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Historie

Es war eine Hinrichtung

Vor 60 Jahren verblutete Peter Fechter an der Berliner Mauer, nachdem er trotz Aufgabe seines Fluchtversuchs weiterhin beschossen worden war. West-Berlins Polizei durfte es nicht verhindern – das US-Militär wollte es nicht verhindern

Vera Lengsfeld
15.08.2022

Der zum Zeitpunkt seines Todes erst 18 Jahre alte Peter Fechter ist nicht der erste Mauertote, aber der bekannteste. Sein qualvolles Sterben vollzog sich 50 lange Minuten vor den Augen der Weltöffentlichkeit, aber niemand wollte dafür verantwortlich sein. Dass der schwer verletzte Jugendliche nicht sofort von den DDR-Soldaten geborgen wurde, aber auch die US-amerikanischen Soldaten am nahen Checkpoint Charly keine Hilfe leisteten, wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die Grausamkeit des Grenzregimes der DDR, sondern auch auf die Gleichgültigkeit des Westens gegenüber dem Leiden der eingemauerten Menschen.

Bis zu seinem dramatischen Ende wies in Peter Fechters Leben nichts darauf hin, dass er zu einer Symbolfigur werden könnte. Die Familie beschreibt ihn als stillen, unauffälligen Jugendlichen. Fechter wurde im Kriegsjahr 1944 in Berlin geboren und wuchs als drittes von vier Kindern im Stadtbezirk Weißensee auf. Sein Vater war Maschinenbauer, die Mutter Verkäuferin. Wie in den 50er Jahren nicht unüblich, verließ der einzige Sohn die Schule im Alter von 14 Jahren und begann eine Lehre als Maurer. Seine Beurteilung fällt tadellos aus: „Kollege F. ist ein williger und fleißiger Facharbeiter. Bummel- und Fehlstunden fallen bei ihm nicht an.“ Zum Schluss arbeitete Fechter am Wiederaufbau des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Palais an der Straße Unter den Linden mit.

Gleichgültigkeit des Westens

Dort traf er auf seinen Kollegen Helmut Kulbeik, mit dem er Fluchtgedanken schmiedete. Zwar erkundeten die beiden das Grenzgelände auf der Suche nach einer günstigen Gelegenheit, hatten aber keinen konkreten Plan, trafen auch keine besonderen Vorbereitungen. Auch die späteren Nachforschungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ergaben „keinerlei Anzeichen eines vorbereiteten Grenzdurchbruchs“. Die Entscheidung fiel spontan, als die beiden auf einem ihrer Streifzüge an der Schützenstraße ein Ruinengebäude entdeckten, in dem eine Tischlerei untergebracht war, deren rückwärtige Fenster zur Zimmerstraße und somit fast an der Mauer lagen. Zwei Tage später, am 17. August, beschlossen Fechter und Kulbeik während der Mittagspause spontan, nicht mehr zur Baustelle zurückzukehren, sondern sich in diesem Gebäude umzusehen. Die beiden Jugendlichen gelangten unbemerkt in die Werkstatt. In einem Lagerraum fanden sie ein Fenster, das noch nicht zugemauert war.

„Keinerlei Anzeichen eines vorbereiteten Grenzdurchbruchs“

Aber, so gibt Kulbeik bei einer Befragung in West-Berlin später zu Protokoll, erst als sie nach einer Weile Stimmen hörten, sprangen sie aus Angst, entdeckt zu werden, aus diesem Fenster. Ihre Schuhe hatten sie ausgezogen, und liefen auf Strümpfen auf die nahe Mauer zu. Als die ersten Schüsse fielen, so Kulbeik, sei Fechter wie angewurzelt stehen geblieben. „Ich war inzwischen ebenfalls an der Mauer angelangt, sprang hoch und zwängte mich durch den auf der Mauer angebrachten Stacheldraht. Warum Peter nicht geklettert ist, er hätte vor mir auf der Mauer sein müssen, weiß ich nicht. Er sprach kein Wort, und ich hatte den Eindruck, als die Schüsse fielen, dass Peter Fechter einen Schock bekommen hat. Ich rief ihm noch laut zu: ,Nun los, nun los, nun mach doch!' Er rührte sich aber nicht.“

