dass die Verhandlungen dort wieder aufgenommen werden sollten, wo sie im Frühjahr 2022 in Istanbul abgebrochen wurden und die damals erreichten Fortschritte nicht verloren wären. Das hätte außerdem zur Folge, dass die von den Russen und Ukrainern aufgebauten Hürden zunächst einmal beiseitegeräumt wären. Dass die Punkte später in den eigentlichen Verhandlungen wieder auf den Tisch kommen, liegt in der Natur der Sache. Aber es würde endlich der Beginn von Gesprächen nicht weiter verhindert werden.

Wie steht der Kanzler zu dem Vorschlag der Chinesen?
Nach dem, was zu lesen war, hat Scholz den chinesischen Vorschlag nicht unterstützt, sondern offensichtlich für den Zehn-Punkte-Plan Selenskyjs geworben und zudem versucht, die Führung in Peking dazu zu überreden, an der sogenannten Ukraine-Friedenskonferenz im Juni in der Schweiz teilzunehmen. Allerdings ist der Kiewer Friedensplan völlig unrealistisch. Und zwar nicht nur, weil der eigentliche Verhandlungspartner Russland nicht dabei ist, sondern weil der Plan Punkte enthält, die für Russland unannehmbar sind. Es ist also eher eine Wunschliste, die als Grundlage für Verhandlungen völlig ungeeignet ist.

Aus deutscher Sicht kann es jedoch nicht der Sinn sein, etwas zu unterstützen, was keine Aussichten hat, den Krieg zu beenden. Wir sollten unsere Gedanken vielmehr darauf ausrichten, etwas zu fordern, was zumindest die Chance hat, die beiden Kriegsparteien wieder zu Verhandlungen zu bewegen.

Was würde es für die Verschiebung der Gewichte in der Weltpolitik bedeuten, wenn eine asiatische Macht wie China zum Stifter eines Friedens in Europa würde?
Das wäre ein weiterer Schritt, der den Aufstieg Chinas und den zeitgleichen Rückgang des Einflusses der Europäer wie auch der US-Amerikaner offenbaren würde. Auf nahezu jedem Schauplatz der Welt ist dieser Autoritätsverlust festzustellen. Europa spielt auf der Weltbühne in sicherheitspolitischen Fragen keine Rolle.

Gleichwohl müssten die Europäer ein großes Interesse an einem Ende des Ukrainekriegs haben, weshalb sie eigentlich auch die Initiative zur Beilegung des Konfliktes ergreifen sollten. Insbesondere die Europäische Union könnte beweisen, dass die Behauptung, durch sie hätten die europäischen Staaten global ein größeres Gewicht, tatsächlich stimmt. Zudem würden die Europäer auch nicht mehr nur als Juniorpartner der Amerikaner erscheinen, sondern als eigenständiger Akteur. Jedoch ist kein Bemühen in Richtung einer eigenständigen europäischen Rolle erkennbar.

Der einzige Ansatz der Kommissionspräsidentin von der Leyen ist die Aufnahme der Ukraine in die Union. Was natürlich unmöglich ist, weil die EU – wie auch die NATO – keine Staaten aufnimmt, die sich gerade in einem Kriegszustand befinden.
Richtig. Wobei hinzukommt, dass ein künftiger Mitgliedsstaat eine Reihe von Voraussetzungen erfüllen muss. Das ist ein entscheidender Punkt, gerade bei der NATO. Weil das nordatlantische Bündnis ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit ist, verlangt der NATO-Vertrag, dass ein neues Mitglied nur dann aufgenommen wird, wenn es die Sicherheit der (bisherigen) Mitgliedsstaaten erhöht.

Da die NATO im Falle eines Beitritts der Ukraine auch das Konfliktpotential zwischen der Ukraine und Russland importieren würde, wird es diesen Schritt nicht geben – auch wenn US-Außenminister Blinken erst kürzlich wieder sagte, dass die Ukraine in jedem Fall NATO-Mitglied werde.

