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Klaus und Wolfgang Czojor (v.l.): Die beiden Brüder flohen mit ihren Geschwistern, der Mutter und beiden Großmüttern über  Umwege zur Tante ins zerbombte Hamburg und leben seither am Rande der Hansestadt
Bild: EichlerKlaus und Wolfgang Czojor (v.l.): Die beiden Brüder flohen mit ihren Geschwistern, der Mutter und beiden Großmüttern über Umwege zur Tante ins zerbombte Hamburg und leben seither am Rande der Hansestadt

Flucht aus Schlesien

„Es sollte doch nur für zwei Wochen sein“

Die beiden Brüder Wolfgang (88) und Klaus Czojor (86) verließen im Januar 1945 mit einem Hauch Abenteuerlust die elterliche Wohnung in Breslau – Ohne es zu wissen, war es ein Abschied für immer

Jens Eichler
27.04.2025

Nichts deutete für sie auf eine nahende Front der Roten Armee hin. Von einem sich immer enger um die „Festung Breslau“, wie man die schlesische Hauptstadt zum Ende des Zweiten Weltkriegs erwartungsvoll nannte, ziehenden Belagerungsgürtel der Russen bekamen die Gebrüder Czojor nichts mit. „Mein Zwillingsbruder Hans, der vor wenigen Jahren verstorben ist, und ich besuchten täglich die Pestalozzischule, die in unmittelbarer Nähe unserer elterlichen Wohnung gelegen war. Es gab keine Versorgungsengpässe – und wenn, bekamen wir davon nichts mit. Das Leben verlief gefühlt ziemlich normal, wenn man in diesen Zeiten überhaupt von ,normal' sprechen darf!“, berichtet der 88-jährige Wolfgang Czojor gegenüber der PAZ, als wir uns mit ihm bei seinem jüngeren, 86-jährigen Bruder Klaus in Jork, südlich von Hamburg im Alten Land, treffen. „Nein, es war alles okay. Tagsüber spielte ich mit Nachbarkindern aus unserem Wohnhaus in der Michaelisstraße. Ich brauchte nämlich nicht in den Kindergarten!“, lacht Klaus Czojor etwas schelmisch.

Die beiden beschreiben ein eher beschauliches, behütetes Leben in einer, geräumigen, weit über 100 Quadratmeter großen Wohnung. Sie berichten vom Milchladen an der Ecke, wo man einkaufte, vom malerischen Waschteich, einem kleinen Park mit Gewässer auf der anderen Straßenseite des Hauses, von einer großen Parade, die sich durch ihre Straße direkt unter ihrem Fenster im dritten Stockwerk entlang zur für damalige Verhältnisse riesigen Jahrhunderthalle in Breslau zog, als der „Führer“ die Stadt besuchte. Das Leben schien in Breslau weitestgehend normal zu laufen. „Ich erinnere mich, dass ein einziges Mal eine einzige Bombe damals auf Breslau gefallen ist. Eine – keine mehr. Ich weiß auch nicht, wer die abgeworfen hat, woher sie kam, aber das war so ziemlich alles, was wir damals in Breslau bis Anfang 1945 vom Krieg real und hautnah mitbekommen haben. Unsere Geburtsstadt war bis dahin weder angegriffen noch irgendwo zerstört worden!“, ergänzt der 86-jährige Klaus.