Nach dieser Schilderung sieht es so aus, als seien die ersten Schüsse tatsächlich ohne Tötungsabsicht abgegeben worden, denn Kulbeik gelang es, sich unversehrt über die Mauer in Sicherheit zu bringen. Fechter scheint dagegen beim Anspringen der Mauer getroffen worden zu sein, oder ist aus einem anderen Grund zurückgerutscht. Er hat sich dann hinter die Mauerverstärkung gestellt. Das heißt, er hatte seinen Fluchtversuch zu diesem Zeitpunkt aufgegeben. Doch statt Fechter festzunehmen, bezogen die Grenzposten eine andere Position und schossen so lange, bis er zusammenbrach. Das war eine Hinrichtung.

„Not our problem“

Fechter war noch nicht tot, sondern rief laut um Hilfe. Auf beiden Seiten der Mauer versammelte sich schnell eine Menschenmenge. Während sie im Osten schnell aufgelöst wurde, wurden es auf der Seite West-Berlins immer mehr. Bald erschienen neben der Polizei auch Fotografen und Kameraleute, die den sterbenden Fechter aufnahmen. Polizisten, die auf eine Leiter geklettert waren, warfen Fechter Verbandszeug zu, konnten ihn aber nicht bergen, denn er lag auf dem Gebiet des Ost-Sektors. Die US-amerikanischen Soldaten am nahen Checkpoint Charly hätten es gekonnt, denn als Alliierte waren sie befugt, Ost-Berlin zu betreten. Sie beschlossen aber, dass es „Not our problem“ sei. Laut Wikipedia, der in diesem Fall vielleicht zu trauen ist, liegt von einem US-Leutnant eine Aussage vor, dass auf telefonische Nachfrage von Generalmajor Albert Watson, Kommandant des Amerikanischen Sektors, folgende Antwort gekommen sei: „Lieutenant, you have your orders. Stand fast. Do nothing“ (Leutnant, Sie haben Ihre Anweisungen. Bleiben Sie standhaft. Tun Sie nichts.) Wenn die Amerikaner in Reaktion auf Fechters Tod die Mauer als „Wall of Shame“ bezeichnet haben, so inkludiert das auch ihr Versagen im Fall Fechter.

Es waren die West-Berliner, die lauthals dagegen protestierten, was sich mitten in ihrer Stadt abspielte. Aufgebrachte Bürger konnten teilweise nur durch polizeiliche Gewalt davon abgehalten werden, zur Mauer vorzudringen. Ein Bus, in dem sowjetische Soldaten saßen, wurde mit Steinen beworfen. Vor allem aber wurden amerikanische Besatzungssoldaten wegen ihres Nichteingreifens verbal und auch tätlich angegriffen.

Nur Bewährungsstrafen

Das war schon ein Jahr zuvor der Fall gewesen, als die Bürger wütend protestiert hatten gegen die Mauer, die mitten durch ihre Stadt gebaut wurde, währen die Politik sich zurückhielt. Es waren an diesem 17. August wieder die Bürger, die „Mörder, Mörder“ riefen und die Verantwortlichen zum Handeln aufforderten.

Für die DDR war Fechters Sterben vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein PR-Desaster. Intern wurden Fehler eingeräumt, aber offiziell wurde dem Gegner der Schwarze Peter zugeschoben. Auf der einen Seite gab es Forderungen, dass „in solchen Fällen Möglichkeiten geschaffen werden müssten, „Verletzte schnell aus dem mittelbaren Grenzgebiet zu entfernen, auch unter dem Gesichtspunkt, dem Gegner damit keine Argumente für seine Hetze zu liefern“. Auf der anderen Seite wurde die Legende fabriziert, West-Berliner Polizisten, Fotografen und Kameraleute hätten durch ihr Verhalten die Bergung des schwer verletzten Flüchtlings verzögert.

