10.12.2024

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Damals so beliebt wie heute: Zu Weihnachten bieten Konditoreien, Supermärkte und Feinkostläden Marzipankartoffeln an. Mit etwas Geschick lassen sie sich auch zu Hause leicht herstellen
Foto: imago/ImagebrokerDamals so beliebt wie heute: Zu Weihnachten bieten Konditoreien, Supermärkte und Feinkostläden Marzipankartoffeln an. Mit etwas Geschick lassen sie sich auch zu Hause leicht herstellen

Marzipan

„Etwas unfassbar Schönes und Herrliches“

Kugeln, Herzen und zahlreiche kunstvolle Formen – Wie eine Konditorskunst Einzug in Privathaushalte und in die Literatur fand

Bärbel Beutner
18.12.2022

Erika – wo hast du denn die Förmchen her?“ Bei der Weihnachtsfeier unserer Ostpreußengruppe stellte irgendeiner immer diese Frage. Die Erika konnte nämlich Königsberger Marzipan backen und bereicherte die Weihnachtsfeier mit dieser Köstlichkeit. Förmchen hatte sie dafür allerdings nicht. Sie konnte kleine Brote, Herzen, mit Marmelade gefüllte Minischüsselchen und Brezel mit den Händen modellieren. Auf jedem Platz lagen zwei Stücke „Königsberger Teekonfekt“.

Wie das hergestellt wird, kann man im Ostpreußenblatt vom 10. Dezember 1988 nachlesen – und nicht nur dort. Man braucht – je nach gewünschter Menge – 500 g süße Mandeln, 20 g bittere Mandeln, 500 g Puderzucker, 5 Esslöffel Rosenwasser, 1 Eiweiß. Die Mandeln müssen enthäutet werden, in kaltem Wasser liegen, gespült und dann gut getrocknet werden. Dann werden sie durch eine Mandelreibe gedreht und mit dem Puderzucker vermengt. Das Rosenwasser wird tropfenweise beigefügt. Der gut durchknetete Teig (50 Minuten) muss über Nacht stehen bleiben.

Am nächsten Tag werden Kügelchen, kleine Brote oder Kringel daraus geformt und auf einem mit Pergament belegten Backblech in den Backofen geschoben. Bei großer Hitze wird das Marzipan geflämmt, bis die Stücke leicht gebräunt sind. Danach werden sie mit geschlagenem Eiweiß bestrichen. Ein einfaches, aber arbeitsintensives Verfahren.

Königsberger Teekonfekt

Königsberger Marzipan ging um die Welt. Berühmt waren die Firmen Schwermer, Gelhaar und Liedtke, die nach 1945 in Westdeutschland ihre Betriebe weiterführten. Die eigene Herstellung von Marzipan gehörte in vielen Familien in Ostpreußen dazu; unsere in Königsberg geborene Erika pflegte diese Tradition mit Herzblut weiter.

Agnes Miegel (1879–1964) schildert in ihrem „Weihnachtsbuch“ (Düsseldorf/Köln 1959) das Marzipanbacken als Tagesprogramm, bei dem sie als Kind helfen durfte. „... endlich mit einer langen Schürze meiner Mutter zwischen ihr und den Tanten und Mädchen herumzuständern und heiß und beseligt bei dem großen Familienfest des Marzipanbackens mitzuhelfen!“ Die kleinen Figürchen wurden nicht in einem Backofen gebräunt, sondern in einer „blinkenden Marzipanpfanne“, über die ein eiserner Deckel mit glühenden Holzkohlen gestülpt wurde. Diese Glut wurde mit einem kleinen Blasebalg unablässig angefacht, und das durfte die kleine Agnes tun.

Sie schaute genau zu, wie bei den Konfektstücken „blanke Zänglein“ Muster in den Rand kniffen, „der wie ein Damm später den rosenduftenden Zuckerguß und die Geleefrüchte beim Erstarren schirmte“. Zum „Ablagen“ kam das Marzipan in den eiskalten „Saal“, nachdem allerdings rundum reichlich probiert worden war. Der „Marzipantag“ wurde mit einem „ausgiebigen Mahl“ für die Gäste beschlossen, „zu dem stets Gänseklein in Aspik gehörte“.

So war das also in den guten Zeiten. Aber es gab Notzeiten, „wo selbst Königsberger Hausfrauen gezwungen waren, Kartoffelmarzipan mit Mandelessenz zu backen“, wird der kleinen Agnes Miegel erzählt. Solche Notzeiten sollte das 20. Jahrhundert noch mehrfach bereithalten. Aber das beliebte Marzipan machte die Menschen erfinderisch.

Weihnachten nach der Flucht

Der Roman „Kudenow oder an fremden Wassern weinen“ von Arno Surminski spielt in Holstein, wo die Flüchtlinge aus dem Osten Weihnachten 1946 begehen. Die Familie wohnt bei dem Bauern im Hühnerstall, nicht in der Scheune in dem Massenquartier. „Ein Geheimnis blieb, wo die Mutter das Marzipan aufgetrieben hatte. Kein Lübecker Marzipan, kein Königsberger Marzipan, nur Marzipanersatz, aus Grieß, Puderzucker und Mandelöl. Die Mutter hatte den Brei zu Herzen geformt und über der heißen Ofenplatte flambiert.“ Alles ist Ersatz: Kaffee-Ersatz, Ersatz-Glühwein, Ersatz-Zuhause.