Und noch etwas: Ich finde es für die politische Führung der Europäischen Union höchst blamabel, dass sich eine Gruppe afrikanischer Präsidenten und Regierungschefs für ein Ende des Ukrainekrieges und für Friedensverhandlungen einsetzt, während Brüssel alles unternimmt, damit der Krieg so lange wie möglich fortgesetzt wird. 2012 hat die EU den Friedensnobelpreis für ihren Beitrag „zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa“ erhalten. Angesichts der zunehmend kritischen Lage der Ukraine und des nachlassenden Engagements der USA ist die Europäische Union gefordert, den Frieden auf unserem Kontinent im ureigensten Interesse der Europäer zu fördern und damit zu bestätigen, dass sie den Friedensnobelpreis zu Recht erhalten hat. Es ist eine Frage der Selbstbehauptung Europas, ob die Europäer bereit und in der Lage sind, eigene Verantwortung für Frieden auf unserem Kontinent zu übernehmen.

Parallel zum China-Besuch von Scholz erfolgte der bereits erwähnte Angriff des Iran auf Israel. Wenn man sich die Weltkarte vor Augen führt, sind die Amerikaner inzwischen in einer ganzen Reihe von Konflikten von der Ukraine bis hin nach Taiwan gebunden. Droht ihnen hier eine Überdehnung ihrer Kräfte?
Die amerikanischen Kräfte sind schon seit einiger Zeit überdehnt. Die USA müssen längst abwägen, welcher Schauplatz für ihre Interessen die höchste Relevanz hat. Das ist eindeutig China, die einzige Macht, die in der Lage wäre, in der neuen Weltordnung die Vereinigten Staaten als Nr. 1 abzulösen – und zwar politisch, wirtschaftlich und nicht zuletzt auch militärisch. Deshalb wollen die Amerikaner ihr Engagement für die Ukraine vermindern.

Ein Grund für Letzteres ist auch, dass im November die Präsidentschaftswahl ansteht. Amtsinhaber Joe Biden kann im Wahlkampf keinen Krieg gebrauchen, bei dem sich die Anzeichen mehren, dass er für die USA verloren geht. Und eine Niederlage der Ukraine wäre angesichts der Masse an US-Unterstützung, die seit zwei Jahren in die Ukraine fließt, zweifellos auch eine Niederlage für die Vereinigten Staaten.

Was würde ein Rückzug der Amerikaner für die europäische Säule der NATO bedeuten?
Der jüngste Vorschlag von Generalsekretär Stoltenberg zeigt zunächst, dass sich das Bündnis tatsächlich über einen Rückzug der USA aus ihren gegenüber der Ukraine eingegangenen Verpflichtungen Gedanken macht. Das Konzept sieht einen 100-Milliarden-Dollar-Topf vor, aus dem die Ukraine für fünf Jahre unterstützt werden soll. Zudem soll die NATO die Koordination der Unterstützung und Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte übernehmen, was bisher die Amerikaner im sogenannten Ramsteinformat gemacht haben. Und drittens schlägt Stoltenberg vor, dass ein NATO-Rahmen gebildet wird, um die bisherigen bilateralen Verträge einzelner Mitgliedsstaaten mit der Ukraine zusammenzufassen.

Wären die Europäer überhaupt willens und in der Lage, verstärkt Aufgaben von den USA zu übernehmen?
Das eben erwähnte Beispiel der Patriot-Systeme hat ja im Grunde bereits eine Antwort auf die Frage des Wollens gegeben.

Hinzu kommt: Die Amerikaner liefern ja nicht nur Waffen und Geld, sondern sie tragen durch ihre militärische Unterstützung maßgeblich dazu bei, dass die Ukraine diesen Krieg überhaupt führen kann. So ist in Wiesbaden ein Hauptquartier von den Amerikanern eingerichtet worden speziell für die Unterstützung der Ukraine. Daneben leistet auch das in Stuttgart ansässige europäische Hauptquartier, das US European Command, große Unterstützung, etwa mit der Auswertung von Satellitenbildern und Ähnlichem. Insbesondere den Bedarf an Aufklärungsergebnissen und Zielinformationen können die Europäer mit ihren Fähigkeiten nicht decken.

Würden sich die Amerikaner also vollständig zurückziehen, dann würde die Ukraine einen erheblichen Einbruch bei ihren militärischen Fähigkeiten erleben.