Die Angehörigen von Peter Fechter hatten jahrzehntelang unter den Repressalien der DDR-Behörden zu leiden. Im Juli 1990 stellten die Schwestern von Peter Fechter Strafanzeige und brachten damit die Ermittlungen in Gang, die schließlich zur Verurteilung von zwei Schützen führten. Sie wurden wegen Totschlags schuldig gesprochen, aber die Freiheitsstrafen von 20 und 21 Monaten zur Bewährung ausgesetzt.

Kein Ehrengrab für Peter Fechter

Für die Familie war der Prozess dennoch wichtig. In der Hauptverhandlung äußerte sich die jüngste Schwester Ruth Fechter, die dem Prozess als Nebenklägerin beiwohnte. Ihr sei es darum gegangen, endlich aus „der Verdammung zu Untätigkeit und Abwarten“ und „aus der bis dahin bestehenden Objekt­rolle“ herauszukommen. Eindrücklich schilderte sie, wie der Tod ihres Bruders, die Ohnmacht angesichts seiner öffentlichen Diffamierung und die erzwungene Verpflichtung, darüber zu schweigen, das Leben der Familie beeinträchtigt haben. „Diese Erfahrung von Ausgrenzung und das Leben mit Feindbildern als einer Alltagserscheinung, die nicht dem eigenen Wollen entsprang, sondern von außen aufgezwungen werden sollte, wurde zu einem Grunderlebnis der Familie Fechter.“

Keine Peter-Fechter-Straße

Wie wurde mit dem Mord an Peter Fechter geschichtspolitisch umgegangen? Während es in mehreren westdeutschen Städten Peter-Fechter-Straßen und ein Peter-Fechter-Ufer gibt, hat Berlin es abgelehnt, die Zimmerstraße in Peter-Fechter-Straße umzubenennen. Jahrelang erinnerte nur ein schlichtes Holzkreuz an seinen Tod. Inzwischen gibt es eine Stele von Karl Biedermann. Stifter der Stele ist der Axel-Springer-Verlag. Eine Pflastermarkierung aus Basaltstein bezeichnet den Ort, an dem Peter Fechter starb. An jedem 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus, werden hier Blumen und Kränze zu Ehren der Toten an der Berliner Mauer abgelegt.

Ein Ehrengrab wurde Peter Fechter sowohl vom rot-roten Berliner Senat im Dezember 2005 als auch von der rot-schwarzen Nachfolgeregierung 2012 verweigert. Die Bedingungen dafür seien nicht erfüllt. Sein Grab sei als Grabstätte eines Opfers von Krieg und Gewaltherrschaft anerkannt. In Berlin erinnert wenig an die Widerständler gegen die zweite deutsche Diktatur. Gedenkorte an die Mauertoten werden immer wieder zerstört, so auch ein zweites Mahnmal für Fechter, das am 11. Juni 2011 in der Bernauer Straße errichtet wurde. Eine Plastik zeigte den toten Fechter in den Armen eines Grenzsoldaten. Es wurde am 24. Juni 2011 zerstört. Anlässlich des 60. Jahrestages der Ermordung von Peter Fechter und des 25. Jahrestages der Verkündung der Urteile im Politbüroprozess am 19. August hat die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG), der Dachverband aller SED-Opferverbände, eine neue Initiative gestartet, einen Teil der Zimmerstraße umzubenennen.


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Kommentare

sitra achra am 16.08.22, 16:40 Uhr

Die einzig angemessene Weise, Peter Fechter zu ehren, bestünde darin, alle roten Elemente in Berlin auf die gleiche Weise zu "behandeln". No mercy!

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