Das Nötigste wurde eingepackt
So ging es bis zum 24. Januar 1945. „Ich erinnere mich noch genau, dass der zuständige Gauleiter Hanke an diesem Tag die Bevölkerung aufforderte, unverzüglich Breslau zu verlassen – egal wie. Es wurden meines Erachtens ebenso Flugblätter verteilt, wie dass es Meldungen über das Radio gab. Und wenn ich rückblickend so bedenke, hat unsere Mutter das großartig gemanagt. Sie verbreitete keine Hektik, keine Panik, sondern forderte uns auf, ein paar Sachen zusammenzupacken. Uns, das hieß meinen Zwillingsbruder Hans, meinen Bruder Klaus, meine kleine Schwester Karin, die jüngste von uns, und mich. Es hatte aber insgesamt mehr den Anschein, als ob wir verreisen wollten. Ein paar Strümpfe, Unterwäsche, ein Hemd und etwas Waschzeug. Das war es schon, was wir zusammenkramten. Das Nötigste und das, was wir am Leib trugen, kam mit. Unser Ziel war Meerane in Sachsen, unweit nordöstlich von Zwickau, wo unsere Mutter Verwandtschaft hatte. Da sollte es hingehen. Ganz ehrlich, dass hatte mehr den Charakter von etwas Abenteuer und Ferien. Flucht? Nein, so dramatisch fühlte es sich für uns Kinder damals nicht an!“, betont Wolfgang Czojor.

Auf Gegenbesuch in Hamburg
„Auch bei den Aufforderungen, die Stadt zu verlassen, wurde keine Hektik, Dringlichkeit oder eine Notsituation betont. Ganz im Gegenteil, vielmehr hieß es, man solle sich einfach für zwei Wochen woanders aufhalten und dann könne man zurückkommen. Alles sei dann erledigt und es hörte sich so an, als ob dann das Leben in Breslau ganz normal wie immer weitergehen würde. Insofern waren wir weder in Furcht noch verängstigt. Es war höchstens für uns Kinder aufregend, weil wir verreisten. Das war ja damals nicht so normal und alltäglich, wie es heute ist!“, erinnert sich Klaus Czojor.

Ob es ihre Mutter damals auch so entspannt gesehen hat, darf bezweifelt werden. Mit vier Kindern, Karin, die jüngste davon, gerade mal zwei Jahre alt, welche die Mutter permanent auf dem Arm tragen musste, und dazu die beiden Großmütter in gesetztem Alter mit im Schlepptau. Drei Erwachsene, die sicher wussten, wie ernst die Lage war, und diese mit mulmigem Gefühl zu meistern hatten, und dazu vier unbedarfte Kinder, was in dieser Situation vielleicht sogar hilfreich war.

„Meerane, das wir mit einem sehr stark überfüllten Zug erreichten, war für uns nur eine Zwischenstation. Wenngleich eine schöne. Denn es war Winter und wir konnten dort auf den Hügeln, den Ausläufern des Thüringer Waldes, wunderbar Schlitten fahren. Aber wir blieben nur ein paar Wochen dort, denn es sollte weiter gen Nordwesten gehen – nach Hamburg. Dort wohnte die Schwester unseres Vaters. Ihr Mann war in der Hansestadt der Leiter von Olex, dem Vorgänger von BP. Die gleiche Stellung hatte unser Vater in Breslau inne. Es war quasi ein Gegenbesuch. Denn 1943, als Hamburg so furchtbar im traurig-bekannten Feuersturm, zerstört wurde, hatte unsere Tante uns in Breslau besucht und war wiederum bei uns untergekommen!“, macht Klaus Czojor deutlich.

Fliegeralarm im „sicheren“ Zielort
Und er fährt fort: „Sie wohnten in Hamburg-Wilhelmsburg in einem Haus auf einer Olex-Anlage. Das Kuriose dabei – wir waren gerade in Hamburg am Hauptbahnhof angekommen und gerieten umgehend in einen Fliegerangriff. Die Sirenen heulten, Fliegeralarm. Mit Sack und Pack mussten wir also sofort in den Luftschutzbunker. Das war wieder eine neue Erfahrung, denn zuvor in Breslau hatten wir so etwas noch nicht erlebt, da wir und unsere Stadt ja bis dahin von solchen Angriffen verschont geblieben waren!“