Sie waren zu Beginn der 80er Jahre als Referent für Sicherheitspolitik und Strategie im Bundeskanzleramt der wichtigste Militärberater des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Nun hat Deutschland wieder einen sozialdemokratischen Kanzler. Wenn Sie noch einmal die Position von einst hätten, welches Vorgehen würden Sie Olaf Scholz raten?
Als Helmut-Schmidt-Schüler bin ich ein Anhänger seiner Strategie des militärischen Gleichgewichts. Ein elementarer Grundgedanke dieser Strategie ist, dass man einen Zustand herstellt, bei dem keine Seite stärker als die andere ist – und somit ein Krieg gar nicht erst in Erwägung gezogen wird.

Schmidt hat jedoch betont, dass ein Gleichgewicht der Kräfte zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes Element ist, den Frieden zu bewahren. Hinzukommen muss die Bereitschaft, das Gleichgewicht der Kräfte politisch zu stabilisieren. Dazu gehört das Aufrechterhalten der Verbindung zur anderen Seite, um zu verstehen, wo deren Probleme und Interessen liegen. Dazu gehören auch stabilisierende Vereinbarungen, militärische vertrauensbildende Maßnahmen sowie Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge. Hier haben insbesondere die US-Amerikaner schwere Fehler begangen, indem sie den ABM-Vertrag über antiballistische Raketenabwehr, die notwendige Ergänzung zum SALT-Vertrag über die Begrenzung nuklearstrategischer Offensivwaffen und entscheidend für die Aufrechterhaltung das nuklearstrategischen Gleichgewichts, einseitig kündigten. Russland hat dies als Versuch verstanden, das interkontinentalstrategische Gleichgewicht zugunsten der USA zu verändern. Auch der für die europäische Sicherheit so wichtige INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme und der Vertrag über den offenen Himmel wurden von den USA einseitig gekündigt.

Insofern würde ich dem Bundeskanzler raten, die Fähigkeit der Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung – wie es die Verfassung fordert – wiederherzustellen und gemeinsam mit unseren NATO-Verbündeten Russland die Entschlossenheit zu signalisieren, keine Veränderung des dann entstandenen Gleichgewichts zuzulassen. Zugleich sollte er dafür sorgen, dass die Kriegshysterie über einen angeblich in wenigen Jahren bevorstehenden russischen Angriff auf NATO-Staaten eingestellt wird, denn falls sich Russland auf ein Eingreifen der NATO oder von NATO-Staaten in den Ukrainekrieg vorbereitet, könnten die beiderseitigen Fehleinschätzungen zu dem führen, was beide Seiten eigentlich vermeiden wollen. Zugleich sollte der Kanzler sich um ein Ende der Kampfhandlungen und eine politische, friedliche Lösung des Ukrainekrieges sowie um eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung bemühen, in der beide Staaten ihren Platz haben. Schließlich sollten wieder Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge vereinbart werden, die diese neue Sicherheitsarchitektur stabilisieren und das gegenseitige Vertrauen sowie die politische und militärische Berechenbarkeit stärken.

Ich bin ziemlich sicher, dass Helmut Schmidt so vorgehen würde.

Und wo würden Sie anfangen?
Anfangen würde ich weder bei den Russen noch bei den Ukrainern, sondern bei uns. Ich würde versuchen, dem Kanzler die Lage – so wie hier – schonungslos darzustellen.

Dann würde ich Scholz dringend raten, seine Ukrainestrategie – falls es eine solche gibt – zu überdenken. Seine Position besteht offenbar aus drei Elementen: „Wir unterstützen die Ukraine, solange es nötig ist. Die Ukraine darf nicht verlieren und Russland darf nicht gewinnen. Deutsche und NATO-Truppen dürfen nicht in die Kampfhandlungen eingreifen.“ Viel zu sehr hat sich unsere Ukrainepolitik bislang an Wunschvorstellungen ausgerichtet. Faktisch ist die Lage des Landes kontinuierlich kritischer geworden. Wir haben also genau das Gegenteil von dem erreicht, was wir erreichen wollten.