Genauso ist es auf der Burg Eyckel in Franken, wo die große Sippe Quindt/Quint das erste Weihnachtsfest im Frieden 1945 feiert. Aus Schlesien, aus Pommern und Ostpreußen und aus dem Baltikum sind die Mitglieder der weitverzweigten Adelsfamilie gelandet, allesamt Flüchtlinge und bettelarm. Christine Brückner hat in dem zweiten Band ihrer Poenichen-Trilogie, „Nirgendwo ist Poenichen“, dieses „Ersatz-Weihnachten“ geschildert, das für die Vertriebenen dann doch zu einem bereichernden Erlebnis wird. Während man das Gebäck verzehrt, in dem Milch statt Eier, Wasser statt Milch und Zuckerrübenkraut statt Bienenhonig verarbeitet ist, kommen die Erinnerungen an „Weihnachten zu Hause“.

Die Generalin aus Königsberg erzählt, wie ihr Mann jedes Jahr den Schwarzen Adlerorden aus Marzipan anfertigen ließ (von der Köchin) und damit seine Frau, seine Kinder und das Personal auszeichnete. „Wir verbrauchten für das Marzipan mehr als zehn Pfund Mandeln“, erklärt sie den Anwesenden, die in der Schlossküche um den großen Herd sitzen.

Ein Schloss aus Marzipan

Die Erinnerungen und die Phantasie ermöglichen immer den Zugang zum Märchen. Im Juni 2022 erinnerte man mit vielen Publikationen an den 200. Todestag des Königsberger Romantikers E.T.A. Hoffmann (1776–1822). In seiner Weihnachtserzählung „Nussknacker und Mausekönig“ entstehen Welten, die vom Marzipan geprägt sind. Das beginnt gleich am Heiligen Abend vor der Bescherung im Hause des Medizinalrats Stahlbaum. Die Kinder Fritz und Marie warten, und die siebenjährige Marie erzählt ihrem Bruder, dass der Pate Drosselmeier, ein Obergerichtsrat, ihr von einem schönen Garten mit einem See und herrlichen Schwänen erzählt habe. Ein Mädchen habe die Schwäne mit süßem Marzipan gefüttert.

Der realistische Fritz erklärt: „Schwäne fressen kein Marzipan“, aber Marie glaubt ihrem Paten. Einige Nächte später wird sie in ein Land geführt, wo es einen Orangenbach, einen Mandelmilchsee und das Dorf Pfefferkuchheim am Honigstrom gibt. In der Hauptstadt dieses Schlaraffenlandes steht das Marzipanschloss, ein Zauberpalast. Hat die kleine Marie geträumt? Sie wird schließlich Königin eines Landes mit funkelnden Weihnachtswäldern und durchsichtigen Marzipanschlössern. Das Märchen siegt.

Sudermanns erfüllte Sehnsucht

Für Hermann Sudermann (1857–1928) aus Heydekrug verband sich Marzipan mit dem Theater, wie er im „Bilderbuch meiner Jugend“ schreibt. Seine Eltern gingen im Winter mehrmals ins Theater, von dem sich das Kind keine genaue Vorstellung machen konnte. „Nur daß es etwas unfaßbar Schönes und Herrliches sein musste, begriff ich bald ... erfüllte Sehnsucht, sichtbar gewordene Gottheit, berghohe Marzipantorten und ewige Weihnacht – das war Theater.“ Wie Theater sein muss, das erfuhr er bei seinem ersten Kirchenbesuch durch den „Auftritt“ des Pfarrers vor dem Altar und besonders auf der Kanzel. Doch ein Stück Marzipantorte, das seine Mutter ihm von ihrem Theaterabend mitbrachte – „das war der erste Gruß, den meine Zukunft mir sandte“. Er wurde zu einem der meist gespielten und populärsten Dramatiker seiner Zeit.

In dem ostpreußischen Standardwerk „Doenings Kochbuch“ (36. Auflage 1964) wird ständig „Marzipanmasse“ erwähnt, immer mit den entsprechenden Zutaten. Sie gehört zum Konfekt (Pralinen, Kandierte Walnüsse, Schokoladenwurst) und gezielt zum „Marzipanstriezel“. Charakteristisch aber wurde die braune Kruste.

Lübecker Pendant bei Thomas Mann

Agnes Miegel vergleicht damit das ebenso weltberühmte Lübecker Marzipan, das Thomas Mann in seinem ersten Roman „Buddenbrooks“ erwähnt. Es gehörte auch zu Weihnachten dazu, „massive Marzipanbrote, die innen naß waren vor Frische“. Lübecker Marzipan wird nicht geflämmt. Auch der Schokoladenüberzug unterscheidet es von der Königsberger Verwandtschaft. „... eines der runden Lübecker Marzipanreliefs, unschuldsbleich mit einem rosa Rändchen geschmückt, ohne die lecker glänzende braune Kruste unseres Marzipans“, schreibt Agnes Miegel, um das Marzipan dann als ein Identitätsmerkmal Königsbergs zu stilisieren. „Nein, Marzipan, das waren wir, die Bürger der Stadt der reinen Vernunft und unserer altberühmten Konditoreien!“

Sie hat nicht mehr miterlebt, wie die heutigen russischen Bürger ihrer geliebten, unsterblichen Vaterstadt das alte Marzipan wieder herstellten und im Brandenburger Tor ein Museum einrichteten. Es wäre mit Sicherheit eine Freude für sie.


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