Überraschende Familienzusammenführung
Apropos verschont – Vater Czojor hatte das Glück im Unglück als Leiter der Olex-Anlage in Breslau. Olex, das war ein erst österreichisches, dann deutsches Mineralölunternehmen und die Vorläuferfirma der deutschen BP. Insofern ein für den Krieg enorm wichtiger Konzern, da er die Öl- und Benzinversorgung garantierte. Und als Anlagenleiter war er somit dienstverpflichtet und wurde nicht an die Front eingezogen. Das geschah erst im allerletzten Aufgebot, als so ziemlich alles und jeder zum Frontdienst eingezogen wurde – auch Vater Czojor. Dass seine Familie unterdessen aus Breslau geflüchtet und in Hamburg gelandet war, wusste er daher nicht. Eine Erkrankung setzt ihn buchstäblich „außer Gefecht“, nachdem er auf tschechischem Gebiet in amerikanische Gefangenschaft geraten war, dort ins Lazarett eingeliefert wurde und nach seiner rund vier Wochen dauernden Genesung im Juni 1945 entlassen wurde. Der Krieg war mittlerweile seit Mai vorbei. Also entschied er sich nach Hamburg zu seiner Schwester zu reisen, um dort unterzukommen, denn das von den Russen besetzte Breslau war keine Option.

„Mein Vater staunte nicht schlecht, als er endlich am Ziel ankam. Denn wen traf er dort – außer seiner Schwester und seinem Schwager, der ja zugleich Olex-Kollege war? Richtig, seine ganze Familie – Frau, Kinder und die Großmütter. Was für eine große gegenseitige Freude in so traurigen Zeiten!“, berichtet Klaus Czojor aus seinen 80 Jahre alten, aber immer noch sehr lebendigen Erinnerungen.

Etwas Glück im Unglück
Beiden Brüdern wohnt seither ein großes Stück Dankbarkeit in Bezug auf diese Zeit inne. Denn während Millionen Menschen auf der Flucht vor den Russen aus dem Osten Deutschlands schreckliche, traumatische Erlebnisse durchmachten, Tausende ihr Leben, teilweise auf grausame, unmenschliche Weise, ließen, ihr Hab und Gut sowie ihre Heimat verloren, hatten die Czojor-Kinder meistens ein Stück weit einen Glücksstern über sich oder den Segen Gottes, denn von schlimmsten Erfahrungen blieben sie bei aller Not zu guter Letzt doch verschont. Wie gut, und daher muss so eine Geschichte ebenso erzählt werden. Denn diese Umstände gab es eben auch – ein Hauch Fortuna inmitten der Hölle.

„Außerdem war es uns damals gar nicht wirklich bewusst, dass wir die Heimat verloren hatten. Es sollte doch nur für zwei Wochen sein. Aber aus zwei Wochen ist letztendlich ein ganzes Leben geworden“, resümieren die Brüder nachdenklich. Auf die Frage, ob Breslau dennoch Heimat ist, sind sich beide in ihrer Beurteilung einig: „Breslau ist unsere Geburtsstadt, es ist der Ort unserer frühesten Kindheit, in der wir wunderbare Zeiten erlebt haben. Aber Heimat ist dort, wo das Herz ist – oder wo es angekommen ist, und das ist nach so vielen Jahren doch schon eher Hamburg. Aber die Liebe zu Breslau ist trotzdem ungebrochen, auch, als wir 1979, 1983, 2004 und 2011 die Stadt immer wieder besucht haben – und auch unser elterliches Wohnhaus, was uns schon sehr emotional berührt hat.

In neuer Pracht erstrahlt
Breslau bot nach dem Krieg ein trauriges Bild der Verwüstung und Zerstörung. Die südlichen und westlichen Stadtteile waren zu 90 Prozent zerstört, die Altstadt und das Stadtzentrum zur Hälfte. Von den 30.000 Gebäuden, die vor dem Krieg existierten, lagen 21.600 in Ruinen, darunter 400 historische. Umso schöner, dass diese Perle Schlesiens heute wieder in neuem Glanz und altem Charme erstrahlt. Die Breslauer – Polen und die deutsche Volksgruppe – haben hier großartige Arbeit in Sachen Restaurierung geleistet. Auch, weil ein neues Bewusstsein über die wahren Wurzeln im Osten Deutschlands entsteht. Und das ist gut so.


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