Eines muss ich dem Bundeskanzler allerdings hoch anrechnen. Er hält gegen eine von sicherheitspolitischer und strategischer Unkenntnis geprägten Polemik an seiner Entscheidung fest, Taurus-Marschflugkörper nicht an die Ukraine zu liefern und räumt damit deutschen Sicherheitsinteressen höchste Priorität ein.

In der Europäischen Union und in der NATO sollte der Kanzler die Initiative ergreifen und einen vernünftigen Interessenausgleich zwischen den Kriegsparteien anstreben, der letztlich auch unseren Interessen und denen aller Europäer dient. Die Zeit drängt. Eine katastrophale militärische Niederlage der Ukraine kann nur verhindert werden, wenn die Kampfhandlungen möglichst bald eingestellt werden und es zu Friedensverhandlungen zwischen den beiden kriegführenden Staaten kommt. Wer die Ukraine retten will, muss diesen Weg entschlossen und unbeirrbar gehen.

Denn wenn man die Lage unvoreingenommen betrachtet, wird man schnell feststellen, dass es nur einen Weg für das Überleben der Ukraine und für eine Zukunft des ukrainischen Volkes gibt – und der besteht darin, diesen Krieg schnellstmöglich durch eine politische Lösung zu beenden. Wer jedoch auf dem bisherigen Weg weitergehen will muss wissen, dass er sich eine unverantwortbar große Schuld auflädt. Und er sollte bereit sein, dem ukrainischen Volk zu sagen, welche weiteren Verluste an Menschenleben und welches Ausmaß an Zerstörungen des Landes er ihnen für das Erreichen politischer Ziele zumutet, die nicht erreichbar sind.

Das Gespräch führte René Nehring.


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Kommentare

Dominik Krumbiegel am 08.05.24, 19:33 Uhr

Deutsche Patrioten vertreten deutsche Interessen und plappern nicht russische Propaganda von "Friedensverhandlungen" nach, die es seit Beginn des Krieges gibt. Dass es einer Großmacht nicht gelingt Kiew einzunehmen zeugt nicht von der Stärke, sondern der Schwäche Russlands. Dieser Krieg ist auch ein Angriff auf Deutschland und er wird unser Vaterland im Baltikum oder in Polen auch direkt betreffen. Wir Jungen sind konservativ und keine Ostalgiker, die den Russen nachtrauern.

Roman Herzwein am 07.05.24, 06:26 Uhr

Hervorragendes Interview, auf Kompetenz und großer Erfahrung beruhende Aussagen des Generals. Wie Gen.Maj. Schulze-Rhonhof mit bester Analyse und plausiblen Vorschlägen für Frieden. Warum hört keiner hin in politischer und Medien-Riege? Ganz einfach - alle Verantwortlichen dort stecken bis zum Stiefelabsatz im Colon der amerikanischen Kriegsprofiteure, sie sind unmenschlich und charakterlos und gehen täglich über Leichen, damit sie noch ein ein bisschen länger für den militärisch-industriellen Komplex von Big Brother jenseits des Atlantiks wirken dürfen. Die Helmut Schmidt's sind längst ausgestorben - an wichtigsten Schaltstellen Deutschlands in Politik und Medien herrscht das Niveau noch nicht angelernter, charakterloser Handlanger.

E. Berger am 02.05.24, 16:07 Uhr

Glasklare Analye von Herrn Kujat, volle Zustimmung. Nur in einem Punkt bin ich anderer Meinung: Wenn es um die Aufnahme der Ukraine in EU und NATO geht, werden sämtliche Hemmungen fallen. Die einzige Hoffnung bez. NATO-Beitritt fusst auf dem Einstimmigkeitsprinzip, und da werden denkbare Widerständler wie z. B. Orban schweren Repressionen ausgesetzt werden.

Ulrich Bohl am 02.05.24, 08:41 Uhr

DANKE Herr Kujat für Ihre Ausführungen, denen ich
vorbehaltlos zustimme. Für Deutschland sehe ich es
als sehr, sehr wichtig an solchen Kriegsschreihälsen wie
Baerbock, Hofreiter, Kiesewetter, Strack-Zimmermann,
Roth um nur die Lautesten zu nennen den Mund zu
stopfen. Deren Kriegslüsternheit dient nicht der
Ukraine und auch nicht dem Frieden in dieser Region.

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